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Anmerkungen zur Transkription
Das Original ist in Fraktur gesetzt; Schreibweise und Interpunktion des Originaltextes wurden übernommen; lediglich offensichtliche Druckfehler sind korrigiert worden.
Worte in Antiquaschrift sind "kursiv" dargestellt
.Sommerleutnants
Die Geschichte einer achtwöchigen Übung
von
Walter Bloem
Grethlein & Co. G. m. b. H. Leipzig.
Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung,
von der Verlagshandlung vorbehalten.
Copyright 1910 by Grethlein & Co. Leipzig
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Unter der weiten Halle des Zentralbahnhofs der rheinischen Garten- und Künstlerstadt schritt in früher Spätsommermorgenstunde ein junges Paar den Bahnsteig auf und ab. Reisefreude leuchtete in den Augen des Mannes — doch er dämpfte sie um der Abschiedswehmut willen, die durch des Mädchens Worte zitterte und immer wieder von Zeit zu Zeit in raschen Perlen aus den hellen Augen auf das Spitzengewoge des lichten Sommergewandes niedertropfte.
Zwei schlanke Gestalten, so recht für einander gewachsen! Sie im Glanz ihres Sommerschmucks, in der zierlichen Grazie ihrer zwanzig Jahre das gehütete, gepflegte Kind einer von den Schranken der Satzung umhegten Welt. Er — nun ja, er ...
Die Uniform stammte aus dem ersten Schneideratelier, die Lackschuhe blitzten. Die Mütze, keck auf das rechte Ohr gesetzt, war neuesten Modells, die Haltung soldatisch straff.
Und dennoch: selbst ein nicht gerade militärisch geschultes Auge erkannte von weitem schon, daß der Träger dieser blinkenden Herrlichkeiten doch — kein so ganz richtiger Leutnant war. Es war nicht das helle Kolorit der Gesichtsfarbe allein — denn zu Anfang August weisen die berufsmäßigen[S. 10] Träger der Leutnantsuniform allesamt schon ein tiefes Braun auf — es war nicht allein eine gewisse Gezwungenheit der Haltung, die verriet, daß diese elegante Gestalt des Uniformtragens seit längerm entwöhnt sein mußte. Es waren nicht allein die lebhaften Bewegungen der vielfach mitredenden, energisch gestikulierenden Hände, es war auch in dem feurigen Gesicht mit dem militärisch verschnittenen Schnurrbart und dem vorschriftsmäßig durchgescheitelten Blondhaar ein Ausdruck von Selbständigkeit und kühnem Lebensdrang — all das miteinander verriet dem feiner beobachtenden Auge, daß dieser Leutnant eben ein Leutnant der Reserve war.
Das blieb auch den Soldaten nicht verborgen, die in dieser Morgenfrühe auf dem Bahnhof der Garnisonstadt zu schaffen hatten. Da waren Burschen, Ordonnanzen, Vizefeldwebel, die zu den Schießständen hinauswollten. Alle diese Uniformträger erwiesen dem Offizier pflichtschuldigst die Ehrenbezeugung, und zwar stramm; denn der in der Leutnantsuniform sah nicht aus, als ob er mit sich spaßen ließe. Aber wenn sie an dem Vorgesetzten vorüber waren und in ihren Schlendertrott zurückfielen, dann spielte doch um eines jeden Lippen ein gewisses Schmunzeln, das die Erkenntnis andeutete, man nähme diesen Offizier eigentlich nicht so ganz ernst.
Und auch das junge Weib an der Seite des Mannes schien die Uniformherrlichkeit ihres Erkorenen nicht allzu tragisch zu nehmen; denn jedesmal, wenn ein Unteroffizier oder Soldat in die maskenhaft erstarrte Haltung der Ehrenbezeugung vor ihrem Gefährten zusammenfuhr, konnte sie nur mit Mühe ein Lächeln verbergen, das plötzlich ihr tränenzuckendes[S. 11] Gesichtchen überzog; und diesem Gefühl gab sie Ausdruck: »Weißt du, Martin, ich will ja nicht behaupten, daß dir die Uniform nicht stände, aber — sei mir nicht böse — in Zivil gefällst du mir zehnmal besser!«
»Das glaub' ich«, lachte ihr Verlobter. »Ich hab' den Rock Seiner Majestät fünf Jahre lang nur mal gelegentlich zu Offizier- und Kontrollversammlungen getragen! — aber laß mich nur erst mal ein paar Wochen wieder drin stecken! Gib acht, wenn ich nächstens auf Urlaub zu dir komme, dann sollst du dich deines Reservemannes nicht zu schämen brauchen.«
»Ach ja,« sagte das Mädchen, »komm recht bald, sonst halt' ich's nicht aus ... du gehst ja fort, Liebster, du gehst fort ... ach, ich darf gar nicht dran denken, sonst —«
»Aber Mädel,« sagte Martin, »aber Mädel —«
Wieder blitzten Tränen aus den leuchtenden Augen der Braut.
»Weißt du denn nicht,« fuhr er fort, »was morgen in acht Wochen ist?!«
Da schlug Agathe die Augen nieder unter dem hoffenden, verlangenden Blick, der sie getroffen, und konnte nicht wehren, daß ein feines Rot immer tiefer ihre flaumigen Bäckchen überzog. »Ach, Martin, ich glaub's ja nicht eher, als bis wir endlich so weit sind ... eher glaub' ich's nicht ...«
»Na freilich, lang genug hat's gedauert, bis die Herren Eltern eingesehen haben, daß ein Maler nicht notwendig der Antichrist in Person ist —!«
Eine Wolke finstern Unmuts lag auf einmal unter dem blitzenden Lackschirm der Offiziermütze. Sie sprach von kaum verwundenen Bitterkeiten ... von harten Kämpfen um ein[S. 12] endlich doch ertrotztes Glück ... Die lachenden Lippen hatten sich jählings fest geschlossen, und unwillkürlich stieß die Linke die Säbelscheide klirrend auf die Fliesen des Bahnsteigs.
»Laß, Liebster,« mahnte die Braut erschrocken, »jetzt nicht daran denken ... ist ja nun alles überstanden!«
»Ach, Mädel,« sagte der Maler, »das alles vergess' ich erst, wenn ich dich hab' ... wenn ich dich ganz hab' ...«
»In acht Wochen,« hauchte die Braut, »morgen in acht Wochen!«
Sie richtete rasch das glühende Köpfchen auf, sah dem Geliebten tief ins Auge und sagte voll eindringlichen Ernstes: »Martin, ich weiß, was für ein toller Bursch du bist! — Versprich mir eines: Verspar dich für mich ... nicht zu wilde Sachen machen, verstehst du mich? ... keine zu unruhigen Pferde reiten ... nicht wieder durch jeden See schwimmen, der am Ruhetage gerade zu erreichen ist, und« — mit halb mütterlich besorgtem, halb schwesterlich schwärmerischem Lächeln — »nicht zu viel trinken, verstehst du? ... Jedesmal, wenn du eine Flasche Sekt bestellen willst, denk: ich werd' sie mir sparen, um sie hernach mit meiner kleinen Frau auf der Hochzeitsreise zu trinken! Willst du mir das versprechen, Schlingel du ...?«
Martin hätte in diesem Augenblick weit mehr versprochen, wenn es hätte sein müssen ...
Ach, wie rasch war dies Aufflackern schelmischer Mädchenlust von dem zierlichen Gesichtchen verflogen, als nun eine Bewegung unter der harrenden Menge der Fahrgäste, als ein hurtiges Rollen von Gepäckkarren und ein fernes Brausen die Ankunft des Zuges verkündete, der ihr den Ersehnten auf acht Wochen entführen sollte!
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Fest schmiegte sich das liebe Kind an den blauen Überrock ihres Reserveleutnants. Wieder standen Tränen in ihren Augen, als sie mit dem Ausdruck rücksichtsloser Sehnsucht ihr Antlitz zu ihm emporhob: »Behalt mich lieb, du ... hörst du ... behalt mich lieb ...!«
Da faßte er ihre beiden Hände und gab ihr den Abschiedskuß. »Morgen in acht Wochen, du, morgen in acht Wochen!«
Als eine Wendung des Zuges den Bahnhof und den weißen, winkenden Fleck inmitten wimmelnder Menschenmenge dem Blick entrückt hatte, ließ der Reisende sich mit einem tiefen Aufatmen in die grausammetnen Polster fallen. Er war zum Glück allein — dehnte sich und streckte alle Glieder in einem Gefühl unbeschreiblichen Behagens. Herrgott, war er glücklich ...!
Endlich überstanden, dieser zweijährige Kampf um dies Mädchen, das er, er, der Verwöhnte, der vielgefeierte junge Künstler, aus den hundert Gestalten, die ihn werbend umdrängten, sich ersehen hatte zur Gesellin seines ruhelosen Daseins. Nach einer harten Jugend voller Kampf, die ihn aus der behaglichen Enge des evangelischen Pfarrhauses einer kleinen bergischen Stadt hinausgeführt hatte in das wogende Dasein eines werdenden, machtvoll sich aufwärts ringenden Künstlers, war er seit kurzem an einem ersten Ziel ... Im Hauptsaal der Sezession in Berlin hingen seit dem Frühjahr allbestaunt nebeneinander zwei große Damenporträts von seiner Hand, die er mit weisem Bedacht als verblüffende Pendants für die Ausstellung in gleichem Format und Stil geschaffen hatte, obwohl sie bestimmt[S. 14] waren, an ganz verschiedene Plätze zu gelangen. Zur Linken die blonde Brünhildengestalt der Gräfin Amalie von der Schulenburg, einer Vollblutgermanin, eines Sterns der niederrheinischen Aristokratie, und neben ihr: die tiefbrünette und ebenso tief dekolletierte Rasseschönheit der Frau Kommerzienrat Mannheimer, der elegantesten und interessantesten Frau der Börsenkreise in Frankfurt am Main ...
Die Kritik hatte beide Bilder schlechthin als meisterlich gefeiert. Das Publikum wurde nicht satt, die Werke zu bestaunen, die ihren Schöpfer zum berufensten Verkünder des modernen weiblichen Schönheitstypus stempelten und in die vorderste Reihe der zeitgenössischen Porträtmalerei geführt hatten.
Den ganzen Sommer über war Martin Flamberg von einem Hochsitz des Kapitals zum andern gezogen und hatte die erlesensten Exemplare glänzender Weiblichkeit mit einer Kunst festgehalten, die, weit entfernt von weichlicher Schmeichelei und Schönfärberei, doch ihre Gegenstände über die Sphäre gemeiner Wirklichkeit in eine Region idealer Kultur hineinzuheben verstand.
Und erst dieser junge Ruhm und seine notwendige Folge, das elementare Anschwellen seines Bankkontos, hatten den langjährigen Widerstand des Oberlandesgerichtspräsidenten, Geheimen Oberjustizrats Doktor van den Bergh und seiner freiherrlichen Gattin gebrochen und so dem trotzigen Zueinanderwollen zweier Menschen den Sieg gebracht, deren Verbindung ein Schlag ins Gesicht des Schicksals zu sein schien.
Der alte Präsident war der Typus eines starren ostelbischen Bureaukraten, und ihm wie seiner Frau war der[S. 15] Gedanke, ihre Einzige an der Seite eines Künstlers zu sehen, fast gleichbedeutend geworden mit dem völligen Verzicht auf die Liebe ihres Kindes.
Sie hatten es mit ansehen müssen, wie ihr Mädchen sich angesichts ihrer Weigerung schrittweise völlig von ihnen loslöste und in eine andere Welt hinüberwuchs, für deren Lebensgesetze ihnen auch der Schatten des Verständnisses abging. Sie hatten sich bis zur Verzweiflung gegen diese Schickung gewehrt und sich erst besiegt gegeben, als der Erwählte ihrer Tochter ihnen ziffermäßig beweisen konnte, daß seine Kunst wenigstens nicht eine brotlose sei, und daß sie für die materielle Zukunft ihres Kindes nichts zu befürchten haben würden, wenn sie schon seiner Seelen Seligkeit und das beglückende Bewußtsein innerer Zusammengehörigkeit in den Kauf hatten geben müssen.
Wie oft hatte sich Martin Flamberg in diesen Jahren der Kämpfe gefragt, ob es nicht richtiger sei, von dem raschen Bündnis, das eine Ballnacht besiegelte, zurückzutreten und sich den entsetzlich kraftvergeudenden Kämpfen nicht länger auszusetzen, die ihm jahrelang die Ruhe seines Lebens geraubt hatten — diese Ruhe, die er doch für seine Kunst so nötig brauchte.
Aber schließlich war es der gleiche zähe Künstlertrotz, der ihn in raschem Aufstieg zu der heute erklommenen Höhe geführt hatte — dieser selbe unbeugsame Trotz war es gewesen, der ihn an der einmal getroffenen Wahl hatte festhalten lassen, so oft auch in lockendster Gestalt von rechts und links die Versuchung an ihn herangetreten war, das Ziel seines Lebens auf mühelosere Weise zu erreichen.
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Ach — das alles lag ja nun hinter ihm — das alles war verwunden — mußte und durfte vergessen werden. Der Termin seiner Hochzeit war festgesetzt. Auch hier hatte er den Sieg erzwungen, im Leben, wie in der Kunst.
Nun wollte er noch einer lange aufgeschobenen Pflicht genügen und seine vierte Reserveoffizierübung machen, um dann am Arme der Liebe die zweite Hälfte seines Lebens zu beginnen. Ja, diese achtwöchige Übung —! Er war ein begeisterter Soldat gewesen. Es hatte ihm Vergnügen gemacht, sich durch Luft und Sonne im Waffendienst herumzutummeln — es war ihm eine Wonne gewesen, von Zeit zu Zeit in die bunte Schlangenhaut des Kriegers zu schlüpfen und auch hier seinen Mann zu stellen.
Aber als nun langsam der Erfolg — als endlich jählings der Ruhm gekommen war — als er sich ganz durchdrungen hatte mit Künstlertum, da hatte er geglaubt, die militärische Phase seiner Jugend endgültig überwunden zu haben, und es war ihm schier ein unerträglicher Gedanke gewesen, sich nochmals für acht Wochen in den Zwang einer so ganz und gar anders gerichteten Lebensführung fügen zu sollen.
Oftmals hatte er vor dem Schritte gestanden, sich aus der Reserve des Regiments, dem er angehörte, gleich in die Landwehr zweiten Aufgebots überschreiben zu lassen und damit ein für allemal sich seinen militärischen Verpflichtungen zu entziehen ... und dann hatte er's doch nicht übers Herz gebracht; denn das Monogramm seines Regiments bedeutete für ihn zugleich die Erinnerung an fast zwei Jahre seines Lebens, denen er, das wußte er gar wohl, als Künstler sehr viel verdankte.
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Verdankte vor allen Dingen seine genaue Bekanntschaft mit dem Wesen des Volkes, das sich ihm im erzwungenen Verkehr mit den Mannschaften und Unteroffizieren seines Regiments spielend erschlossen hatte.
Aber noch mehr verdankte er seinem Soldatentum:
Die sich dem Kulturmenschen sonst nur auf Reisen zu »kalt staunendem Besuch« erschließt ... die Natur ... zu ihr hatte er just als Soldat ein persönliches Verhältnis gewonnen, das seiner Kunst die reichsten Früchte getragen hatte. Er war ja nicht Landschafts-, sondern Porträtmaler, und die Richtung seines Strebens bannte ihn an den Salon, bannte ihn an eine Menschensphäre hoher Kultur, äußerster Verfeinerung und Naturentfremdung des gesamten Daseinsbetriebes — und so war es ihm geradezu ein Glück geworden, daß sein Dienstjahr und die Pflichtübungen in der Reserve ihn durch Jahre hindurch immer wieder in Zusammenhang mit dem Leben des Volkes und mit dem geheimnisvollen Wirken der Natur gebracht hatten. Er hatte fünf Manöver mitgemacht, und diese kriegerischen Übungen hatten ihm zahllose Bilder in die Seele geprägt, Bilder von taufrischen Sonnenaufgängen auf grüner Heide, in den Gebirgen der Eifel und des Hunsrücks — brütende Sonnenschwüle über flimmernden Ackerbreiten — traumstille Mondnächte — nebelverhangene, regentriefende Waldeinsamkeiten.
Und nun — da er wieder den bunten Rock angezogen — fühlte er wieder jene seltsame Wirkung, der er schon früher immer so gern sich hingegeben hatte — er fühlte sich plötzlich verwandelt werden — fühlte, wie er auf einmal ein anderer Mensch wurde — fühlte, wie das Gewand, das die Zugehörigkeit zu einer andern Kaste bedeutete, in ihm[S. 18] plötzlich Möglichkeiten seiner Seele freimachte, die unentwickelt geblieben wären in dem Leben seines eigentlichen und wahren Berufs.
Ach, wie schön, dachte Flamberg, nun einmal für acht Wochen nicht mehr der berühmte und umstrittene Künstler zu sein, sondern ganz wer anders!
Ein kleiner Leutnant — eine Nummer — ein Rad im großen Betrieb eines ungeheuren, wuchtig und sicher arbeitenden Mechanismus.
Untersinken in einer Menge — nicht mehr wollen dürfen, sondern einfach müssen — sich korrigieren und anschnauzen lassen müssen — hinter sich ein Fähnlein grobknochiger Söhne des Volkes — um sich herum die Bilder eines bunten und fremden Lebens.
Wieder im Gefecht sprungweise über den Stoppelacker und durch Waldesdickicht vorgehen müssen — umbrüllt vom rollenden Hurra und knatternden Schnellfeuer, umschrillt vom vorwärtsdrängenden Kreischen der Signalhörner, vom dumpfen Sturmmarsch der Tambours, um dann am Ziel, Auge in Auge mit dem friedlichen Feind, sich lachend und keuchend an die Erde zu werfen und in rasch gefundenem Schlummer zwischen braunen Schollen und gelbblühenden Ginsterstauden auszuruhen — und dann gestärkt und genesen heimzukehren — ein erneuter, verjüngter Mensch, wie Antäus aus der Umarmung seiner Mutter, um wieder zum Pinsel zu greifen und aufs neue Schönheitswelten aus dem Nichts zu schaffen.
Ach, und dann galt es ja bei dieser Heimkehr den Einzug in das Land des Menschenglücks — galt es die Vereinigung mit ihr, die er sich zur Gesellin seines Daseins erlesen —[S. 19] mit ihr, die er trotzig herausgerissen aus einer fremden, starren Welt, um sie mit sich hineinzuführen in die glückselige, heitere Region, in der sein eigenes Dasein sich sonnig entfaltete.
Mit ihr, von der seine Gefühle ihm beim ersten Anblick gesagt hatten, daß sie die Kameradin sei, die er brauche, sie der Mensch, der seinem wilden Herzen den Frieden schenken würde, die große Ruhe, in der allein das große Werk zur Reife gedeihen kann.
Wie schön das alles — wie reich und schön! Wie reich und schön dies selbstgeschaffene Leben mit all seinen wechselnden Gestaltungen!
Wie hell um ihn die Hoffnungsfülle — wie golden vor ihm die Zukunft in Nähe und Weite!
Welches Glück, ein Künstler zu sein!
Welches Glück aber auch, Soldat zu sein — von Zeit zu Zeit einmal untertauchen zu können von der flimmernden Oberfläche der Menschheit her in die ruhig treibende Tiefe hinab, dorthin, wo im Waffendienst ein Volk geschult wurde zur Wehrhaftigkeit in Krieg und Frieden, zu geschlossen starkem Ineinanderwirken, zu elementarischer Zusammenballung eines ungeheuern Kräftevorrats!
Und endlich, zu lieben und geliebt zu werden — welch ein Glück — welch eine Schönheit — welch überschwengliche Hoffnung und Gnade!
Ihm war's, als sitze sein Mädchen ihm gegenüber, als seien die tränenschweren, güteschweren braunen Augen auf ihn gerichtet mit der innigen Mahnung: Komm wieder — komm bald wieder — du weißt ja, ich harre dein!
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Der reisende Mann legte den Kopf tief in die Kissen zurück, schloß die Augen und sprach leise vor sich hin: »Agathe — Agathe!« — —
Ratternd und fauchend hielt der Zug auf einer Kreuzungsstation. Martin fuhr auf, steckte den Kopf zum Fenster hinaus in der Absicht, die Einsamkeit seiner Fahrt gegen jeden Eindringling mit einem wahren Menschenfressergesicht zu verteidigen.
Da sah er in der Menge der andrängenden Fahrgäste eine abenteuerliche Gestalt. Seine erste Empfindung war: Aha, ein Kamerad — aber was für einer!
Ein lang und dürr aufgeschossener Herr mit goldgefaßter, funkelnder Brille und einem langen, struppigen roten Bart, die hagern Glieder umschlossen von einem Offizierüberrock, der, bei völlig unmodernem Schnitt, noch immer die schwarze Farbe zeigte, während Blau seit einigen Jahren Vorschrift war, auf dem Kopfe eine Mütze, wie er selber sie in seiner einjährig-freiwilligen Dienstzeit vor zehn Jahren getragen. Die Linke fuhrwerkte unbeholfen mit dem Säbel umher, der ihm jeden Augenblick zwischen die stelzengleichen, unruhig trippelnden Beine zu geraten drohte.
Neben dem Uniformierten stand mit kaum verhohlenem Grinsen ein rotbemützter Dienstmann, der einen ungeheuern, stark verschlissenen Handkoffer und eine Helmschachtel trug.
Nun hatten die hilflos hinter den Brillengläsern flackernden grauen Augen des Uniformierten den Maler erspäht. Die Rechte im Uniformhandschuh legte sich grüßend an den Schirm der vorsintflutlichen Mütze, und wie schutzsuchend[S. 21] steuerte die lange Gestalt auf den Wagen zu, an dessen Fenster Martin stand.
Der Dienstmann riß die Wagentür auf, stieg zuerst hinein und verstaute das Gepäck in den Netzen. Mühsam kletterte der Offizier hinterher, jeden Augenblick in Gefahr, über seinen Säbel zu stolpern. Nun suchte die ungelenke Linke des Herrn nach dem Portemonnaie, fand aber die Tasche nicht gleich, weil die langen Schöße des Rocks und der Riemen des Säbelkoppels den Zugang hemmten; aber endlich war die Börse doch erwischt, der Dienstmann bekam seine Vergütung, die nicht allzu reichlich ausgefallen zu sein schien; denn ohne Gruß mit einem knurrenden Laut verließ der Träger das Abteil.
Und nun wollte sich der Ankömmling dem Kameraden vorstellen; in demselben Augenblick aber zog der Zug an — und mit einem Ruck flog der schwarze Überrock gegen den hellblauen, so daß beide Herren auf die Polster plumpten.
In hilfloser Verlegenheit stotterte der Ankömmling eine Entschuldigung, und nachdem beide Herren ihre Säbel und Beine wieder aufgesammelt hatten, stellte er sich nun endlich vor, selbstverständlich ohne daß Martin den Namen des Kameraden verstand.
Tiefaufatmend lehnte sich der fremde Herr auf seinen Sitz zurück, nahm die Mütze ab, unter der ein nur noch von einem dürftigen braunen Haarkranz umsäumter kahler Schädel zum Vorschein kam, und tupfte mit einem gelbseidenen Taschentuch die quellenden Schweißtröpfchen von Stirn und Platte.
»Schauerliche Hitze —!« meinte er und fächelte sich mit dem Taschentuch.
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Rasch kam das Gespräch in Gang. Es stellte sich heraus, daß der Ankömmling Privatdozent der Literaturgeschichte an der Universität Bonn sei, und als Flamberg ihm seinen Namen deutlicher wiederholte, wußte der andere sofort Bescheid. Respektvoll fragte er: »Flamberg? etwa gar der Schöpfer der beiden Porträts in der Berliner Sezession?«
»Ich kann's nicht länger verheimlichen,« lächelte Martin.
»Alle Wetter,« sagte der andere, »das nenn' ich ein glückliches Omen ... da ich doch nun wieder einmal sehr gegen meinen Geschmack aus meiner stillen Studierklause unter das Kriegsvolk verschlagen werde. Ich bin entzückt, gleich beim ersten Eintritt in diese langentfremdete Welt einem Vertreter sanfterer Regionen der Menschlichkeit zu begegnen ... Übrigens werden Sie meinen Namen auch nicht verstanden haben. Ich heiße Frobenius.«
Martin dachte einen Augenblick nach und sagte: »Frobenius, Wilhelm Frobenius ... ich habe vor kurzer Zeit eine Sammlung von Studien über Goethes Faust von einem Wilhelm Frobenius gelesen — wären das gar Sie?«
»Ich kann's nicht länger verheimlichen,« schmunzelte Frobenius.
Martin streckte ihm die Hand hin: »Ich freue mich,« sagte er, »Ihre Analyse der Gretchengestalt hat auf mich so stark gewirkt, daß ich kurz vor meiner Abreise ein Gretchen gemalt habe.«
»Schau — schau,« sagte Frobenius, »wo haben Sie das Modell aufgetrieben?«
»Da hab' ich nicht lang zu suchen brauchen,« lachte Martin, »meine Braut!«
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»Ei der Tausend, dann freilich! — gratuliere, Herr Kamerad!«
»Sagen Sie, Herr Frobenius,« fragte der Maler, »Sie scheinen von der Aussicht, wieder mal acht Wochen im bunten Rock zubringen zu müssen, nicht so erbaut zu sein wie ich?«
»Ja,« sagte Frobenius, »das ist eine sehr berechtigte Frage. Ich kann mir wohl vorstellen, daß Sie mir es an der Nase ansehen, daß meine Liebe zum Kommiß eine einigermaßen unglückliche ist. — Sehen Sie, ich bin von Natur so etwas wie ein Pechvogel, fühle mich eigentlich nur hinter meinen Büchern so recht behaglich —«
»Dann verstehe ich nicht recht — Sie müssen doch schon in höhern Semestern sein und haben doch keinesfalls mehr die Pflicht zu üben — warum tun Sie's also?«
»Sie haben ganz recht zu fragen,« erwiderte der Privatdozent, »ich könnte längst außer Dienst sein. — Ich habe mich überhaupt erst in der Landwehr zum Offizier wählen lassen und mit Zittern und Zähneklappern vor sechs Jahren meine einzige achtwöchige Pflichtübung gemacht. Damals aber habe ich gefunden, daß mir diese Übung vorzüglich bekam, nicht nur körperlich, auch — ich möchte sagen — was meinen Charakter anbetrifft — — Wissen Sie, ein so fürchterlich ungewandter Mensch, wie ich nun leider Gottes einmal einer bin, für den sind solche acht Wochen beim Kommiß eine wahre Dressur. Wenn ich auch im bunten Rock eine ganz miserable Figur mache — ich weiß das leider nur zu gut — so hab' ich entdeckt: als ich damals nach Hause kam, da war für einige Zeit, etwa für zwei bis drei Jahre, jene lächerliche Scheu vor öffentlichem Auftreten und gesellschaftlichem[S. 24] Umgang von mir gewichen, die mich sonst zu einem wahren Einsiedlerdasein zwingt.«
»Aha, und darum sind Sie also in der Landwehr I geblieben — und wollen jetzt mal wieder acht Wochen 'ran, um sich sozusagen wieder mal ein bissel zurechtstutzen zu lassen!«
»Ja, allerdings, das war die Absicht«, meinte der Privatdozent. »Eigentlich ist die Übung für mich ein Martyrium, dem ich nur mit Grauen und Entsetzen entgegensehe — und ich weiß schon, daß ich während der ganzen Zeit aus einer Katastrophe in die andere taumeln werde — aber was hilft's — es muß nun einmal sein.«
»Ja,« lachte der Maler, »dann sind Sie allerdings zu bedauern — ich für meine Person freue mich, offen gestanden, ganz kolossal auf die Übung.«
»Das glaube ich,« sagte Frobenius, »Sie sehen auch so aus, als ob Sie Grund dazu hätten. Wenn mich der Schein nicht trügt, so sind Sie ein gerade so netter Kerl, wie Sie ein großer Künstler sind, und ich werde Ihnen etwas sagen: Sie werden mir einen Gefallen tun. Sie werden sich gelegentlich meiner ein bißchen erbarmen, wenn es mir gar zu jämmerlich geht, nicht wahr, Herr Kamerad?!«
Er streckte dem Maler die haarige Rechte hin, von der er den weißen Uniformhandschuh abgezogen hatte, und schallend schlug Martin ein.
»Das soll ein Wort sein, Herr Frobenius — ich denke, es soll recht nett werden, die acht Wochen hindurch — ich sehe gar nicht ein, was uns hindern könnte, uns die zwei Monate, die vor uns liegen, zu einem rechten Fest zu machen.«
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In dem hellen, luftigen Speisesaal des Offizierkasinos des Füsilier-Regiments Prinz Heinrich der Niederlande (14. Rheinischen) Nr. 186 war der Kasinovorstand, Oberleutnant Menshausen, damit beschäftigt, die Anordnungen für die Mittagstafel einer letzten Prüfung zu unterziehen. Er legte an der Hand eines Zettels, auf dem er die Tischordnung entworfen hatte, persönlich die Tischkarten, instruierte die Ordonnanzen und warf ab und zu einen Blick auf den Kasernenhof hinaus, wo im Schatten der Kasernengebäude die Bataillonsadjutanten die Befehlsempfänger der Kompagnieen um sich versammelt hatten, um die Tagesbefehle auszugeben. Drüben aber, im prallen Sonnenschein, trat die Wache an, und der Offizier vom Ortsdienst nahm die Meldungen der Wachhabenden entgegen.
Säbelklirrend kam Leutnant Blowitz herein, der neue Adjutant des ersten Bataillons, erst seit kurzem aus dem fernen Osten in das rheinische Regiment versetzt: »Morgen, Menshausen — nanu, gibt's denn heute mittag ein größeres Zauberfest?«
»Allerdings,« erwiderte Menshausen kurz, »Regimentsmusik!«
»Was ist denn los?«
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»Die Herren Kameraden der Reserve und Landwehr werden in unserer Mitte begrüßt.«
»Ah — richtig, richtig — aber warum machen Sie denn dazu so'n saures Gesicht, Menshausen?«
»Ich weiß nicht,« brummte der Kasinovorstand, »kann die Herren nun mal nicht verknusen — verderben den ganzen Eindruck des Offizierkorps — untergraben die Disziplin.«
»Na, hören Sie mal,« lächelte Blowitz, »ich habe mich bei meinem frühern Regiment mit den Herren ganz vorzüglich gestanden. Ist 'ne ganz nette Abwechslung — man bekommt doch mal was anderes zu hören, als ewig Kommiß- und Avancementsgeschichten. Übrigens sind die Herren nun einmal doch ein notwendiges Übel.«
»Ob sie notwendig sind, weiß ich nicht — übel sind sie jedenfalls.«
Leutnant Blowitz stand gerade an der Wand unter einem mächtigen Rahmen, der eine große Anzahl einzelner Photographien von Offizieren umschloß. Es waren die Toten des Offizierkorps des Regiments aus dem Feldzuge 1870/71.
»Ja, sehen Sie mal, lieber Menshausen,« meinte er, »schau'n Sie sich doch mal hier die Regimentstafel der Gefallenen von Siebzig an — da ist ein Hauptmann der Reserve und drei Leutnants der Reserve drunter.«
»Na ja,« lenkte der Ältere ein, »im Kriege mögen die Herren ja an ihrem Platze sein, und daß sie brav gefochten haben und als ehrenhafte Soldaten gestorben sind, will ich ja nicht bezweifeln — aber im Frieden tun sie nichts weiter, als den Betrieb stören. Wir sind doch hier wahrhaftig nicht zusammen, um ein bißchen Räuber und Gendarm miteinander zu spielen — wir haben hart zu arbeiten — wir[S. 27] haben die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, binnen zwei Jahren die Hanakenbande, die uns jeden Oktober hierher geschickt wird, zu halbwegs brauchbaren Soldaten zu erziehen — und dabei sind die Herren von der Reserve und Landwehr höchstens hinderlich!«
Blowitz lachte still in sich hinein. Er hatte den Charakter des neuen Regimentskameraden schon einigermaßen durchschaut und wußte, daß es nicht leicht war, ihm irgend etwas recht zu machen.
»Wie viel Herren kommen denn?« fragte Blowitz.
»Ganze sechs!«
»Na, was für Geisteskinder sind es denn?«
»Geben Sie mal acht,« sagte der Oberleutnant und zog den Jüngern ans Fenster, »da hinten unterm Torbogen da versammeln sie sich gerade. Wissen Sie, ich teile die Herren Sommerleutnants in zwei Kategorien ein: die einen sind die, die wenigstens von weitem wie Offiziere aussehen — die andern sind glattweg wandelnde Karikaturen. Nun sehen Sie sich mal die Gesellschaft da hinten an. Ich werde Ihnen zunächst die Karikaturen vorstellen. Also betrachten Sie mal diese Tonne da hinten: das ist der Oberleutnant der Reserve, Herr Brassert, im Zivilverhältnis Gymnasialoberlehrer. Wenn Sie dem einen Stich ins Herz versetzen wollen, dann müssen Sie ihn ›Herr Professor‹ anreden.«
»Warum soll ich ihm denn einen Stich ins Herz versetzen?« erwiderte Blowitz, »er hat mir ja gar nichts getan — aber weiter! Wer ist denn dieser merkwürdig dünne Herr mit dem zapfenartig herunterhängenden Schnurrbart?«
»Ja,« sagte Menshausen, »das ist die Obervogelscheuche unter den Herren — das ist der Forstassessor Troisdorf, ein[S. 28] Rauhbein im Quadrat; ich behaupte, er kann überhaupt kein Wort Hochdeutsch sprechen.«
»Nanu,« meinte Blowitz, »wie ist denn das möglich? Ein Forstassessor ...«
»Na, Sie werden ja hören,« entgegnete Menshausen, »mag sein, daß er im Verkehr mit seinen Waldwärtern und Treibern völlig verbauert ist, jedenfalls spricht er das fürchterlichste Kölnisch, das ich jemals gehört habe.«
»Übrigens wimmelt da ja noch eine dritte Karikatur 'rum.«
»Den Herrn kenn' ich nicht — das ist also jedenfalls der Landwehronkel, der uns angekündigt worden ist — irgend so'n gelehrtes Haus von der Universität — Gehirnfatzke, wie der Simplizissimus sagt!«
»Na, und nun also die halbwegs vernünftig Aussehenden!«
»Ja sehn Sie — da ist zunächst der einzige, der für mich mitzählt, der blonde Herr im Dienstanzug — er macht seine erste Offizierübung — er ist aus dem Regiment hervorgegangen — ein Referendar namens Dormagen — ein einigermaßen tadelloser Herr!«
»So, also das ist Ihr Genre,« sagte Blowitz, »für meinen Geschmack hat er eine ziemliche Ohrfeigenvisage — und der andere daneben, mit dem riesigen, hochaufgedrehten Schnurrbart?«
»Hm — das ist wieder 'ne andere Nummer — das ist der Leutnant Klocke — seines Zeichens das, was ein aktiver Offizier in der Regel erst später zu werden pflegt — nämlich Versicherungsagent! — Na — er macht wenigstens 'ne leidlich militärische Figur — über seine sonstige Persönlichkeit müssen Sie sich selbst ein Urteil bilden!«
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»Wer aber«, fragte Blowitz, »ist der blonde Herr, der da eben so strahlend heranfegt?«
Menshausen zögerte einen Augenblick mit der Antwort. »Tja — — das ist sozusagen unser Renommierreserveleutnant — ein sogenanntes berühmtes Tier — das ist der Maler Flamberg —«
»Flamberg?« sagte Blowitz nachsinnend, »woher kenn' ich denn den Namen? — Richtig, jetzt fällt mir's ja ein: auf der Durchreise war ich doch in Berlin und hab' da in einer Ausstellung ein paar gemalte Weiber gesehen — aber — deliziös, sag' ich Ihnen — eine stramme Germanin — und daneben eine fabelhaft pikante Jüdin mit Schultern — Schultern — sag' ich Ihnen! Teufel, die Bilder machen ja ein kolossales Aufsehen! — und das ist also dieser Flamberg?«
»Weiß ich nicht,« sagte Menshausen, »ich verstehe nichts von Kunst — und ob er eine Germanin und eine Jüdin in Berlin aufgehängt hat, ist mir höchst wurscht. Für meine Person kann ich nur behaupten, daß dieser Herr Flamberg mir unter all den Herren von der Reserve der fatalste ist. — Was der Bruder sich schon einbildet auf sein bißchen Pinselei! und dann, wissen Sie: Ansichten! Ich begreife nicht, was so'n sogenannter Künstler überhaupt im preußischen Offizierkorps zu suchen hat. — Der sollte doch ruhig mit seinen Übermenschen und Überweibern zusammenhocken und uns hier in Frieden lassen — na, Sie werden ihn ja kennen lernen.«
»Ich weiß nicht — ich finde, er sieht ausgezeichnet aus!«
In diesem Augenblick standen die Ordonnanzen stramm; denn ein neuer blauer Überrock erschien in der Tür zum Rauchzimmer.
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»Morgen, meine Herren!«
»Guten Morgen, Herr Hauptmann!« Die beiden Offiziere verneigten sich.
»Ah, Herr Hauptmann schenken uns die Ehre heute,« sagte der Kasinovorstand, »ist ja wohl das erstemal, seitdem Herr Hauptmann der Tischgesellschaft auf so überaus angenehme Weise entfremdet worden sind!?«
»Tja,« meinte Hauptmann von Brandeis, »alles den Herren Kameraden von der Reserve zu Ehren! — Da ist nämlich der Maler Flamberg dabei, den hab ich seinerzeit als Rekruten ausgebildet. — Ich habe bei Herrn von Schoenawa durchgesetzt, daß er in meine Kompagnie kommt.«
»So,« meinte Menshausen, »also der ist Herrn Hauptmanns Fall?«
»Warum nicht?« entgegnete Hauptmann von Brandeis, »und übrigens — wissen Sie, wir gehen doch nächstens ins Manöver, und da weiß ich aus Erfahrung — Flamberg hat nämlich schon einmal bei meiner Kompagnie während des Manövers geübt — der ist unschätzbar als Menagenchef. Wenn ich die Manöververpflegung dem Windhund, meinem kleinen Carstanjen, überlasse, dann bekomm ich während der drei Manöverwochen nichts Vernünftiges zu essen und zu trinken — da halt' ich mich schon lieber an Flamberg — das ist ein Genießer vor dem Herrn! — Außerdem hab' ich auch noch andere Absichten mit ihm: er soll meine Frau malen!«
»So,« meinte der Oberleutnant gedehnt, »wissen Sie denn auch, Herr Hauptmann, daß Flamberg in dem Ruf steht, von den Damen sehr — hm, hm! — verwöhnt zu werden?«
[S. 31]
»Na, wennschon,« sagte Brandeis phlegmatisch, »er ist verlobt! — Übrigens war das eine ziemlich geschmacklose Bemerkung von Ihnen, lieber Menshausen.«
Der Hauptmann machte kurz kehrt und ging ohne Gruß in das Rauchzimmer zurück.
»Kennen Sie Frau von Brandeis, lieber Blowitz?« fragte Menshausen leise.
»Wenigstens par renommée,« erwiderte der andere, »soll 'ne Schönheit sein, wie?«
»Schönheit —? viel zu wenig! Die Frau, wissen Sie, das ist — einfach 'ne Sache, verstehen Sie. — — Wie die an dieses schlafmützige Dusseltier, den Brandeis geraten ist, das wissen die Götter! — Stammt aus 'ner schwerreichen Düsseldorfer Fabrikantenfamilie — fabelhaft musikalisch — und ein Temperament —! Wenn ich Brandeis wäre, die ließ ich nicht fünf Minuten aus den Fingern! Na, schließlich so'n Reserveonkel — davor wird sie hoffentlich ihr guter Geschmack bewahren. — Wenn schon — dann soll's wenigstens in der Familie bleiben —!«
In diesem Augenblick trat der Stabshoboist, der Königliche Obermusikmeister Herr Biesicke ein, schritt stramm auf den Kasinovorstand zu und meldete: »Regimentsmusik zur Stelle!«
»Danke, lieber Biesicke! Na, nun können die Herren Kameraden der Reserve und Landwehr meinetwegen anrücken!« — —
Draußen auf dem Kasernenhof lag die Augustsonne in breiten goldenen Flächen ausgegossen — immerfort[S. 32] tauchten in diese gelbe Fläche glitzernde, flimmernde Punkte hinein.
Jetzt kam bei lustigem Pfeifen- und Trommelklang eine Kompagnie mit Staub und Schweiß bedeckt von der Felddienstübung zurück. Der Hauptmann an der Spitze setzte seinen Gaul in Galopp, sprengte bis auf die Mitte des Kasernenhofes vor und kommandierte, daß es schallend an den langen Fronten der Kasernengebäude widerhallte: »Augen — rechts!«
Hei! Da richteten sich all die marschmüden Gestalten noch einmal stramm auf — mit einem Ruck flogen die Köpfe rechts herum, und in flottem Parademarsch zog die gleißende, waffenrasselnde Schar an ihrem Häuptling vorüber.
»Kompagnie — halt! — Mit Gruppen links schwenkt — marsch! Halt! Gewehr — ab! — Rührt euch!«
Schon erschien, aus seiner behaglichen, kühlen Kompagniestube hervorgekrochen, der behäbige Feldwebel, erschienen Mannschaften vom Arbeitsdienst in Drillichzeug, Feldmützen und blauen Schürzen, um die vom Gefecht übrig gebliebenen Platzpatronen und Patronenhülsen abzunehmen — einige Befehle wurden noch ausgegeben — dann hieß es: »Stillgestanden! — Weggetreten!«
Und nach strammer Kehrtwendung ergoß sich die Schar der jungen Krieger wie eine heiße Flutwelle schweißdunstiger, wangenbrauner Jugend in der Richtung auf die Kaserneneingänge und verlor sich schwatzend, lachend, stiefelpolternd in die hallenden Korridore.
Der Hauptmann warf seinem Burschen die Zügel seines Kleppers zu, voltigierte so elastisch, als ihm seine zweiundvierzig Jahre dies gestatteten, vom Pferde herunter und[S. 33] wandte sich zu seinen Offizieren. Die standen, Hand am Helm, Säbel angefaßt, seiner Befehle gewärtig: »Ich danke Ihnen, meine Herren — wie wär's mit einem Schoppen im Kasino?«
»Selbstverständlich, Herr Hauptmann!«
Da standen in der geräumigen Eingangshalle des Kasernengebäudes die sechs eingezogenen Offiziere des Beurlaubtenstandes: »Ah, sieh da — die Herren von der Reserve und Landwehr!«
Der Hauptmann und die beiden jungen, schmucken aktiven Leutnants traten auf die eingezogenen Herren zu und begrüßten die alten Bekannten. Von den sechs Angekommenen gehörten fünf zur Reserve des Regiments und waren den aktiven Herren von frühern Übungen her bereits bekannt. So war die Begrüßung sehr herzlich und kameradschaftlich.
Etwas hilflos stand der Leutnant der Landwehr Frobenius im Hintergrunde, aber Flamberg, eingedenk seines Versprechens, sich des Kameraden anzunehmen, winkte ihn heran: »Gestatten Herr Hauptmann, Herr Leutnant der Landwehr Frobenius — Herr Hauptmann Haller, Chef der dritten Kompagnie — die Herren Leutnants von Finette und Krummacher.«
Herr Frobenius faßte den Säbel in die Linke und legte die weißbehandschuhte Rechte wie eine große Flosse an den Helm mit einer so altväterlich unbeholfenen Handbewegung, daß der lustige, hellblonde Leutnant von Finette es sich nicht versagen konnte, gleich loszuulken: »Sagen Sie, Herr Frobenius, Sie haben wohl schon unter Albrecht dem Bären gedient, wie?«
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»Warum meinen Sie, Herr Kamerad?« fragte Frobenius errötend.
»Das schließe ich aus dem Schnitt Ihres Kollers und aus dem Modell Ihres Turnierhelms.«
»So — sind die Sachen so auffallend unmodern?« stammelte Frobenius.
»Ja,« entgegnete Finette, »wenn Ihre Kenntnis des Exerzierreglements im selben Maße mit der Neuzeit fortgeschritten ist, dann werden ja die Herren Füsiliere viel Vergnügen an Ihnen erleben!«
Flamberg kam ihm wiederum zu Hilfe: »Lieber Finette, wenn Sie mal ein so altes Patent haben werden wie der Herr Kamerad Frobenius, dann haben Sie längst wegen unheilbarer Revolverschnauze den Abschied — — und kommen also gar nicht in die Verlegenheit, sich von einem jungen Dachs wegen Auftragens älterer Garnituren anulken lassen zu müssen,« sagte er mit liebenswürdigem Lächeln, doch scharf genug, daß Finette verstand.
Der aber war nicht aus der Fassung zu bringen. Im echtesten Tonfall seiner Heimatstadt Köln erwiderte er: »Is ja halb so schlimm gemeint, nit wahr, Herr Frobenius? lohß mer uns widder verdrage, nit?«
Er streckte dem Privatdozenten die schlanke Hand hin, die dieser krampfhaft schüttelte.
Immer mehr Kompagnien kamen jetzt von der Morgenarbeit zurück. Die Offiziere, von ihren Hauptleuten verabschiedet, traten einer nach dem andern heran und begrüßten die eingezogenen Herren.
Frobenius beobachtete mit Genugtuung, daß das kameradschaftliche Verhältnis zwischen den aktiven Herren und denen[S. 35] der Reserve ein sehr gutes zu sein schien — nur er, der allein nicht die Regimentschiffre trug, das Monogramm des Chefs, des Prinzen Heinrich der Niederlande, nur er allein wurde mit einer gewissen Zurückhaltung behandelt, zu der allerdings, wie er sich selbst nicht verhehlte, sein verbotenes Exterieur einigermaßen beitragen mochte.
Auch die Stabsoffiziere fanden sich ein: der martialisch kurzangebundene Oberstleutnant Rautz — dann der Kommandeur des ersten Bataillons, Major von Sassenbach, ein alter Troupier mit ausgewettertem Gesicht und langflatternden grauen Schnurrbartzipfeln — Major Blasberg, der das zweite Bataillon führte, ein hagerer reservierter Diplomat — und endlich kam gar mit klingendem Spiel der Regimentsmusik das ganze dritte Bataillon von der Felddienstübung zurück, voran der Kommandeur: der kleine rauhbeinige Major von Czigorski, der mit hellkrähender Stimme den Parademarsch befahl, auf seinem riesigen Schimmel, den seine dicken Beinchen kaum umspannen konnten, und mit behaglichem Stolz den Vorübermarsch sämtlicher Kompagnieen ansah, bis hinunter zur zwölften, der Kompagnie der ganz kleinen Kerle, die aber als die strammste im ganzen Regiment galt.
So rollte sich vor den Augen der eingerückten Herren das ganze, vertraute, farbenfrohe Schauspiel des militärischen Lebens ab, und mit Freude sogen Martin Flambergs Malersinne den glitzernden Schmelz, die schmetternden Geräusche, den herben Duft des kriegerischen Bildes ein.
Vom Kasino her kam der Hauptmann von Brandeis, des Malers alter Freund und Gönner, und schritt geradenwegs[S. 36] auf ihn zu. Flamberg hatte bereits auf dem Regimentsbureau in Erfahrung gebracht, daß er wieder bei der Ersten üben würde, und freute sich dessen; denn er hatte sich während jener ersten acht Wochen unter Brandeis vorzüglich mit ihm vertragen. In dienstlicher Haltung trat er dem Kapitän entgegen: »Melde mich ganz gehorsamst zur achtwöchigen Übung eingezogen und der ersten Kompagnie zugeteilt.«
»Danke Ihnen, lieber Flamberg,« lächelte Brandeis und streckte ihm freundschaftlich die Hand entgegen, »seien Sie mir wieder einmal willkommen bei der Königlichen Ersten! Na, wir werden ja hoffentlich ein schönes Manöver haben — der Hunsrück ist nicht das Schlimmste — erinnern Sie sich, was wir vor vier Jahren haben in der Eifel ausstehen müssen?«
»Jawohl, Herr Hauptmann — Köttelbach — Katzwinkel — Beinhausen — und Gefell — schöne Gegend!«
»Stimmt! — wenn Ihre Kochkunst und Ihre wohlassortierte Wein- und Menagekiste nicht gewesen wäre, wär's uns dreckig gegangen — habe später oft Sehnsucht nach den Fleischtöpfen Flambergs gehabt.«
»Herr Hauptmann wissen, daß ich ein Feldsoldat bin und auch mal das Koppel enger schnallen kann, ohne gleich die Nase in den Dreck hängen zu lassen, wenn's sein muß — aber wenn's nicht sein muß, dann bin ich allerdings mehr für Luxus und Wohlleben, offen gestanden.«
»Ganz Ihrer Meinung, lieber Flamberg, und um gleich einen guten Anfang zu machen, bitte ich Sie, heut mittag bei der Begrüßungstafel mein Gast zu sein.«
»Ich danke gehorsamst, Herr Hauptmann!«
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»Und im übrigen: nochmals willkommen und auf gute Freundschaft! — Aber da kommt unser neuer Herr Regimentskommandeur — die Herren werden sich melden müssen. Auf Wiedersehn also hernach im Kasino!«
Mit rascher Prüfung, nicht ohne einige Spannung, schauten die sechs Augenpaare der eingezogenen Offiziere des Beurlaubtenstandes der Ankunft des neuen Regimentskommandeurs entgegen. Von den aktiven Herren hatten sie bereits genug über ihn gehört, um zu wissen, daß er keinen Spaß verstehe.
Der Oberst Freiherr von Weizsäcker war aus der hessischen Armee hervorgegangen und trug zwischen seinen Rippen noch zwei preußische Kugeln, die er am 13. Juli 1866 als hessischer Leutnant im Gefecht bei Frohnhofen und Lauffach erhalten hatte. Dazu schmückte ihn das Eiserne Kreuz erster Klasse, das er als Führer einer preußischen Kompagnie bei Gravelotte erworben. So verkörperte er in seiner Person ein ganzes Stück der Geschichte deutscher Einigungskämpfe.
Als Flamberg ihm ins Auge sah, war sein erster Gedanke der Wunsch: »Den möchtest du malen!«
Auf der noch jugendlich elastischen, gertenschlanken Reiterfigur ein bronzener Kopf mit scharfgezogener Nase, darunter zwei graue Schnurrbartflämmchen; der Kopf, die ganze Gestalt beherrscht von tiefliegenden, doch hell und groß gezeichneten grauen Augen; die hatten die Gewohnheit, mit zwei raschen Blicken die Gestalt dessen, der vor ihnen erschien, gleichsam abzustreifen; dann bohrten sie sich mit bannender Gewalt in die Augen des Gegenübers ein, drangen mit unwiderstehlichem Leuchten bis in die Tiefe.
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Die Reserveoffiziere hatten sich in einer Reihe aufgestellt. Oberleutnant der Reserve Brassert, der behäbige Gymnasialprofessor, war dem Dienstgrad nach der älteste, und so war es denn an ihm, dem Obersten entgegenzutreten und ihm die sechs eingezogenen Herren zu melden.
Der Oberst überflog mit den zwei raschen Blicken die Gestalt des Vertreters der Herren des Beurlaubtenstandes; dabei zuckten die beiden Schnurrbartflämmchen und der herrische Mund darunter einen Augenblick, aber eisern blieb das Gesicht, nur die Augen lachten, als er mit leichtem Dank der weißbehandschuhten Hand erwiderte: »Ihren Namen, Herr Oberleutnant, wenn ich bitten darf!«
Als Brassert sich genannt, ließ er sich dessen Stand angeben, und seine Antwort: »Ah so!« schien darzutun, daß er nun den Duft der Studierstube, welcher der Erscheinung des Angeredeten anzuhaften schien, begreife.
Der Oberst ging die Reihe entlang und wiederholte die Frage nach Namen und Stand. Dann trat er mit ein paar raschen Schritten vor die Mitte der Herren, streifte noch einmal kreuz und quer mit den Augen ihre Front ab und sprach:
»Meine Herren, ich begrüße Sie. Ich habe mir erzählen lassen, daß das Regiment, das zu führen ich seit kurzem die Ehre habe, einen überaus tüchtigen Ersatz an Reserveoffizieren sein eigen zu nennen das Glück hat. Ich kann also mit vollem Vertrauen Ihrer Mitwirkung an unserer gemeinschaftlichen Arbeit entgegensehen. Wer, wie ich, zwei Feldzüge mitgemacht hat, weiß, was die Armee an den Offizieren des Beurlaubtenstandes besitzt. — Sie kommen zu uns, um bei uns zu lernen — ich bin aber überzeugt, daß Sie uns[S. 39] auch etwas mitbringen: Sie bringen uns einen Gruß des Volkes, zu dessen Schutz wir bestimmt sind. — Sie bringen uns einen Gruß der Geistesarbeit, die unterm Schirm unserer Waffen gedeihen soll. — In diesem Sinne begrüße ich Sie alle — als das lebendige Band zwischen dem aktiven Offizierkorps und dem Volk, um dessentwillen wir alle da sind. — Ich wünsche Ihnen, daß Sie sich wohl fühlen in unserer Mitte, und daß Sie nach Ablauf Ihrer acht Wochen nicht nur gebräunt und gekräftigt, sondern auch an militärischen Kenntnissen bereichert und durch freudige Erinnerungen gefördert an die Stätte Ihrer Lebensarbeit zurückkehren mögen. Ich danke Ihnen, meine Herren!«
Er grüßte, und wiederum flogen die Hände der eingezogenen Herren an die Helmschienen.
Nun wandte er sich zu den Stabsoffizieren, welche bisher, von den Hauptleuten und aktiven Leutnants umringt, den Worten des Obersten zugehört hatten, und schritt im Geplauder dem Korridor zu, der auf das Regimentsbureau führte.
Kaum war er verschwunden, da löste sich die feierliche Erstarrung, und die Gruppen der aktiven und Reserveoffiziere vermischten sich zu lautem Gelächter, schnarrendem Geplauder — und säbelrasselnd, sporenklirrend schritten die Herren über den hallenden Kasernenhof zum Kasino hinüber.
An allen Fenstern der endlosen Fronten wurden neugierige Köpfe sichtbar — an allen Waschtrögen standen Gruppen von Soldaten in Feldmützen und Drillichzeug, die nun ihre Arbeit unterbrachen und, Bürsten und Monturstücke in der Hand, zur vorgeschriebenen Haltung erstarrten, bis die Gruppe der Offiziere an ihnen vorüber war.
[S. 40]
Und als nun die ersten der Herren die Stiegen der Treppe zum Kasino betraten, da scholl von drinnen der schmetternde Klang der Regimentsmusik, die den Einzugsmarsch der Gäste aus Tannhäuser den einrückenden Kameraden entgegensandte.
Nach wenigen Minuten, die man harrend und plaudernd im Rauchzimmer zugebracht, erschien der Kasinovorstand Oberleutnant Menshausen und bat die Herren zu Tisch.
In breiten Güssen fiel die langsam sinkende Nachmittagssonne durch die hohen Fenster des Speisesaales über die hufeisenförmig aufgestellten Tische, auf denen heute zur Feier des Tages der reiche Silberschmuck des Regiments blinkte, umgeben von einer wahren Überlast bunter Herbstblumensträuße, die dem Garten des Kasinos entstammten — und um die Tafel gruppiert etwa vierzig blühende Jugendgestalten — von dem Kommandeur des ersten Bataillons, Major von Sassenbach, der als einziger Stabsoffizier an der Tafel teilnahm, bis herunter zum blutjungen Fahnenjunker, der kaum der Presse entschlüpft war und sich im Rock des Füsiliers und angesichts so vieler Vorgesetzter kaum zu rühren — kaum den Mund aufzutun getraute.
Allen diesen Erscheinungen gemeinsam war der vorschriftsmäßige Schnitt des Haars, soweit sich dies nicht schon verflüchtigt hatte und spiegelnde Stirnen oder Glatzen freiließ — war gemeinsam der modische Bürstenschnitt des Schnurrbarts, gemeinsam die straffe Haltung, die lebhaften und doch gemessenen Bewegungen, der scharfe Klang der Stimmen, die gewohnt waren, im Gelände weite Entfernungen zu beherrschen oder sich durch das Rollen des Schnellfeuers hindurch Geltung zu verschaffen.
[S. 41]
Auf den ersten Blick aber waren die Herren des Beurlaubtenstandes an der bleichern Hautfarbe, der etwas nachlässigern oder steifern Haltung, dem mehr ins Geistige gewandten Ausdruck der Gesichter und Augen zu unterscheiden. Doch das alles würde sich nun bald verwischen — waren doch diese sechs Männer nur hierhergekommen, um wieder Soldaten zu werden, um sich wieder einzufügen in den gewaltigen Organismus, in dem auch sie nichts als dienende Räder sein sollten und sein wollten.
Diese Einfügung und diese Anpassung, so sagte Flamberg sich stillsinnend, diese Verschmelzung würde ihnen der Geist der Kameradschaft erleichtern. Der Geist der Kameradschaft, der alle, denen Seine Majestät Epaulettes und Schärpe verliehen hatte, zu einer großen Schar von Verbrüderten zusammenschloß, in der ungeachtet aller Abstufungen der Begabung und militärischen Befähigung, ungeachtet aller Klüfte der Herkunft und der Anschauungen, jeder gleichberechtigt war, in der es keine andern Unterschiede gab, als die der Dienststellung — und auch diese Unterschiede galten nur im Dienst — außerhalb des Dienstes gab es nicht Vorgesetzte, nicht Untergebene — gab es nur ältere und jüngere Kameraden — gab es nicht aktive Offiziere und nicht Offiziere des Beurlaubtenstandes — gab es nur Offiziere, das heißt: Träger des einen preußischen Soldatengeistes, der inmitten aller Wandlungen der Weltanschauung und der sittlichen Begriffe das alte Ideal der Ritterlichkeit verkörperte, das die Heere des Großen Kurfürsten, des Alten Fritzen, das Heer der Befreiungskämpfer, wie die Scharen Wilhelms des Siegreichen durch Nacht zum Licht, durch Kampf zum Siege geführt hatte.
[S. 42]
Und dieser Geist der Kameradschaft, so ernst er sich betätigte im Dienst und in dem, was dem Dienste gleich galt: in der Auffassung jeder großen Lebenspflicht — in der Sphäre der Geselligkeit erwies er sich als ein heiterer Geist, ein Geist freudiger Lebenslust.
Munter schwirrten die Gespräche hinüber und herüber — noch war kaum der erste Gang serviert, da traten an die Stelle der hellgrünen Moselflaschen die goldbekapselten der Sektspezialmarke des Kasinos. Munter knallten die Pfropfen — und in den Spitzgläsern perlte der weiße Schaum: »Luxus und Wohlleben griffen um sich.«
Major von Sassenbach schlug ans Glas. Er war kein großer Redner vor dem Herrn — es fiel ihm schwer, selbst nur ein paar formelhafte Begrüßungsworte zusammenzustottern, und sein Adjutant, der Leutnant Blowitz, den er mit diesem ausdrücklichen Auftrage sich gegenüber gesetzt hatte, mußte ihm soufflieren.
Aber aus den ungefügen Worten des alten Soldaten leuchtete herzliches Wohlwollen, und obwohl manches Lächeln der Hörer seine gewaltigen Kraftanstrengungen begleitete, klang doch das dreifache Hurra auf die eingezogenen Herren, in das er seine Rede ausmünden ließ, kräftig und munter durch den Saal. — Die Begrüßten beeilten sich, mit dem Major anzustoßen, und nun die letzte offizielle Handlung des Begrüßungstages überstanden war, atmete alles auf, und es löste sich der letzte Rest von Förmlichkeit und Zurückhaltung.
Kreuz und quer durch den Saal schollen die Rufe der Tafelnden, die einander zutranken. Mit vorschriftsmäßigem Ruck schnellten die Angerufenen in die Höhe, wenn der[S. 43] Major oder einer der anwesenden Hauptleute einem der Leutnants oder gar der zur Tafel zugezogenen Vizefeldwebel der Reserve, Fähnriche oder Fahnenjunker zutrank; aber regelmäßig winkte der Anrufende, Platz zu behalten — nur die Pflicht blieb bestehen, als Dank für den Zutrunk des Vorgesetzten sein Glas bis auf die Nagelprobe zu leeren.
Flamberg saß zwischen seinem Kapitän, dem semmelblonden Herrn von Brandeis, und dem flaumbärtigen Kompagniekameraden, Leutnant Carstanjen, dem Sohn einer reichen niederrheinischen Fabrikantenfamilie.
Zunächst mußte natürlich Flamberg erzählen.
»Na, Flamberg, Sie sind ja inzwischen sowas wie'n berühmtes Tier geworden — alle Augenblicke hat man im Lesezimmer in den illustrierten Zeitschriften irgend so'ne Pinselei von Ihnen abgebildet gesehen — natürlich immer die schönsten Weiber des europäischen Kontinents — Sie Schlemmer, Sie ...«
»Haben Herr Hauptmann etwas anderes von mir erwartet?«
»Ne, ne — ich weiß wohl, Sie hatten ja damals schon 'nen starken Hang fürs ewig Weibliche! Erinnern Sie sich noch, wie wir damals in Mechernich in der Eifel mit der ganzen Kompagnie in der schauderhaften Kneipe einquartiert wurden und für Sie und für — na, wer war's doch damals? Quincke wohl ...?«
»Jawohl, ganz recht, Quincke, Herr Hauptmann!«
»Na also — für Sie beide nur dadurch Quartier zu schaffen war, daß die beiden Töchter des Wirts aus ihrem Jungfernstübchen 'rausgewiesen wurden und oben auf dem Heuboden kampieren mußten. Damals haben Sie die beiden[S. 44] Mädels gezeichnet. Erinnern Sie sich noch? Na, nachher waren sie nicht von Ihnen wegzuschlagen — alle beide — was? Ja, an sowas läßt man sich natürlich nicht gern erinnern, wenn man inzwischen Bräutigam geworden ist!«
»Oh, was das anbetrifft, Herr Hauptmann: das Wort ›bereuen‹ kommt in meinem Lexikon nicht vor.«
Der kleine Carstanjen spitzte die Ohren und rief dazwischen: »Donnerwetter, Herr Hauptmann, das scheint ja 'ne verflucht interessante Geschichte gewesen zu sein! Wollen Herr Hauptmann die nicht etwas ausführlicher erzählen?«
»Knöpfen Sie sich die Ohren zu, Sie Kiekindiewelt,« antwortete Brandeis, »sind noch viel zu klein für — für solche Geschichten!«
»Herr Hauptmann unterschätzen mich!« lachte Carstanjen.
Brandeis fragte seinen Gast: »Wissen Sie auch schon, daß wir nächstens im Kasino ein feenhaftes Zauberfest in Aussicht haben?«
Flamberg erbat genauere Auskunft, und der Hauptmann berichtete: »Also am 18. August feiert doch das Regiment die siebenunddreißigste Wiederkehr des Tages von Gravelotte ... Na, das wissen Sie doch aus der Regimentsgeschichte?!«
»Ei gewiß: Sturm auf Point du jour, 118 Tote, 326 Verwundete! 2 Eiserne Kreuze erster und 18 zweiter Klasse ins Regiment!«
»Alle Achtung!« meinte Carstanjen, »so hab ich's ja nicht mal am Schnürchen!«
»Eh ... wie oft hab ich das schon meinen Kerlen in der Instruktionsstunde eingebläut ... da werd ich's doch selber[S. 45] nicht vergessen haben! — So ... und das wird also diesmal in großem Stile gefeiert?«
»Ja,« erklärte Brandeis, »Sie wissen: der neue Kommandeur ist erst vor vierzehn Tagen angekommen, und so soll das alljährliche Regimentsfest diesmal zugleich als Begrüßung für die neue Kommandeuse im Kreise der Damen gefeiert werden ... es gibt 'ne große Gartenfête im Kasino — Diner — Theatervorstellung — zuletzt natürlich Tanz!«
»Theatervorstellung?« fragte Flamberg interessiert. »Nanu ... das kann ja interessant werden ... was gibt's denn?«
»Bei der zweiten Kompagnie steht ein einjährig-freiwilliger Unteroffizier, ein Referendar seines Zeichens, zugleich in seinen zahlreichen Mußestunden Reiter auf dem Musenklepper ... den hat Frau von Sassenbach — die ist nämlich Patroneß der Veranstaltung — 'rangebändigt und zum Dichten kommandiert. Er hat sowas wie 'n allegorisches Festspiel verübt ... ihre beiden Töchter spielen natürlich mit; das war wohl auch der Hauptzweck der Übung, die zwei Mädels mal wieder gehörig in Szene zu setzen — übrigens meine Frau wirkt auch mit —«
»Herr Hauptmann sind verheiratet? ... das erste, was ich höre ... seit wann denn, wenn ich fragen darf?«
»Seit eineinhalb Jahren!« sagte der Hauptmann, »übrigens eine Landsmännin von Ihnen, ein Fräulein Cäcilie Imhof ... na — der Name wird Ihnen ja nicht unbekannt sein!« —
Cäcilie Imhof ... Bei diesem Namen stieg in Martin Flamberg eine Erinnerung auf, die Erinnerung an ein braunes, kapriziöses Mädchenköpfchen, das durch seine[S. 46] Jugend hingehuscht war wie so viele andere, ohne just eine dauernde Spur in seiner Seele zu hinterlassen ... Immerhin war seine Erinnerung lebhaft genug, daß ihn die Vorstellung, dieses Gesichtchen neben dem platt-behaglichen Puppenkopf des Hauptmanns von Brandeis auftauchen zu sehen, mit seltsamen Empfindungen erfüllte ...
In Gesellschaft hatte der junge Maler, damals noch ein völlig Namenloser, zuweilen das junge Mädchen getroffen und war von ihr ganz und gar nicht beachtet worden ... das war kein Wunder; denn sie war ein gefeiertes und damals schon, in ihrer zartesten Backfischjugend, vielumworbenes Geschöpfchen ... die Tochter einer alten Familie reicher Bankiers und Industrieller ... und er, Martin Flamberg, mußte sich damals noch zu jeder Gesellschaft für zwei Mark fünfzig einen Frack ausleihen ...
In den Tagen seines jungen Ruhms war er ihr nicht mehr begegnet.
Ihr Vater hatte sich von den Geschäften zurückgezogen und war nach Wiesbaden übergesiedelt, um den heilkräftigen Quellen nahe zu sein, deren beständige Einwirkung seine Gicht verlangte ... und nun war das verwöhnte Kind die Gattin eines braven, unbedeutenden Infanteriekapitäns ... merkwürdig ...
»Na? entsinnen Sie sich meiner Frau noch?« fragte Herr von Brandeis.
»Herr Hauptmann sehen, ich versuche mich zu besinnen, aber ich finde nur eine sehr blasse Reminiszenz.«
»Na, is ja auch egal,« meinte der Hauptmann, »Sie werden ja nächstens Ihre Erinnerungen auffrischen können; denn selbstverständlich hoffe ich doch, Sie recht bald in[S. 47] meinem Hause zu sehen ... meine Frau wird sich jedenfalls sehr freuen ...«
Flamberg verneigte sich.
»Na, und nun erzählen Sie mal von sich ... Sie haben sich ja inzwischen auch verankert ... hoffentlich recht vorsichtig gewesen in der Wahl Ihres Herrn Schwiegerpapas?«
»Mein Schwiegervater ist Beamter!« sagte Flamberg, »übrigens, ich bin, Gott sei Dank, seit einiger Zeit auf besondere Vorsicht in dieser Beziehung nicht mehr angewiesen.«
»Aha ... na natürlich ... verdienen jetzt aasige Däuser .. das versteht sich ... Porträtmaler — Portemonnaiemaler — alte Geschichte! — Ja, sehen Sie, so gut geht's unsereinem nun nicht ... das ist noch das einzig Schöne an unserm Beruf, daß es uns kein Mensch übelnehmen kann, wenn wir unserer Zukünftigen nicht nur in die Augen, sondern auch ein bißchen ins Portemonnaie sehen ... Na, und in der Beziehung kann ich ja nicht klagen, wie Sie sich denken können ... übrigens auch in anderer Hinsicht hab ich direkt märchenhaften Dusel gehabt ... meine Frau heißt nicht umsonst Cäcilie ... die sollen Sie mal Klavier spielen hören — und singen ... Na, ich sag Ihnen ja: Den Seinen gibt's der Herr im Schlaf!«
Er füllte sich und dem Gaste die Sektkelche und hob ihm das Glas entgegen. »Na also in diesem Sinne, lieber Flamberg: unsere Damen! — So ... Sie wollen auch mittrinken, kleiner Carstanjen ... ach Unsinn ... verstehen Sie ja noch gar nichts von ... aber mit anstoßen dürfen Sie doch ... Kommen Sie mal her mit Ihrem Pokal!«
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»Ich kann nur noch einmal wiederholen: Herr Hauptmann unterschätzen mich!« schmunzelte Carstanjen mit spitzbübischem Lächeln auf seinem verwöhnten Geckengesichtchen.
»Sie, Flamberg,« sagte der Hauptmann, »ich hoffe, Sie werden mich bei der Erziehung dieses kleinen Windhundes da ein wenig unterstützen — das ist auch einer von denen, mit denen 's der Herrgott gar zu gut gemeint hat — und das ist ihm zu Kopf gestiegen — wenn er also üppig wird, dann hauchen Sie ihn nur gehörig an — meinen Segen haben Sie — und einen Gotteslohn verdienen Sie sich überdies!«
»Na, wir zwei werden uns schon vertragen! — Was meinen Sie, Herr Carstanjen?«
Das herzliche, offene Lachen, mit dem der Reserveoffizier dem jungen, aktiven Kameraden das Glas entgegenhielt, verscheuchte den Ausdruck von anmaßender Gekränktheit, der das hübsche, eitle Gesicht überhuscht hatte. Und so leerte die Königliche Erste eine Flasche Spezialmarke nach der andern in ungestörter Harmonie.
Weniger heiter sah es in der Gruppe der Königlichen Zweiten aus:
Herr Leutnant der Landwehr Frobenius saß stumm und einsilbig zwischen dem stummen und einsilbigen Kompagniechef, dem Hauptmann Goll, und dem Oberleutnant Menshausen, dem Kasinovorstand, während ihnen gegenüber als dritter Offizier der Kompagnie der Leutnant Quincke saß, ein junger, blasierter Bursch mit glattrasiertem Gesicht — verlebten Zügen — die Scherbe ins rechte Auge geklemmt. Menshausen und Quincke nahmen von dem Kameraden der Landwehr kaum Notiz — unterhielten sich über den Tisch[S. 49] hinüber geflissentlich über Personen und Fragen, an denen der eingezogene Herr nicht das geringste Interesse nehmen konnte.
Und der Hauptmann, ein finsterer Junggesell mit starrem, schwarzem Haar und struppigem Schnurr- und Vollbart, sprach überhaupt nichts, füllte nur zuweilen die Gläser seiner Untergebenen und trank dem Gaste schweigend zu.
Als Frobenius erst gemerkt hatte, daß man ihn schlecht behandeln wolle, tat er instinktiv das einzige, was in dieser Situation für ihn möglich war — er schwieg nämlich ebenfalls vollständig und machte nicht den leisesten Versuch, die Zurückhaltung der aktiven Herren durch entgegenkommende Liebenswürdigkeit zu überwinden.
Schließlich bemerkte der Oberleutnant, daß die rücksichtslose Nichtachtung, mit der die aktiven Herren den Gast behandelten, dessen Hilflosigkeit immerhin ein gewisses Mitleid erregte, allgemein auffiel, und ließ sich nunmehr herab, ein Gespräch mit ihm zu beginnen.
»Sagen Sie mal, Herr Leutnant Frobenius,« hub er an, »was sind denn Sie eigentlich im Zivilverhältnis?«
»Ich bin Privatdozent an der Universität Bonn.«
»Hm — was dozieren Sie denn also privat?«
»Ich lese deutsche Literaturgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts bis zur Gegenwart.«
»Aha,« sagte Menshausen, »ich kann mir zwar dabei nichts Rechtes denken — aber es ist ja jedenfalls was sehr Gelehrtes! Nun sagen Sie mal, was wollen Sie denn nun eigentlich bei uns? Macht Ihnen das denn wirklich Vergnügen, hier so acht Wochen lang in Uniformen von vor fünfzehn Jahren herumzulaufen und sich mit Ihrer Unkenntnis[S. 50] des neuen Exerzierreglements vor hundertzwanzig Bauernlümmels und Fabrikarbeitern lächerlich zu machen?«
Frobenius richtete sich ein wenig auf: »Herr Oberleutnant Menshausen — ich bin mir wohl bewußt, daß ich hierherkomme, um zu lernen — ich habe aber auf der andern Seite während meiner früheren Übungen die Beobachtung gemacht, daß Bauernjungens und Fabrikarbeiter ein ziemlich feines Gefühl dafür haben, wer vor ihnen steht, — und hinter der vielleicht etwas veralteten Uniform und der mangelhaften Dienstkenntnis des Landwehroffiziers die überlegene Intelligenz respektieren, die ihnen in der Person eines Mannes der Wissenschaft gegenübertritt. Diese einfachen Leute wissen sehr wohl zu unterscheiden zwischen der formgewandten Nullität und dem Geist, der sich im Notfall — daß heißt im Falle der wirklichen Not, meine ich — von selbst die Form schafft, die der Augenblick verlangt.«
»Ja, verzeihen Sie, Herr Leutnant Frobenius,« sagte der Oberleutnant, »Sie drücken sich so gewählt aus, daß ich nicht zu folgen vermag — was wollen Sie eigentlich mit Ihrem Erguß sagen?«
»Ich will versuchen, mich Ihnen deutlich zu machen«, erklärte Frobenius. »Wir Landwehroffiziere sind, das erkenne ich ja an, im Frieden scheinbar ein wenig deplaciert inmitten der jungen, dienstkundigen aktiven Herren — aber wir sind auch gar nicht hier, um in Ihrer Mitte gute Figur zu machen — wir wollen lernen — lernen einzig und allein für den Krieg — und glauben Sie mir, Herr Oberleutnant, im Kriege kommt es weder auf gutsitzende Uniform noch auf die Kenntnis jeder neuesten Phase der Taktik der Saison an — da entscheiden ganz andere Faktoren. Da möchte[S. 51] vielleicht plötzlich mit dem Mobilmachungstage eine Umwertung der Werte stattfinden, und diesem Tage entgegen bewegt sich alle Hoffnung, die ich mit meinem Aufenthalt im Kreise des Regiments Prinz Heinrich der Niederlande verbinde.«
»Ah so,« sagte Menshausen, »ich verstehe — Sie haben militärischen Ehrgeiz — wollen womöglich noch gar Hauptmann der Landwehr werden?«
»Allerdings will ich das,« erwiderte Frobenius ruhig, »zurzeit übe ich auf Beförderung zum Oberleutnant.«
»Allen Respekt!« meinte Menshausen, »das hätt ich Ihnen nun nicht angesehen — können Sie denn auch reiten?«
»Gewiß kann ich reiten,« erklärte der Privatdozent. »Ich meine, das versteht sich wohl von selber, da ich Ihnen sagte, daß ich die Beförderungsübung zum Oberleutnant mache.«
Aber er konnte nicht wehren, daß ihm bei der Erwähnung des Reitens selber ein wenig bänglich zumute wurde. Er hatte erst im Frühjahr mit Zittern und Zagen zum ersten Male einen Gaul bestiegen, war beim ersten Antraben vom Woilach heruntergekugelt wie eine Klammer von der Wäscheleine und hatte sich das Schultergelenk dermaßen ausgerenkt, daß er den linken Arm drei Wochen lang hatte in der Binde tragen müssen. Nach Ablauf dieser drei Wochen hatte er mit noch hörbarerm Zähneklappern den Reitunterricht wieder aufgenommen, und seine Scheu vor dem wilden, gefährlichen Tier, das dem Menschen nach dem Leben trachtet, endlich soweit überwunden, daß er mit der Zeit in der Reitbahn sich wenigstens auf den allerfrömmsten Kleppern hatte halten können. Ja, in den letzten Wochen[S. 52] vor der Übung hatte er sogar in Gesellschaft des Reitlehrers und einiger Damen der Bonner Gesellschaft einige Ausritte ins Gelände unternommen und war stets mit heiler Haut davongekommen, mit Ausnahme einer unangenehmen Begegnung, die er mit einem vorüberbrausenden Eisenbahnzuge gehabt hatte, und nach deren Verlauf er sich mit zerschundenem Gesicht, zerbeultem Hut und zerschlagenen Knochen in einem Chausseegraben wiedergefunden hatte, während seine Rosinante ohne seine Leitung ihre Futterstelle wiedergefunden hatte.
Der Gedanke also, demnächst hoch zu Roß vor der Front auftauchen zu müssen, erfüllte ihn mit einem Unbehagen, das zu überwinden er seines ganzen Mannesmuts bedurfte. Wenn aber etwas noch gefehlt hätte, um ihn in dieser Hinsicht zu äußerster Energie aufzustacheln, dann waren es die spöttischen Blicke und Redensarten des Kasinovorstandes.
Er beschloß in diesem Augenblick, allen Gefahren kühnlich zu trotzen und zu Pferde zu steigen mit der ruhigen Selbstverständlichkeit, mit der er sonst alle Morgen auf seinen Katheder kletterte, um seinen Hörern die Geheimnisse des zweiten Teils von Goethes Faust zu erklären.
Oberleutnant Menshausen bemerkte mit Vergnügen, daß der Landwehronkel bei der Erwähnung des Reitens, trotz seiner heroischen Worte, still und um einige Schattierungen blässer geworden war. Über den Kameraden hinweg fragte er den Hauptmann Goll: »Gestatten Herr Hauptmann eine Frage: Ist nicht morgen früh Ausbildung der Mannschaften im Entfernungsschätzen?«
»Allerdings!« grunzte Hauptmann Goll, »was gibt's denn dabei?«
[S. 53]
»Ich wollte Herrn Hauptmann nur fragen, ob uns nicht gestattet wäre, die Übung zu Pferde mitzumachen — wie ich soeben von Herrn Leutnant Frobenius höre, legt er ebenfalls Wert darauf, morgen früh zu reiten, und da ich für meine Person im Manöver als Ordonnanzoffizier zum Regiment komme und meinen neuen Gaul gern ein wenig an die Truppe gewöhnen möchte, so würde ich Herrn Hauptmann dankbar sein, wenn Herr Hauptmann uns gestatten wollten zu reiten!? — Meines Wissens reiten Sie ja auch momentan dem Obersten sein Handpferd zu, Quincke, nicht wahr?«
Leutnant Quincke hatte der Unterhaltung zugehört und bejahte mit perfidem Grinsen: »Gewiß — wenn Herr Hauptmann gestatten, komm auch ich hoch zu Roß!«
»Na schön,« sagte Goll, »ich hab nichts dagegen!«
Frobenius fühlte bei dieser Unterhaltung, wie die wenigen Haare, die seinen Schädel umsäumten, sich einzeln zu Berge sträubten. — Herr Gott im Himmel — schon morgen früh! — Was war da zu machen — Schicksal, nimm deinen Lauf!
»Wo wollen Sie denn Ihren Gaul herbekommen, Herr Frobenius?« fragte Menshausen unbarmherzig weiter, »haben Sie sich einen mitgebracht oder wollen Sie sich einen leihen?«
»Ich habe mich nach den Verhältnissen noch nicht erkundigt,« erklärte Frobenius, »ich denke, man bekommt in der Reitbahn passende Gäule geliehen, wie?«
»Selbstverständlich,« sagte der Oberleutnant, »wenn's Ihnen recht ist, stelle ich Ihnen meinen Burschen zur Verfügung — der kann ja morgen früh vor dem Dienst zur Reitbahn gehen und Ihnen ein Pferd besorgen.«
[S. 54]
Frobenius ahnte Böses; doch er hatte sich nun einmal vorgenommen, jeder Gefahr die Stirn zu bieten, und so nahm er mit verbindlichem Lächeln das Anerbieten des Oberleutnants an.
Als im nächsten Augenblick Hauptmann Goll wieder einmal wortlos dem Landwehroffizier zutrank, beugte sich Menshausen zu Quincke hinüber und flüsterte ihm zu: »Sie, Quincke, ich werde meinen Burschen instruieren, daß er »Kuno den Schrecklichen« besorgt! — Kennen Sie den Schinder?«
»Na ob!« grinste Quincke, »das ist ja das verrittenste Pferd in der ganzen Garnison. — Na, wenn der Landwehronkel auf Kuno überhaupt aus dem Kasernenhof 'rauskommt, dann garantier ich jedenfalls: 'rein kommt er nicht wieder!«
In diesem Augenblick hob Major von Sassenbach die Tafel auf, und alsbald empfahlen sich die Vizefeldwebel der Reserve und die Avantageure, indem sie in die Mitte des Hufeisens traten und erst vor dem Tischältesten Front machten, dann nach rechts und links desgleichen; dabei schlugen die Hacken zusammen, daß es nur so krachte.
Und nun schwirrten die Ordonnanzen von allen Seiten mit den brennenden Lichtern herein, und das gelbe Flimmern der flackernden Flämmchen vermählte sich mit dem dunklern Gelbgold der Abendsonne, die gebrochen durch die leise sich wiegenden Kronen der Bäume des Kasinogartens in die hohen Bogenfenster strahlte. Bald kräuselten sich bläuliche Tabakwölkchen hinein — und noch ungezwungener rauschte nun das Geplauder, noch lebhafter wogte das Hinüber und Herüber der Scherze — des Zutrunks — und bald war den[S. 55] Offizieren der Reserve wieder zumute, als seien die Monate und Jahre »im schlichten Gewande der Bürgerlichkeit«, die seit dem letzten Abschiedstrunk im Kasino verflossen waren, nur ein Traum gewesen, und als sei dies Leben im bunten Rock ihre eigentliche Existenz — als sei die Schar der Kameraden, in deren Mitte sie nun wieder eingetreten waren, das Milieu ihres Lebens.
Sie waren riesig vergnügt, die Herren des Beurlaubtenstandes. Der geschniegelte und pomadisierte Leutnant der Reserve Klocke schwamm in Seligkeit. Herr Kamerad hier, Herr Kamerad dort, so schmetterte das nach allen Richtungen hinüber und herüber — als trüge er eine Sprungfeder im Leibe, so schnellte er jedesmal empor, wenn ein Vorgesetzter ihm zutrank, und leerte mit Begeisterung seinen Kelch, nur daß im Laufe der Zeit seine Augen immer stierer, sein Gesicht immer röter, seine Bewegungen immer unsicherer und die Scherze, die er zum besten gab, immer gewagter wurden und je länger je mehr nach dem Coupé dritter Klasse schmeckten.
Ihm schräg gegenüber saß im Kreise seiner zukünftigen Kompagniekameraden der Referendar Dormagen. Als Sohn eines rasch reichgewordenen Industriellen hatte er heute das Gefühl, daß es eigentlich ein Skandal sei, daß er nicht Kavallerist geworden. Aber vor sechs Jahren, als er einjährig diente, hatte sein Vater noch nicht den großen Schlag mit dem neuerfundenen Trockenelement gemacht, und erst in den letzten Jahren — leider — waren die Verhältnisse seiner Familie so plötzlich emporgeschnellt. Nun blieb nichts übrig, als in der Mitte der Fußinfanteristen wenigstens nach Kräften mit seinem Gelde zu imponieren. So ließ er denn[S. 56] eine Flasche Pommery nach der andern anfahren, und allmählich sammelte sich um ihn eine Gruppe von jüngern Offizieren, die, mit nicht allzu reichlichem Zuschuß gesegnet, einen Freitrunk sich nicht gern entgehen lassen mochten. In ihrer Mitte markierte Dormagen nun den großmütigen Gastgeber, wogegen seine Gäste sich verpflichtet fühlten, andachtsvoll seinen Schwadronierereien zu lauschen und ihm eifrig zuzutrinken. Sein Kompagniechef hatte sich bereits unmittelbar nach Aufhebung der Tafel, peinlich berührt durch des jungen Herrn siegesgewisses Auftreten, an den mittlern Tisch des Hufeisens zurückgezogen, wo sich nun allmählich die ältern Herren bei Kaffee und Münchner Bier konzentrierten.
Inmitten dieser ältern Herren saß auch der Oberleutnant der Reserve Brassert, ein behäbiger Süddeutscher, und freute sich königlich, daß er der Pflicht entronnen war, den rüpelhaften Primanern die Geheimnisse des Äschylos zu erschließen. Er übte seit einem Dezennium nahezu Jahr um Jahr, teils weil es für ihn, den Beamten, dessen Gehalt während der Übung weiterlief, eine überaus billige Sommerfrische war, teils weil sein immer mehr anschwellendes Bäuchlein die scharfe Entfettungskur dieser acht Wochen sehr notwendig brauchte. Die Hauptleute waren seine Altersgenossen und überdies auch von gleichem Dienstalter wie er, und so fühlte er sich in ihrer Mitte behaglicher als zwischen den jungen Dächsen von Leutnants, deren Charge er teilte, die ihn aber zu peinlich an seine kaum verlassenen Primaner erinnerten.
Behaglich schmunzelnd und kräftig qualmend saß er inmitten der ältern Offiziere. Den Kragen seines Überrocks,[S. 57] der übrigens mit Rücksicht auf sein gewaltiges Doppelkinn ohnehin nicht mehr denn Fingersbreite hatte, trug er aufgeknöpft, ebenso wie die obersten vier Knöpfe seines Überrocks, und bedauerte nur im stillen, daß er den Rock nicht ganz ausziehen konnte, wie auf der heimatlichen Kegelbahn im Kreise seiner Kollegen.
An einzelnen Tischen waren indessen allmählich große Lücken entstanden — manche der Herren hatten sich erhoben, um sich ins Spielzimmer zum Skat zu setzen — manche hatten auch die unangenehme Pflicht, noch eine späte Instruktionsstunde abzuhalten.
Eine kompakte Gruppe hockte indessen noch um das Ende des linken Hufeisentisches zusammen, wo der Leutnant der Reserve und Forstassessor Troisdorf mit Leutnant von Finette zusammensaß. Die beiden Niederrheinländer sprachen seit zwei Stunden nur noch kölnisch-platt und erzählten einander die haarsträubendsten Anekdoten von Kölner Marktweibern und »Rheinkadetten«, den lungernden Lastträgern des kölnischen Rheinhafens. Von hier scholl immerzu schmetterndes Gelächter in den Saal hinein, so daß ab und zu einer oder der andere der Hauptleute herantrat und ein Weilchen zuhörte. Auf die Dauer war indessen eine solche Flut von mehr oder weniger unappetitlichen Scherzen nur für Leutnantsmägen erträglich.
Immer schneller, fast unbemerkt, entflohen den Zechenden und Plaudernden die Stunden.
Der Major von Sassenbach hatte seit längerer Zeit beobachtet, daß der hilflose Landwehroffizier, der mit seiner riesigen, goldenen Brille und seinem langen, braunroten Bart so gar nicht in die militärische Umgebung zu passen[S. 58] schien, das wehrlose Opfer der Scherze des Oberleutnants Menshausen und des Leutnants Quincke war. Sassenbach liebte die beiden Herren nicht — ihm, dem schlichten Haudegen, waren die kalten Spötter und Monokelträger zuwider — er rief zu der Gruppe hinüber: »Herr Leutnant Frobenius, wollen Sie mir das Vergnügen machen, noch eine Flasche mit mir zu trinken?«
Frobenius war seelenvergnügt — er fuhr diensteifrig in die Höhe, wobei er den hochlehnigen, gotischen Stuhl umwarf, und schob mit etwas unsicherm Gange zu seinem Bataillonskommandeur hinüber. — Bald waren beide in ein herzliches Geplauder vertieft.
»Aha,« schnarrte Menshausen zu Quincke hinüber, »sehn Sie woll — ein neuer Schwiegersohn ist auf der Bildfläche erschienen, der muß gleich festgenagelt werden — ja ja, man muß sich dazu halten. Nelly ist sechsundzwanzig und Molly neunzehn — und der Landwehrfritze macht 'nen kolossal heiratsfähigen Eindruck.«
Hauptmann von Brandeis hatte sich schon seit geraumer Zeit empfohlen. Die üblichen Scherze hatten den Aufbruch des jungen Ehemannes begleitet, und schmunzelnd hatte er quittiert.
Flamberg schlenderte von einer Gruppe zur andern — ließ sich bald hier, bald dort zu einem kurzen Geplauder nieder und sog die Stimmung der Stunde in sich hinein. — Mit Wonne verfolgte sein geschulter Blick das langentwöhnte Schauspiel, wie sich nun das rötlichgelbe Licht der Kerzen, das tiefe Goldbraun des Sonnenuntergangs, das hellere Gelb der elektrischen Kronleuchter von droben her, der bläuliche Tabaksdunst, der in breiten Schwaden über den Gruppen[S. 59] lagerte, mit dem Blau und Rot der Uniformen, den goldenen Reflexen auf den Monturknöpfen und der satten Sonnenfarbe der gebräunten Gesichter verwob. — In seinen Adern glühte der Sekt, schäumte die freudige Hoffnung auf acht Wochen eines neuen, verwandelten Lebens voll farbiger Eindrücke, voll harmlos heiterer Erlebnisse.
Aber als nun mit dem Fortschreiten des Gelages die Kehlen immer rauher wurden, die Luft immer dicker — da meinte er den Augenblick gekommen, sich dem Feste zu entziehen und ungetrübt das erschaute Bild heimzutragen.
Nach einer kurzen Wanderung durch die stillen Straßen des Kasernenviertels stand er in der engen Mietbude, deren schäbige, zerschlissene Trivialität so seltsam kontrastierte gegen den künstlerischen Reiz seiner verlassenen Junggesellenhäuslichkeit, kontrastierte auch gegen den süßen Hoffnungstraum von einem künftigen Daheim, den er seit Wochen mit seinem Schatz gesponnen.
Schwül war die Luft im Stübchen — er stieß die Fenster auf — und vom tiefschwarzen Himmel nieder flammten tausend freundliche Sterne. — Da mußte er von seinem Mädchen träumen — sie hatte ihm das Versprechen abgenommen, allabendlich zum Himmel aufzuschauen und heimwärts zu ihr zu denken — und er dachte heimwärts.
Eine große, tiefe Ruhe war in seiner Seele — ein Heimatbewußtsein — das traute Wissen, verankert zu sein im tiefsten Grunde des Erdenseins, in einem Herzen, das nichts als Liebe war für ihn.
[S. 60]
Um die fünfte Morgenstunde dämmerte Wilhelm Frobenius mit wüstem Kopf aus schwerem Traum empor. Es hatte erst sanft, dann recht energisch an die Tür geklopft — er fuhr auf, starrte in dem engen Gelaß umher, daß ihn umschloß, und konnte sich nicht enträtseln, wie er eigentlich in diese nüchterne, unbehagliche Umgebung geraten war.
Plötzlich fiel's ihm ein: ach, du lieber Himmel — du bist ja in der Garnison — und — o Schauder — gleich geht's zu Pferd!
»Herr Leu'nant — et is höchste Zeit für uffz'stehn!« mahnte von draußen eine ihm völlig fremde Stimme.
Das mußte der Bursche sein. Herrgott, wie der Schädel brummte.
Er fuhr mit den dünnen, haarigen Beinen aus der Decke hervor, fühlte sich geniert durch den ungewohnten Gedanken, nun im Nachthemde vor den fremden jungen Menschen hintreten zu sollen, zog erst Unterhosen und Strümpfe an und schlurrte dann zur Tür. Kaum hatte er sie geöffnet, da schoß mit energischem Ruck ein junger, rotblonder, sommersprossiger Gesell herein, die Feldmütze auf dem Kopf, die Drillichhose schon in den langschäftigen Stiefeln steckend. Er schlug krachend die Absätze zusammen und meldete: »Füselier Schmitz als Bursch bei de Herr Leu'nant kommediert!«
[S. 61]
»Schön, schön,« sagte Frobenius verlegen, »also Sie sind Schmitz, schön, schön. Was gibt's denn heute morgen?«
»Sechs Uhr fufzehn Abmarsch in't Jelände zur Ausbildung im Entfernungschätzen!«
»Ach ja — ganz richtig — also sehen Sie, da ist mein Koffer — den packen Sie mal zuerst aus.«
Und während der Bursche sich anstellig und geräuschlos anschickte, die Habseligkeiten seines neuen Herrn aus dem vorsintflutlichen Reisekoffer zu entwickeln, kühlte Wilhelm Frobenius sein schmerzendes Haupt — immer neue Schwämme drückte er über den Nacken aus, daß das Stübchen schwamm, aber der dumpfe Druck im Schädel wollte nicht weichen — und noch weniger der dumpfe Druck in der Herzgegend — vor seiner Phantasie aber stand das Bild des Augenblicks, wo er das wilde, gefährliche Tier besteigen würde, das dem Menschen nach dem Leben trachtet.
Herrgott, wie die funkelnagelneuen Reitstiefel drückten — wie der steife Lederbesatz der Reithose die Schenkel scheuerte — wie entsetzlich das war, durch die Stube zu schreiten mit den klirrenden Sporen, die sich immerfort ineinander verfingen!
Füsilier Schmitz waltete indessen geräuschlos seines Amtes. Er betreute seinen Herrn wie eine erfahrene Kinderwärterin ihren Säugling.
Als er seinen Herrn in den Waffenrock gesteckt hatte, verschwand er auf Zehenspitzen und kam nach wenigen Minuten mit dem Frühstückstablett zurück.
Himmel, aber dieser Kaffee! — Mit Wehmut gedachte Wilhelm Frobenius seiner sorgsamen Haushälterin daheim, die ihm denn doch einen ganz andern Morgentrunk kredenzte[S. 62] — und verzehrte knurrend die mit einem Übermaß von Margarine bestrichene Frühstückssemmel, während Füsilier Schmitz Helm, Feldglas, Säbel und Schützenpfeife zusammensuchte.
Zehn Minuten später schritt Frobenius an dem präsentierenden Posten vor dem Kasernenportal vorbei in den Hof hinein und sah schon von weitem die dunkle Masse der in Zugkolonne aufgestellten Königlichen Zweiten. Noch war kein anderer der Offiziere auf dem Platze, und als der Leutnant sich der Kompagnie näherte, kommandierte der Feldwebel mit dröhnender Stimme:
»Stillgestanden! — Richt' euch! — Augen gerade — aus! — Die Augen links! — — Kompagnie beim Antreten!« meldete er dann dem Offizier.
»Danke, danke!« sagte Frobenius und überlegte, was er nun zu tun hätte. Das dauerte ungefähr eine Minute, während deren der Feldwebel regungslos neben ihm stand und ebenso regungslos die Kompagnie mit Augen links.
Frobenius verfiel in tiefes Sinnen. Herr Gott, was machte man denn nun jetzt nur?
Der Feldwebel kam ihm zu Hilfe: »Gestatten Herr Leutnant, daß ich rühren lasse?«
»Bitte, bitte, selbstverständlich — lassen Sie nur rühren!«
»Augen gerade aus — rührt euch!«
In diesem Augenblick schollen vom Kasernentor her hallende Pferdehufe, und Hauptmann Goll kam auf seinem riesigen Rappen herangesprengt, gerade auf Frobenius zu.
Frobenius riß den Schleppsäbel in die Höhe und salutierte seinen Kompagniechef. Der hielt dicht vor ihm, sah ihn von oben bis unten an, staunend, fassungslos.
[S. 63]
»Na, Herr Leutnant, wollen Sie mir denn nicht freundlichst die Kompagnie melden?«
»Zu Befehl, Herr Hauptmann!« Er fuhr herum und schrie mit einer Stimme, als sei er von Mördern überfallen und wolle die Welt um Hilfe zusammenrufen: »Stillgestanden — Augen links!«
Hauptmann Goll sah seinen Untergebenen abermals von Kopf bis zu Füßen an: »Herr Leutnant, Sie scheinen sich mit dem neuen Exerzier-Reglement noch nicht sonderlich beschäftigt zu haben, aber auch Ihre alte Weisheit haben Sie scheinbar einigermaßen verschwitzt, sonst würden Sie wohl die Kompagnie zunächst ausgerichtet haben — und dann heißt das Kommando nach dem neuen Reglement: die Augen links! — Also, bitte, stecken Sie gefälligst die Nase ins Reglement, damit Sie sich nicht vor den Kerlen blamieren — danke Ihnen! — 'Morgen, zweite Kompagnie!«
»'Morgen, Herr Hauptmann!« scholl es aus hundertundzwanzig Kehlen zurück, daß die Kasernenwände bebten.
»Augen gerade — aus — rührt euch!«
Frobenius schielte zur Kompagnie hinüber — ein fröhliches Grinsen lag auf allen Gesichtern.
Ja, da war nichts zu machen — der Respekt war von vornherein zum Teufel.
Schon nahte ein neues Schrecknis: ein Füsilier, den Frobenius natürlich nicht kannte, führte einen großen, starkknochigen Goldfuchs mit weißer Stirnblässe und unruhig schielenden Augen heran, der immerfort heftig den Kopf in den Nacken warf und von Zeit zu Zeit mit der Hinterhand nervös zusammenfuhr.
»Pferd für Herrn Leutnant zur Stelle!« meldete er.
[S. 64]
Aha, dachte Frobenius, das ist der Bursche vom Oberleutnant Menshausen, dem muß ich jedenfalls ein Trinkgeld geben. Er suchte in seinem Portemonnaie, fand nur ein Zweimarkstück und drückte das dem Burschen in die Hand, obgleich er sich darüber klar war, daß das viel zu viel sei.
»Wollen Herr Leutnant gleich aufsitzen?«
»Jawohl!«
Der Bursche hielt den rechten Bügel, Frobenius trat an die linke Seite und hob das Bein, aber es gelang ihm nicht, den Steigbügel zu erreichen. Himmel, war das ein Elefant! Der Bursche mußte den Bügel länger schnallen, und nach einigen krampfhaften Anstrengungen saß Frobenius im Sattel. Im selben Augenblick stieg der Gaul hinten und vorne, und der Reiter schwankte hin und her — wie ein Wrack im Sturm.
Zwei Füsiliere sprangen auf Hauptmann Golls Befehl herzu und beruhigten die Bestie. Nun saß Frobenius steif aufgerichtet und wagte nicht, sich zu rühren, aus Furcht, der Gaul möchte wieder unruhig werden.
Leutnant Quincke kam und meldete sich beim Kapitän. Sein verkatertes Gesicht war fahl — mit einem unverschämten Grinsen begrüßte er den Reiter und stieß mit der Säbelscheide wie in harmlosem Scherz nach Kunos Flanken. Kuno machte einen mächtigen Satz zur Seite, und auf ein Haar hätte Frobenius das Gleichgewicht verloren.
»Donnerwetter — lassen Sie doch diese Scherze, Herr Quincke!«
»O, entschuldigen Sie, Herr Frobenius, wer konnte auch ahnen, daß der Schinder so nervös ist — liegt das an ihm oder an Ihnen?«
[S. 65]
Zwei andere Gäule wurden vorgeführt. Der eine gehörte dem Oberleutnant, der erst im letzten Augenblick heranschoß, sich hastig beim Kompagniechef meldete und wie der Blitz im Sattel saß; den andern, einen zierlichen Apfelschimmel, bestieg Quincke, leicht und elegant, und ließ ihn ein paar kurze Gänge machen. Das begeisterte Herrn Kuno, sich anzuschließen, und so wurde Frobenius unfreiwillig über den Kasernenhof spazieren getragen, bis Hauptmann Goll die Kompagnie formiert hatte.
»Bitte, Herr Leutnant Frobenius, reiten Sie bei mir! Die Herren Menshausen und Quincke nehmen die Queue.«
Mit Mühe gelang es Frobenius, sich an die Seite seines Kapitäns zu dirigieren. Die Spielleute traten an die Tête, und der Hauptmann kommandierte:
»Stillgestanden — das Gewehr — über! — Gruppenkolonne rechts — erster, zweiter, dritter Zug — Kompagnie — marsch!«
Die Spielleute schlugen an. — Beim ersten Klang der Instrumente machte Kuno einen fürchterlichen Satz nach links, raste wie toll in weitem Bogen um den Kasernenhof, beruhigte sich aber dann und setzte sich wieder neben das Pferd des Hauptmanns.
Die Füsiliere platzten vor Vergnügen.
»Kompagnie — halt!« schrie der Kapitän. »Wenn ihr unverschämten Lümmels euch noch einmal untersteht, beim Exerzieren die Fresse zu verziehen, so reit' ich euch gliederweise in den Dreck — verstanden!? — Kompagnie — marsch!«
Und dann mit vernichtendem Blick zu dem unglücklichen Reiter an seiner Seite: »Herr Leutnant, wenn Sie nicht[S. 66] reiten können, dann sagen Sie's gefälligst gleich! und ruinieren Sie mir hier nicht die Disziplin!«
»Verzeihen Herr Hauptmann, ich weiß selbst nicht, was das ist — ich glaube, man hat mir da eine ganz gefährliche Bestie geschickt — aber ich werde mich schon gewöhnen!«
Und so kam es auch. Kuno klebte ganz zufrieden an dem ruhig und sicher schreitenden Rappen des Kapitäns und schien sich in sein Schicksal und seinen Reiter ergeben zu haben.
Zum muntern Spiel der Trommeln und Pfeifen ging's nun durch die stillen Straßen hinaus. — Ab und an schoben sich droben an den Fenstern die Vorhänge auseinander, und verschlafene Gesichter schauten auf die ausrückende Schar — hier ein verdrießliches Matronenantlitz, von wirren, grauen Haarsträhnen überhangen, dort ein freundliches Mädchenköpfchen mit süß verträumten Wangen. — Im Morgensonnenschein blinkten die frisch geputzten Knopfreihen und Helmbeschläge, blinkten wie gleißende Schlangenschuppen die taktmäßig leise pendelnden Gewehrläufe. — Die Pferde wieherten lustig in die Dunstschwaden der Frühe hinaus, und Frobenius fing an, sich überaus behaglich zu fühlen — wäre Hauptmann Goll etwas gesprächiger gewesen, es hätte sehr lustig sein können — aber des Kapitäns Miene dräute Unheil — er würdigte seinen Gefährten keines Wortes.
Indessen schließlich — wer war Hauptmann Goll? — Irgendein gleichgültiger Fleck in der spätsommerlichen Morgennatur — ein flüchtiger Schatten auf dem Glück der Stunde — wie konnte so was Bedeutungsloses ihn, Wilhelm Frobenius, um die frische Wonne dieses lustigen Frühritts bringen?
[S. 67]
Ach, es war doch himmlisch, so auf einem feurigen Roß in die nebeldampfende Landschaft hinaus sich tragen zu lassen!
Allerhand literarische Erinnerungen fielen ihm ein — die Hohenstaufenkaiser auf der Fahrt über die Alpen — Goethes Besuche bei Friederike in Sesenheim:
Herrgott, daß man das bloß nicht früher gelernt hatte. — Ja, ja, da war die harte Jugend gewesen voll einsamen Schaffens, Grübelns und Sinnens im tabakdurchwölkten Studierkämmerchen — fern von den muntern Kommilitonen, die bei Becher und Schläger ihr Leben auskosteten.
Reiten! — Du lieber Himmel — dem Sohn des armen Volksschullehrers aus dem Westerwalddörfchen war das immer als ein Privileg der hoch droben hausenden Glückserkorenen erschienen.
Und nun war er, nicht fern den Vierzigen, doch noch auf den Klepper gekommen — das hatte sein Faustwerk, das hatten die zwanzig Auflagen seines Schiller-Volksbuches zum Jubiläum von 1905 zustande gebracht.
Ach ja — nun gehörte er selbst zu den Glückserkorenen. — Wie sagte doch das arabische Sprichwort:
Ha — zwei von diesen Dingen nannte er nun sein eigen — gesund an Leib und Seele — beim Himmel! das[S. 68] war er — und auf dem Rücken des Pferdes saß er nun ja Gott sei Dank auch.
Nun fehlte nur noch das Ruhen am Herzen des Weibes — ja, dazu würde jetzt allerdings allmählich Rat geschafft werden müssen, sonst dürfte Wilhelm Frobenius am Ende doch den Anschluß verfehlen.
Indessen — wenn er so viel erreicht hatte, wenn er zwei Drittel alles Erdenglücks bereits besaß — warum sollte sich nicht auch noch das letzte Drittel erringen lassen?
Wilhelm Frobenius meinte, noch niemals eine solche Stunde leichtsinniger Hoffnungswonne — eine solche Stunde Versinkens im Augenblick durchgekostet zu haben.
Immer höher reckte sich seine eingefallene Brust — immer kecker warf er die Nase empor, ließ er die Blicke zu den Fenstern der nun schon spärlicher den Weg einsäumenden Häuser emporschweifen — und als schließlich aus dem ersten Stockwerk eines einsamen Forsthauses am Waldrande gar ein Mädchen hervorlugte, das er mit seinen, durch die großen, goldgefaßten Brillengläser geschärften Augen für über die Maßen hübsch hielt, da warf er der Schönen im Überschwang der Stimmung eine heimliche Kußhand zu, schielte aber gleich darauf erschrocken zu Hauptmann Goll hinüber.
Doch der hatte zum Glück nichts gemerkt — verschlafen blinzelten seine stechenden Augen zwischen den Pferdeohren hindurch in den Staub der Landstraße — verständnislos für all die Herrlichkeiten der Morgenfrühe — verständnislos für das süße Lebensglück, das wie ein feuriger junger Wein durch die Adern seines Gefährten rieselte.
[S. 69]
»Na, Alter — wie wär's mit 'nem Galöppchen?«
Nelly von Sassenbach ritt zur Rechten ihres Vaters. Sie war heute morgen gar nicht mit ihrem Alten zufrieden — sonst waren er und sie immer für scharfes Tempo, und Molly, die um sieben Jahre jüngere Schwester, die sich auf dem Gaul weit weniger zu Hause fühlte, war immer wie zerschlagen, wenn sie vom gemeinsamen Ritt mit Vater und Schwester heimkam.
Aber heute war der Major nicht aus dem Schritt zu bringen — und auch jetzt brummte er auf die Zumutung seiner Ältesten zum Angaloppieren irgend etwas Unverständliches in die melancholisch niederhängenden Schnurrbartzipfel hinein, nahm gleichzeitig die Mütze ab und tupfte den Schweiß von der Stirn, obgleich die Spätsommersonne kaum die Frühnebel zu besiegen begann.
»Aha,« sagte Nelly, »du hast Kater, Alter, ich merk's schon — was war denn gestern los im Kasino?«
»Na, was wird los gewesen sein — die Herren von der Reserve und Landwehr wurden angefeiert — das war alles!«
»So,« sagte Nelly, »und deshalb war der Oberst zu Tisch gekommen?«
»Der Oberst — wieso — wie kommst du denn auf die Idee, Mädel?«
[S. 70]
»Aber Alter!« lachte Nelly verschmitzt, »ich hab doch gestern selbst gehört, wie du Mama erklärt hast, du kämest nicht zum Mittagessen, weil der Oberst im Kasino speise und dich zu Tisch eingeladen habe.«
»Ei verflucht —« knurrte der Major, »na also, daß ihr's wißt, Kinder — das war geschwindelt, weil ich sonst — hm, hm — schwerlich Urlaub bekommen hätte. Daß ihr mir aber reinen Mund haltet! — besonders du, Nesthäkchen!«
Die blonde Molly antwortete nicht, verzog den Mund in einer Manier, die der Vater gar zu gut kannte; denn sie war restlos von der Mutter auf die Tochter vererbt worden — nur daß es doch ein Unterschied war, ob die bewußte Falte rechts und links von einer Neunzehnjährigen oder einer Achtundvierzigjährigen Munde stand.
»Also wirklich — mit dem Galopp wird's heute nichts! — Na, dann erzähl uns wenigstens was von gestern.«
»Ja, was ist da viel zu erzählen — ist eben mal wieder 'ne Anzahl fragwürdiger Gestalten, als Leutnants und Oberleutnants verkleidet, auf der Bildfläche erschienen — haben sich mit uns betrunken und uns allerhand höchst gleichgültige Geschichten von den merkwürdigsten Zivilberufen erzählt.«
»Was sind's denn für Leute?« fragte Nelly unverdrossen weiter, »bekommen wir sie auch mal zu sehen?«
»Na, doch natürlich — sind ja noch im Regiment, wenn nächstens die große Fête vom Stapel läuft!«
»Erlaube mir, bei dieser Gelegenheit zu bemerken, lieber Papa,« warf Molly ein, »daß wir heute spätestens um halb elf zu Hause sein müssen; denn wir sind auf Punkt elf Uhr[S. 71] zu Frau von Brandeis gebeten, wo die erste Probe für das Festspiel stattfinden soll.«
»Wat is det?« grunzte der Vater, »Festspiel? — Hab ich ja noch gar nichts von gehört!«
»Wir haben angenommen, das interessierte dich nicht, lieber Papa,« meinte Molly spitz. Dann aber ließ sie sich doch herab, etwas genauere Angaben zu machen. Es würden also lebende Bilder gestellt werden, und zwar drei — dazu verbindender Text, dialogisch gesprochen von Frau von Brandeis, Schwester Nelly, ihr selbst und Herrn Leutnant Blowitz — den Text habe ein Einjähriger des Regiments verbrochen.
Das letztere war schließlich das einzige, was den Major ernstlich interessierte. Ein Einjähriger des Regiments — von welcher Kompagnie der denn sei und wie er heiße?
Das wußten die Mädchen nicht — sie hatten ihn noch nicht kennen gelernt.
»Gnade Gott, wenn er von meinem Bataillon ist — dem werd ich die Hammelbeine langziehen — jedenfalls werd ich ihn mir mal vorbinden und ermitteln, ob er auch im Exerzierreglement und in Dienstkenntnis auf der Höhe der Situation ist — wenn nicht, dann treib ich ihm das Dichten aus — aber gründlich!«
»Also die Reserveoffiziere kommen auch zum Regimentsfest?« fragte Nelly weiter, »das ist ja 'n wahrer Segen — dann bekommt man doch endlich mal 'n paar andere Gespräche zu hören, als ewig Avancement — Kommandos — Vorderleute — und den übrigen Kommißtratsch. Wenn man das, wie ich, bereits sieben Saisons hindurch genossen hat, dann lechzt man geradezu nach Abwechslung.«
[S. 72]
»Tja, Mädel,« knurrte der Major, »warum hast du nicht längst geheiratet?«
»Warum ich nicht geheiratet habe? — Na, Vater, ich meine, das müßtest du doch wissen!«
»Is ja wahrhaftig 'ne Schande,« brummte der Major, »Mädel wie 'ne Tanne — firm auf dem Gaul und in der Küche — Kommißvermögen dreidoppelt vorhanden, dank meiner seinerzeitigen Vorsicht in der Auswahl des Schwiegerpapas — mit einem Worte: alles da! — Und ihr Mädels bleibt liegen wie die trocknen Semmeln!«
»Na, an mir hat's doch wahrhaftig nicht gelegen,« schmollte Nelly.
»Ne, ich weiß schon — du kannst nichts dazu!« Der Major griff sich mit drei Fingern in den Rockkragen, als sei der zu eng geworden. »Du kannst nichts dazu!«
Molly rückte ungeduldig auf ihrem Sattel hin und her: »Möchtest du mir nicht den Gefallen tun, Papa, und in meiner Gegenwart von Mama nicht so respektlos sprechen — du weißt, das schmerzt mich.«
»Nanu — hab ja kein Wort gesagt!«
»O — ich hab dich sehr gut verstanden. Wenn Mama zuweilen etwas abwehrend gegenüber gewissen Herren gewesen ist, die sich um uns bemüht haben, so hat sie es jedenfalls sehr gut gemeint — und soweit ich's beurteilen kann, ist es immer zu unserm Glück gewesen, daß aus den Partien nichts geworden ist, die Mama abgelehnt hat.«
Nelly warf dem Vater einen verständnisvollen, der Schwester einen bitterbösen Blick zu.
Der Vater und seine Älteste wußten sich einig in dem Gedanken: der Freier, der Mama von Sassenbachs Beifall[S. 73] fände, der sollte noch geboren werden. Unter den jungen Leuten von heute hatte Mama von jeher fürchterliche Musterung gehalten — und keinen gerecht befunden.
Nelly hatte auch längst die Hoffnung aufgegeben, daß einer der Herren des Regiments Gnade vor Mamas Augen finden könnte. Sie hatte in ihren sechsundzwanzig Jahren und sieben durchtanzten Saisons gar manchen Flirt gehabt, und der eine oder andere war verflucht ernst geworden, aber im richtigen Augenblick war es Mama stets gelungen, den betreffenden Bewerber derart kopfscheu zu machen, daß er abschnappte.
Jedesmal, wenn ein Herr in entsprechenden Jahren, Hauptmann oder Oberleutnant, der noch zu haben war, von auswärts ins Regiment versetzt worden war, hatten der Vater und seine Älteste sich in geheimen Hoffnungen gewiegt, aber nie war's etwas geworden — und so exklusiv war der Verkehr des Regiments, daß Bewerber aus nicht militärischen Kreisen für eine ernsthafte Annäherung kaum in Frage kamen.
Molly, Mamas Ebenbild und getreue Schildhalterin, war bisher mit ihrem Schicksal vollkommen zufrieden geblieben — Nelly aber hatte sich allmählich in einen Zustand ständiger, latenter Empörung wider ihr Los hineingelebt.
Den unverbrauchten Energieüberschuß ihrer stählernen Leiblichkeit tobte sie in halsbrecherischen Ritten, stundenlangen Radpartien, endlosen Tennistournieren aus — ihre lebenshungrige Seele aber lag völlig brach.
Dies Gefühl der Inhaltslehre ihres Daseins preßte ihr oft in der Einsamkeit draußen — in schlummerlosen Nächten daheim — heiße, ächzende Tränengüsse ab.
[S. 74]
Sie war verstummt. Den Kopf in den Nacken zurückgeworfen, spornte sie ihren Gaul, hielt ihn aber fest an der Kandare, daß er schäumend und kopfschleudernd nach rechts und links aussprang, ohne vom Fleck zu können.
Trüben Blicks verfolgte der Major das Tun seines Lieblings. — Ja, ja — so lagen sie alle drei an der Kandare — der Gaul, das Mädel und er selber auch.
Das war nun achtundzwanzig Jahre her, seit der junge, leichtsinnige Leutnant sich durch die Heirat mit der Tochter eines reichgewordenen, baronisierten niederrheinischen Großindustriellen aus dem chronischen Dalles herausgeholfen hatte, dem auch er verfallen war, wie seine ganze altfeudale Familie ... aber für diese Rettung hatten seine achtundzwanzig Ehejahre ihm die Quittung präsentiert ... Ein reiches Mädel heiraten! — Soll's der Deubel holen — den Drachen bekommt man gratis!
Der Major zog die Uhr. Es fiel ihm ein, daß er sich auf Punkt neun Uhr am Wegekreuz mit seinem Adjutanten, dem Leutnant Blowitz, verabredet hatte, um sich dort von seinen Töchtern zu trennen und zur Inspektion der Morgenarbeit seines Bataillons nach dem Exerzierplatz hinüberzureiten.
»Ja, Kinder, nun wird uns doch nichts übrig bleiben, als ein kleines Träbchen zu riskieren, sonst geraten die Erste und die Zweite aneinander, ehe der Kommandeur zur Stelle ist!«
Und in der Tat — vom Exerzierplatz herüber klangen vereinzelte Schüsse, die bald lebhafter wurden: die beiden Kompagnieen, welche heute Gefechtsübung miteinander vereinbart hatten, mußten also bereits Fühlung gewonnen haben.
[S. 75]
Schweigend trabte der Major inmitten seiner Töchter die Chaussee entlang.
Die Sonne hatte sich inzwischen durchgekämpft ... das Bild der Landschaft entrollte sich in leuchtender Lieblichkeit ... zur Rechten die dunkeln Waldberge ... zur Linken die abgeernteten fahlgelben Ackerbreiten, die sich zum Tal herniedersenkten, wo längs des blinkenden Flußstreifs die Türme und qualmenden Schornsteine der Garnisonstadt aus fahlem Dunste stiegen, der noch drunten lagerte ... Geradeaus vor den Reitern zog sich die Chaussee in schnurgerader Linie einen Hügel hinan, hinter dem das Wegekreuz lag und weiterhin der Exerzierplatz sich dehnte ...
Jetzt schollen aus der Ferne rasche Hufschläge.
»Aha — hört ihr?« sagte der Major, »das muß Blowitz sein! Gewiß kommt er mir entgegen, um mich zur Eile anzuspornen, weil's dahinten schon losgeht!«
In diesem Augenblick tauchte ganz, ganz hinten, wo die Chausseebäume sich zu einem dunkeln Strich längs des gelben Wegstreifens zusammenschlossen, ein Reiter auf ... nein ... ein Reiter schien's nicht zu sein ... ein herrenloses Pferd, das in rasender Karriere den sanft sich senkenden Hang heruntertobte.
Aber nein ... der Sattel war ja nicht leer ... es sah aus, als baumele ein dunkler Sack auf dem Pferderücken hin und her ...
Nun auf einmal enthüllte sich das ganze Schrecknis ... der Gaul mußte durchgegangen sein und der Reiter die Herrschaft völlig verloren haben ...
Wahrhaftig! ... Ein Offizier! ...
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Der Säbel schlenkerte hoch in der Luft ... nun flog in weitem Bogen der Helm vom Kopfe des Reiters in den Chausseegraben, und verzweifelt umklammerte der Reiter den Hals des Pferdes ... immer näher heran raste die tolle Jagd ...
Ein Schrei war aus den Kehlen beider Mädchen erklungen, ein dumpfer Fluch kam aus den Zähnen des Majors, als den dreien der Vorgang klar geworden war. Während aber der Vater und die jüngste Tochter wie gelähmt auf das unbegreifliche Schauspiel starrten, warf Nelly plötzlich ihren Gaul herum und raste in der entgegengesetzten Richtung von dannen.
Der Major gaffte einen Augenblick verständnislos hinter seiner Ältesten drein ... Dann hatte er begriffen ... Nelly, die leidenschaftliche Reiterin, hatte den einzig richtigen Weg eingeschlagen ... Schon warf auch er den Gaul herum und galoppierte hinterdrein ...
In diesem Augenblick fegte schon der durchgegangene Gaul an ihm vorbei, und der Major erkannte in dem Reiter den Landwehronkel, mit dem er sich gestern abend so fabelhaft gebildet unterhalten ...
Mit wütendem Sporenhieb stachelte der Major sein Pferd, aber der Vorsprung, den der Durchgänger erlangt, schien nicht mehr einzuholen ...
Nun hatte der Flüchtling Nellys Pferd erreicht, und beide Tiere rasten in gleichem Tempo die Chaussee entlang ... immer mehr näherte sich das Mädchen dem Durchbrenner ... nun neigte sie sich im Reiten nach rechts hinüber und suchte die flatternden Zügel des rasenden Tieres zu fassen.
[S. 77]
»Nelly — Nelly!« schrie der Major.
Das konnte ja nun und nimmer gut gehen! ...
Doch jetzt hatte das Mädchen die Zügel gepackt ...
Im vollen Dahinstürmen riß sie drei-, viermal mit ganzer Kraft den Kopf des Gaules zu sich herüber ...
Das Tempo verlangsamte sich ... abermals riß das Mädchen den Kopf des Durchbrenners herum ... noch schossen beide Gäule dicht Seite an Seite vorwärts ... aber der Ansturm erlahmte ...
Nun stieg der Fuchs ein paarmal in die Höhe, machte noch einen vergeblichen Versuch, auszubrechen, stieg abermals ... und stand plötzlich wie angemauert, flankenzitternd, schnaubend, über und über mit flockigem Schaum und Schweiß bedeckt ...
Der Reiter hatte bei diesem letzten plötzlichen Halt den Zusammenhang mit seinem Gaul vollends verloren und war in den Graben gekugelt.
Als der Major herankam, hatte sein Mädchen den Flüchtling bereits vollständig in ihrer Gewalt und beruhigte ihn mit Klopfen und Zuspruch ...
»So ein Satan von Mädel!« keuchte Sassenbach, »hast du denn nichts mitbekommen?«
Er mochte wohl fragen! —
Als der Major die Zügel des Ausreißers ergriffen hatte, ließ Nelly den rechten Arm schlaff heruntersinken — ihr war's, als seien alle seine Sehnen wacklig geworden und baumelten schlapp herunter, wie die ausgezerrten Kugelgelenke einer Gliederpuppe ... mit leisem Stöhnen zog sie die Luft durch die Zähne ...
»Tut's weh?« fragte der Vater nochmals besorgt.
[S. 78]
»Haarsträubend!« gestand Nelly, »aber du siehst: aus dem Leim ist er noch nicht ... sehen wir also zunächst mal nach dem da im Graben! ...«
Frobenius war weich gefallen ... zu seinem Glücke war just neben dem Platz der Katastrophe ein Froschwässerlein im Chausseegraben, das hatte wie ein elastisches Kissen seinen Sturz aufgefangen ... die Frösche hatten dabei mehr Schaden genommen als ihr unfreiwilliger Gast ... Nun saß Frobenius mit der Rückseite seines Körpers in dem Tümpel, während die Beine noch auf dem Rande der Chaussee lagen. Er hatte sich aufgerichtet, und seine Arme standen hinter seinem Rücken in dem Wässerchen ... so sah er drein mit dem Unschuldsblick eines Kindes, das eben vom Himmel gefallen wäre ... seine Augen suchten, wie aus tiefem Traum erwachend, nach dem Urheber seines Unglücks ...
Auf einmal sah er neben dem keuchenden und schnaubenden Kuno den Oberkörper einer Dame ...
Eine Dame? ... wie kam denn die hierher? ... Das war doch nicht etwa gar ... nein ... das durfte nicht sein ... das wäre zu ungeheuerlich gewesen ...
Er, ein Mann ... und von einem jungen Mädel gerettet ... das wäre gar nicht wieder gut zu machen ...
Und — — Teufel ... kam da nicht eben gar sein Bataillonskommandeur herangesprengt, mit dem er sich gestern abend bei der letzten Flasche Sekt so glänzend unterhalten —?
Und der war sorglich um das junge Mädchen bemüht ... fragte nach ihrem Befinden — —
Ja ... gab's denn so was überhaupt? ... war eine solche Blamage denn überhaupt faßbar? ...
[S. 79]
Der Major nannte das junge Mädchen du ... sie sagte Vater zu ihm ...
Gerettet von der Tochter seines Bataillonskommandeurs! ...
Das war so ungeheuerlich ... so unwahrscheinlich — — daß es schon fast nicht mehr ernst zu nehmen war ...!
Und wie nun Wilhelm Frobenius an sich selber herunterschaute und sich rücklings in dem Froschtümpel sitzen sah, da verschwand jede Spur persönlicher Beschämung vor der reinen Freude an der haarsträubenden Komik der Situation ...
Als der Major sich überzeugt hatte, daß seine Tochter heil sei, und beide sich dem Opfer der Katastrophe zuwandten ... da saß dies Opfer in seinem Überzug von Schlamm und Algen ... und lachte ... lachte selig wie ein Kind, das einen fabelhaft gelungenen Streich ausgeführt hat und nun auf allgemeine Dankbarkeit Anspruch macht ...
Einen Augenblick waren die Retterin und ihr Vater völlig verblüfft ... dann aber stimmten auch sie erlöst und überwältigt ein in die erdentrückte Heiterkeit des langen Menschen im Froschpfuhl ...
»Donnerwetter! — Sie scheinen sich in Ihrem Tümpel da ja ganz behaglich zu fühlen! — Wie lange wollen Sie denn da eigentlich noch sitzen bleiben?«
Und die junge Dame fragte: »Soll ich vom Pferde runterkommen und Ihnen die Hand geben?«
Da kam Wilhelm Frobenius denn doch zu Besinnung.
Er versuchte aufzuspringen ... aber das war nicht so leicht ... Es blieb ihm nichts übrig, als die Beine, die bisher[S. 80] so schön auf dem Trocknen gelegen hatten, von ihrem hochgelegenen Platze herunterzudirigieren.
Und so, am ganzen Leibe triefend und mit grünem Schlamm überzogen, richtete Wilhelm Frobenius seine lange Gestalt auf, stieg auf die Chaussee und machte eine tragikomische Verbeugung.
»Darf ich Herrn Major ganz gehorsamst bitten, mich vorzustellen?!«
Abermals platzte Nelly heraus.
»Ja,« sagte der Major, »als was soll ich Sie denn nun vorstellen — als Leutnant der Landwehr? — Das geht doch nicht gut; denn augenblicklich haben Sie mit allem Möglichen Ähnlichkeit ... aber mit einem Leutnant ... Also, sagen wir schlechtweg: Herr Frobenius — meine Tochter Nelly!«
»Na, nun bedanken Sie sich mal schön bei mir!« sagte Nelly und rieb den schmerzenden Arm, »wer weiß, wo Sie jetzt schon wären, wenn ich mich nicht über Sie erbarmt hätte!«
»Eigentlich müßte ich Ihnen böse sein, mein gnädiges Fräulein ... stellen Sie sich vor, welch ein Schicksal meiner wartet! — Meinen Sie nicht auch, daß mir besser wäre, dieser infame Schinder hätte mich da hinten irgendwo gegen einen Baum gerannt? ... Dann wäre jetzt alles vorbei und ich läge friedlich und entseelt irgendwo an der Landstraße ... aber jetzt: — so ein Lachen, wie über mich anheben wird, ist doch überhaupt noch gar nicht dagewesen. Das habe ich Ihnen zu verdanken, mein gnädiges Fräulein!«
Dabei strahlten hinter den funkelnden Brillengläsern die braunen Augen des Mannes zu dem Mädchen empor, mit einem Ausdruck, der just das Gegenteil seiner Worte sagte:
[S. 81]
Ahnst du, Mädchen, wie lieb ich das Leben hab? ... ahnst du, wieviel ich noch wirken und schaffen möcht' auf dieser Erde? ... ahnst du, was für ein krauses, sehnsüchtiges, umgetriebenes Herz das ist, das nun weiter schlagen darf dank deiner schnellen Tat?
Einen Augenblick lang hatte dies geheimnisvolle Leuchten der braunen Augen die stahlblauen der Retterin festgehalten ... dann aber ließ sie ihre Blicke an der hageren Gestalt herabgleiten ...
Nein, so eine Karikatur! ...
Von den grün überkleisterten Rockschößen ... von den Ärmelaufschlägen hernieder triefte es in den Staub der Chaussee ... Die dürren Beine in den schlammüberkrusteten Reitstiefeln schlotterten vor Nässe und Frost ...
Der Instinkt der Soldatentochter lehnte sich auf gegen dieses Zerrbild ... Der Herr trug doch nun mal des Königs Rock ... nun galt's vor allem, die unmögliche Situation zu retten ...
Mit Überraschung sah Frobenius, daß das Zucken des Lächelns und der Teilnahme plötzlich, wie weggeweht, vom Gesicht des jungen Mädchens verschwand.
»Herr Leutnant,« sagte sie mit unüberhörbarer Ironie, »mein Vater war gerade im Begriff, zum Bataillon zu reiten — Gehn Sie bitte dort irgendwo in den Wald und legen Sie sich in die Sonne zum Trocknen ... meine Schwester und ich werden Ihr Pferd mit zum Tattersall nehmen und Ihnen einen Wagen herausschicken ... So können Sie ja unmöglich in die Stadt zurück!«
»Ah, das ist ja 'ne ausgezeichnete Idee!« stimmte der Major zu.
[S. 82]
Zerschmettert sah Wilhelm Frobenius an seiner jammervollen Erscheinung herunter ... »Allerdings — Sie haben wohl recht, gnädiges Fräulein! Ich danke Ihnen! — Den Dank für meine ... Rettung ... hoffe ich Ihnen ... in etwas schicklicherer Verfassung ...«
»Schon gut, schon gut!« sagte Nelly, »nur schnell von der Chaussee herunter, Herr Leutnant ... Da hinten kommt schon eine Kompagnie vom Exerzierplatz zurück ...!«
»Ah, gut, gut!« sagte der Major, »also schnell, Herr Leutnant, verschwinden Sie! — Und ihr, Mädels,« — das galt Nelly und der soeben herankommenden Molly — »macht, daß ihr nach Hause kommt ... Ich halte den Schinder so lange und werde ihn der Kompagnie dort übergeben; die kann ihn zur Stadt zurückschaffen ...!«
Mit kurzem, herbem Kopfnicken verabschiedete sich die junge Dame von ihrem Schützling, der barhaupt im prallen Sonnenschein vor ihr stand und mit schlotternden Gliedern eine hilflos befangene Verbeugung machte ... In schlankem Galopp stoben die beiden Reiterinnen nach rechts der Stadt zu.
Der Major ergriff die Zügel Kunos des Schrecklichen, der wie ein Lämmchen folgte, grüßte kurz mit der Linken und sprengte der anmarschierenden Kompagnie entgegen.
Wilhelm Frobenius aber stapfte an seinem Tümpel vorüber ... durch den Chausseegraben ... in den Wald ... und suchte sich ein sonniges Plätzchen aus ...
[S. 83]
Die Kompagnie, die auf der Chaussee vom Exerzierplatz sich näherte, war die dritte.
Hauptmann Haller, der vorschriftsmäßig an der Queue ritt, sah seinen Bataillonskommandeur herankommen und galoppierte an, überholte seine Kompagnie und meldete dem Major: »Dritte Kompagnie auf dem Rückmarsch vom Exerzierplatz!«
»Danke, lieber Haller! — Hier bring ich Ihnen etwas Schönes mit!«
»Ich hab mich schon gewundert, Herr Major.«
»Haarsträubende Geschichte! — Hat den Leutnant der Landwehr Frobenius abgeworfen — der Satan!«
Die Kompagnie war inzwischen herangekommen. Staubbedeckt, lustig seine Zigarette rauchend, marschierte an ihrer Spitze der schlanke, blonde Leutnant von Finette. Er hatte die letzten Worte gehört, und nachdem er vor seinem Bataillonskommandeur salutiert, erlaubte er sich zu bemerken: »Darf ich Herrn Major darauf aufmerksam machen, daß das Kuno der Schreckliche ist?!«
»Kuno der Schreckliche — wer ist denn das?«
»Ein total aus dem Leim gerittener Schinder aus dem Tattersall! Wer hat denn bloß dem unglücklichen Herrn von der Landwehr diese Kreatur unter den Leib gesteckt?[S. 84] ... Die ist doch eigentlich nur noch zu Beefsteak zu gebrauchen!«
»So,« sagte der Major, »das begreife ich allerdings auch nicht ... Ich werde doch mal an den Direktor telephonieren ... So was darf nicht wieder vorkommen ... das ist ja 'ne Infamie geradezu!«
Hauptmann Haller hatte inzwischen seinen Burschen herangewinkt, der dem Major die Zügel des unglücklichen Gaules aus der Hand genommen hatte.
»Haben Sie die Erste und Zweite gesehen?« erkundigte sich der Major.
»Zu Befehl, Herr Major! Die Zweite hat das Kastanienwäldchen besetzt — die Erste greift von der Hohen Tanne her an!«
»Danke vielmals! — Guten Morgen, meine Herren!«
Am Kreuzweg traf Sassenbach, wie verabredet, mit seinem Adjutanten zusammen.
»Was macht der Brummschädel?«
»Danke gehorsamst, Herr Major — durchaus vorschriftsmäßig!«
»Langt's zu 'nem Galopp?«
»Selbstverständlich, Herr Major! — Hohe Zeit! Die Erste und Zweite müssen schon aneinander sein!«
Hauptmann von Brandeis hatte frühmorgens am Rande des Exerzierplatzes seine Kompagnie in Züge auseinandergezogen und Übungen im Entfernungsschätzen durch die Zugführer[S. 85] vornehmen lassen. Nach einer Stunde hatte er die Kompagnie zusammengezogen und sie fünf Kilometer weit nordwärts geführt, um auf Grund einer mit Hauptmann Goll vereinbarten einfachen Gefechtsannahme eine kleine Felddienstübung anzuschließen ...
Einer von den üblichen »Türken«, die mit tödlicher Sicherheit sich immer wiederholten und denselben typischen Verlauf nahmen.
Rot, so lautete die Annahme, war gestern nördlich der Garnison geschlagen worden ... Die Dunkelheit hatte das Gefecht unterbrochen, und infolge Erschöpfung von Blau hatte die Verfolgung nicht mit voller Energie aufgenommen werden können, so daß die Fühlung mit dem Feinde verloren gegangen war ... Früh morgens hatte die Kavallerie gemeldet, daß der Feind in der Nacht durch die Stadt hindurch gen Süden abgezogen sei und nur noch schwache Abteilungen Versprengter sich in den Wäldern südlich des Exerzierplatzes sammelten ...
Die erste Kompagnie, als linke Seitendeckung des auf der großen Chaussee marschierenden Gros von Blau, bekam den Befehl, die Nachzügler zu vertreiben ...
Die beiden Hauptleute hatten miteinander verabredet, daß ihre ältesten Zugführer die Kompagnieen führen sollten.
Hauptmann von Brandeis hatte den weißen Helmbezug und die weiße Armbinde der Schiedsrichter angelegt, und zu ihm war von der Zweiten Leutnant Quincke als Schiedsrichtergehilfe getreten ... Oberleutnant Menshausen führte die Zweite ... Leutnant der Reserve Flamberg die Erste ... Hauptmann Goll, als der Ältere, markierte den Leitenden[S. 86] und hatte den Leutnant der Landwehr Frobenius als Zuschauer zu sich befohlen.
Bei der Zweiten wurden infolgedessen sämtliche Züge von Unteroffizieren: einem aktiven und einem Reserve-Vizefeldwebel und dem ältesten Sergeanten geführt ... Bei der Ersten standen Leutnant Carstanjen und zwei Vizefeldwebel als Zugführer.
Der Oberleutnant Menshausen besetzte mit allen drei Zügen den Rand des Kastanienwäldchens und ließ die Mannschaften sich eingraben ...
Dann hielt er Musterung unter den Unteroffizieren ...: »Der einjährig-freiwillige Unteroffizier Friesen!«
»Hier!«
»Kommen Sie mal her ... Für Sie hab' ich heute eine Spezialaufgabe: Sehn Sie sich mal rechts da das Gebüsch an! — Sehn Sie?«
»Zu Befehl, Herr Oberleutnant!«
»Nehmen Sie sich die beiden rechten Flügelgruppen vom ersten Zuge und suchen Sie, in das Gehölz hineinzukommen ... aber gedeckt ... verstehn Sie!? — auch wenn Sie einen größern Umweg machen müssen! — Und daß Sie mir nicht eher zum Vorschein kommen, als bis die Erste über den Exerzierplatz zum Angriff ansetzt ... sie muß ja selbstverständlich von der Hohen Tanne herkommen ... Wenn dann die vorhergehenden Züge auf der Höhe Ihres Gehölzes angekommen sind, dann erscheinen Sie plötzlich mit Ihren zwei Gruppen am Waldrand und schießen der Ersten in die linke Flanke hinein ... Haben Sie begriffen?«
»Zu Befehl, Herr Oberleutnant!«
[S. 87]
»Na, nun nehmen Sie sich mal zusammen und beweisen Sie, daß Sie würdig sind, nächstens die Offizierqualifikation zu bekommen — Sie Vertreter der Intelligenz! Los, treten Sie an!«
Der einjährig-freiwillige Unteroffizier Friesen begab sich an die rechte Flanke der ausgeschwärmten Kompagnie und befahl: »Erste und zweite Gruppe vom rechten Flügel des ersten Zuges — sammeln!«
Im selben Augenblick galoppierte auch schon der Kompagnieführer heran: »Donnerwetter, Friesen, wozu wollen Sie denn Ihre zwei Gruppen sammeln? Lassen Sie die doch ausgeschwärmt ... Wir sind im Gefecht! Einfach kehrt marsch und dann in Schützenlinie 'runter in den Grund ... so schnell wie möglich ...«
Der Einjährige stand stramm, zog dann mit dem Befehl »Schwärmen!« seine beiden Gruppen wieder auseinander und führte sie in den waldbestandenen Grund, der sich zur Rechten des Kastanienwäldchens hinzog ...
Alle Wetter, heute galt's aufpassen!
Oberleutnant Menshausen leitete die Ausbildung der Einjährigen und ihre Vorbereitung zum Offizierexamen, und von seinem Wohlwollen hing es sehr wesentlich ab, ob man bei der Entlassung zur Reserve die Qualifikation zum Offizier des Beurlaubtenstandes bekommen würde ... Übrigens war er ein harter Instruktor gewesen, der eine tiefe, grundsätzliche Abneigung gegen die »Intelligenz im Heere« besaß und sich gar keine Mühe gab, das zu verbergen ...
Also wirklich, es ging »um die Wurst!«
Ach ... und dabei war Hans Friesen heute so ganz und gar nicht dazu aufgelegt, seine Gedanken auf den Königlichen[S. 88] Dienst zu konzentrieren ... Auf halb zwölf war er zu Frau Hauptmann von Brandeis befohlen, um dort den Damen des Regiments, die bei der Festaufführung im Kasino mitwirken sollten, und dem Herrn Bataillonsadjutanten das Festspiel vorzulesen, das — er selbst — Hans Friesen, verfaßt hatte ...
Er, Hans Friesen, seiner bürgerlichen Hantierung nach Königlich preußischer Gerichtsreferendar und Doktor beider Rechte — zurzeit Seiner Majestät jüngster Unteroffizier ...
Wahrlich ... es war keine Kleinigkeit gewesen, unmittelbar nach bestandenem Referendarexamen ... unmittelbar nach dem Übergang aus dem heitern Studentenleben in Amt und Würde hinein ... plötzlich ein gemeiner Füsilier zu werden und unter der Fuchtel roher Unteroffiziere inmitten derber Söhne des Volkes die Geheimnisse des langsamen Schritts und des Infanteriegewehrs zu erlernen! ...
Und das nun gar, wenn man nicht nur ein alter Korpsstudent und königlicher Justizbeamter, sondern außerdem — ein werdender Dichter war.
Ach, noch zwei Monate ... dann würde die Schinderei zu Ende sein, und Hans Friesen würde wieder zu seinen geliebten Manuskripten und seinen weniger geliebten, aber um so ehrwürdigern Akten zurückkehren dürfen ...
Vorher aber galt's noch mancherlei Fährnis zu bestehen ...
Das Manöver war in Aussicht, und Hans Friesen war Korporalschaftsführer ... hatte das Vergnügen, jedes Kommißbrot und jede Unterhose für seine Korporalschaft in[S. 89] Empfang zu nehmen ... Samstags die Ausgehgarnitur auf Kammer zu empfangen ... und Montags sie wieder in tadellosem Zustande abzuliefern ... und dazu kamen all die tausend jämmerlichen und doch so notwendigen Pflichten der Fürsorge für zwanzig stramme Burschen ...
Das alles zog durch des jungen Soldaten Hirn, als er die ihm anvertrauten zwei Gruppen in langer Schützenlinie durch den blumigen Talgrund führte ...
Ach, dieser Talgrund schien so gar nicht geschaffen zum Tummelplatz für nägelbeschlagene Kommißstiefel ... Hier mußte man mit einem süßen, braunäugigen Kind engumschlungen wandeln ... und von holden und freudigen Dingen reden ... holde und freudige Dinge tun ...
Gott, heute mittag würde er ja endlich einmal wieder Mensch sein, Kavalier sein, würde mit richtigen Damen reden! — Ob er das nicht überhaupt schon verlernt hatte im seelenmordenden Gamaschendienst? — Nun, an ihm sollte es jedenfalls nicht fehlen!
Zwar auf sein Festspiel bildete er sich verdammt wenig ein ... Da hatte er dem Dichtertum in seinem Busen ganz gründlich Zaum anlegen müssen ... Er wußte wohl: es war eine schrecklich langweilige, frostige Allegorie geworden ... Aber Frau Major von Sassenbach hatte ihm durch Leutnant Blowitz mitteilen lassen, daß sie entzückt sei ... Und das war ja schließlich doch der Zweck der Übung ...
Und heute mittag würde er von der schönen Frau von Brandeis empfangen werden ... würde plaudern und studieren dürfen mit ihr und den schlanken Töchtern des Majors ...
[S. 90]
Es war fast wie ein Traum ... so ausgehungert wie man war nach Schönheit und Glanz in dieser verfluchten Kasernenatmosphäre, in dieser ekelhaften Tretmühle des Dienstes, in dem verblödenden Milieu der Unteroffiziere und Füsiliere ...
Merkwürdig nur, daß dies Tälchen sich so endlos lang hinzog. Schon eine halbe Stunde mußte verflogen sein, seit er sich von der Kompagnie losgelöst und nun als eine Art kleiner Cäsar, als selbständiger Detachementsführer, in der Welt herumgondelte.
Allmählich fing's an, unheimlich zu werden.
Er drehte sich um. Schweigsam trotteten seine Füsiliere hinter ihm her, das Gewehr im Arm, die Nase zum grünen Waldboden gesenkt.
»Sagt mal, Kerls, weiß einer von euch, wo das Gehölz liegt?«
Die Füsiliere sahen einander an. »Wat für en Jehölz?« sagte einer der alten Leute, »mir wisse nix von eme Jehölz.«
»Na, das Gehölz, wo wir uns aufbauen sollen, zum Donnerwetter!«
»Da hann mir doch nix von gehört — dat hat dä Herr Oberleu'nant doch em Herr Unner'ffzier selbst jesagt!« grinste der Füsilier.
»Nä, da wisse mer nix von,« wiederholten grinsend die übrigen Kerle.
Verflucht! — das war ja 'ne schöne Bescherung.
»Halt!« kommandierte Friesen und überlegte.
Ringsum Bäume, nichts als Bäume, Buchen und Eichen gemischt — Waldfriede — Waldfriede — wunschlose Sommerseligkeit.
[S. 91]
Was tun? — Offenbar war er zu lange geradeaus gegangen, statt nach links abzubiegen, um den Saum des Wäldchens nach dem Exerzierplatz hin zu erreichen.
»Ja, zum Donnerwetter, Kerls, weiß denn hier keiner von euch Bescheid?«
»Nä, hier wisse mir kei' Bescheid — wo will der Herr Unner'ffzier denn hin?«
»Na, doch natürlich zum Exerzierplatz hinüber, an den Waldrand!«
Die Füsiliere freuten sich königlich. »Dä Exerzierplatz? — dä litt so janz do hinne!«
»Himmelkreuzmillionen! — Also links schwenkt — marsch!«
Na, vielleicht würde die Erste nicht gar zu früh angreifen, und man kam noch zur rechten Zeit.
Bäume — Bäume — nichts als Bäume. — Doch ... noch etwas anderes als Bäume — unter den Bäumen dichtes Dorngestrüpp ... immer dichter ... immer dichter ...
Bei jedem Schritt schlugen den Vorwärtsdringenden Brombeerranken und Tannenzweige ins Gesicht.
Die Füsiliere wurden ungemütlich: »Dat is ja en Schweinerei — hä kütt jo ke' Mensch nit dörch — —«
Das mußte Hans Friesen schließlich selber einsehen. — Also zurück — —
Bautz! — da fiel in der Ferne der erste Schuß — plautz! ein zweiter — bautz — bautz — ein dritter und vierter ... Das Gefecht mußte begonnen haben — —
Himmel — und nun verließ sich der Oberleutnant Menshausen darauf, daß im entscheidenden Augenblick aus dem Hinterhalt das wohlgezielte Feuer der zwei detachierten[S. 92] Gruppen dem Feind in die Flanke fallen und seinen Ansprung über das Blachfeld des Exerzierplatzes lahmlegen würde ...
Ade, Leutnantsqualifikation ... ade, Epaulettes und Schärpe.
Ade, holdselige Hoffnung auf ein paar Stunden eines höhern Daseins ...
Nach dieser Blamage, in dieser Elendstimmung vor die schöne Frau von Brandeis, vor die schlanken Majorstöchter treten, die ihm gewiß seine schauderhafte militärische Unzulänglichkeit am Gesicht ansehen und ihn im tiefsten Grund ihrer Seele verachten würden ... das war eine Hölle statt des erträumten Paradieses!
Martin Flamberg ärgerte sich ein wenig, als beim Beginn der Felddienstübung Hauptmann von Brandeis ihm die Führung der Kompagnie übergab ... Das hätte der Hauptmann ihm doch auch vorher sagen können ... dann hätte er sich einen Gaul zwischen die Beine geklemmt ...
Na, es mußte nun auch so gehn!
Mit ruhiger Sicherheit wiederholte er die Spezialidee und den Befehl, den ihm der Hauptmann mitgeteilt, traf noch unter den Augen seines Kompagniechefs sachgemäß die erforderlichen Anordnungen für die Unteroffiziere, die er im Kreise um sich versammelt hatte ...
»Sehr gut, sehr gut!« lobte Hauptmann von Brandeis, »vollkommen einverstanden! ... Na, und nun viel Vergnügen!« Und damit galoppierte er von dannen.
[S. 93]
Die Kompagnie hatte die Gewehre auf der Chaussee zusammengesetzt ... die Mannschaft rastete im Graben ...
»An die Gewehre!«
Hui, da kam ein Leben in den Ameisenhaufen ...
»Stillgestanden!«
Und mit drei kurzen Sätzen teilte Flamberg den Mannschaften mit, was sie zum Verständnis der Kriegslage wissen mußten ...
»Herr Leutnant Carstanjen, treten Sie an!«
Der Kleine salutierte: »Erster Zug — Gewehr in die Hand ... die vorderste Gruppe als Spitze — schwärmen — der Rest des Zuges folgt unter dem Sergeanten Clausen!«
Und der Vormarsch der ersten Kompagnie gegen den Feind begann ...
Flamberg schritt in munterm Geplauder mit dem jüngern Kameraden fünf Schritt vor der Spitze ...
Hei ... welche Lust, Soldat zu sein ...!
Welche Lust ... zu friedlichem und doch so ernstem und wichtigem Waffenspiel in die blauen Morgennebel hineinzupilgern ...
Nach einer halben Stunde war der Saum des Exerzierplatzes erreicht.
Selbstverständlich brauchte kein Geist vom Himmel herabzusteigen, um dem Kompagnieführer zu sagen, daß der Feind am Kastanienwäldchen liege ... das war ja doch natürlich seit Jahrzehnten immer so gewesen ...
Und glatt und reglementsmäßig entwickelte sich der Angriff der Ersten unter den Augen der Schiedsrichter von der Hohen Tanne her auf das Kastanienwäldchen zu ... das Gelände wurde trefflich ausgenutzt ... bald zugweise, bald[S. 94] gruppenweise ging die Kompagnie im Sprung über die kahle Tenne des Platzes gegen den heftig feuernden Gegner vor ... Und Flamberg begriff nur das eine nicht: daß die ganze Sache so glatt vonstatten ging.
Er war darauf gefaßt gewesen, einen Flankenangriff von links zu erleben, und hatte infolgedessen in das Gehölz zu seiner Linken eine starke Gefechtspatrouille geschickt ... Jeden Augenblick erwartete er deren Warnungsschüsse zur Linken zu vernehmen ... aber nichts erfolgte. Und hundert Meter vorm Kastanienwäldchen setzte Flamberg zum Sturmangriff an ... Mit gezogenem Säbel sprang er zwanzig Schritt seiner Kompagnie voran beim Sturmmarsch der Tambours und dem dröhnenden Hurra seiner Füsiliere.
Gerade auf die Mitte des Wäldchens rannte er los, wo die berittenen Offiziere hielten, denen sich inzwischen, das sah er schon von weitem, der Bataillonskommandeur mit seinem Adjutanten beigesellt hatte ...
Im Augenblick, als er auf zehn Schritte an die Gruppe herangekommen war, winkte der Major seinem Hornisten, und: »Das Ganze — halt!« klang schmetternd das erwünschte Signal zur Beendigung der Übung über den weiten Plan.
Unmittelbar darauf erfolgte das Signal: »Zur Kritik!«
»Bitte, Herr Hauptmann Goll!«
Zwischen den zusammengezogenen Brauen des Hauptmanns brütete das Unheil und entlud sich alsbald als fürchterliches Donnerwetter über den Oberleutnant Menshausen: »Herr Oberleutnant, wenn Sie nichts Besseres zu tun wußten, als sich mit Ihrer ganzen Sippschaft hier am Waldrand einzubuddeln und den Angriff der Ersten abzuwarten ... dann hätte ich schließlich gerade so gut die Kompagnie von[S. 95] einem Unteroffizier führen lassen können ... Was haben Sie sich bei dieser stumpfsinnigen Maßregel denn eigentlich gedacht ...?«
Oberleutnant Menshausen bebte vor Wut und Scham. Die Hand am Helm, sagte er, als der Hauptmann seine Frage gestellt hatte: »Ich habe den einjährig-freiwilligen Unteroffizier Friesen mit einem Halbzuge in das Gehölz dort zur Rechten geschickt, und zwar mit genauer Instruktion ... Er sollte im Augenblick, wenn die erste Kompagnie nach ihrem Vorgehen auf der Höhe des Gehölzes angekommen wäre, Flankenfeuer geben!«
»Bedaure — habe nichts von Flankenfeuer gemerkt! Wo steckt denn Ihr Unteroffizier?«
»Das weiß ich nicht, Herr Hauptmann ... er muß sich verlaufen haben!«
Leutnant Blowitz, hoch zu Roß, flüsterte dem Major eine Bemerkung zu.
»Aha — der Dichter — na, das fehlte mir gerade! Erst brennt bei den ersten Schüssen ein Gaul durch, auf dem zufällig ein Herr von der Landwehr angebracht ist ... dann schmeißt dieser unglückliche Einjährige die ganze Übung um ... Na, warte mein Jungchen ... dir werd ich das Dichten austreiben! Aber bitte weiter, Herr Hauptmann, Sie haben noch nicht den Angriff der Ersten besprochen!«
Flamberg erhielt ein gerüttelt und geschüttelt Maß voll Lob, sowohl von Hauptmann Goll, als auch nachher beim Schlußwort des Bataillonskommandeurs: »Ihre Leistungen, Herr Leutnant Flamberg,« sagte der Major, »söhnen mich einigermaßen mit der Situation aus! — Ich danke Ihnen, meine Herren — —«
[S. 96]
Rum, plum, plumbidibum. — Heimwärts ging's mit Trommelschlag und munterm Gekreisch der Pfeifen ...
Martin Flamberg war kolossal vergnügt ... Er marschierte dicht hinter der Gruppe der Berittenen und sann eine muntere Epistel zusammen, mit der er seiner Braut das »Waffenglück« des ersten Übungsmorgens zu verkünden gedachte ...
Ha, welche Lust, Soldat zu sein ...!
[S. 97]
Höher war die Spätsommersonne gestiegen ... in allen Straßen und Gassen der Garnisonstadt lag ihr flimmerndes Gold ... glänzte auch auf dem schon staubigen Grün der städtischen Anlagen hart unter den Fenstern der schmucken Villa Brandeis.
Hinter den halbgeschlossenen Jalousieen in gedämpftem, goldiggrünem Licht lag Cäcilie von Brandeis auf der Chaiselongue und las.
Geringschätzig kräuselten sich ihre Lippen. Geschmacklos, diese altmodischen Allegorien ...
Drei lebende Bilder sollten gestellt werden ... die ersten beiden nach Bildern im Offizierkasino ...
Das erste stellte das Regiment vor beim Sturm auf St. Hubert.
Das zweite die berühmte Szene, wie Kronprinz Friedrich Wilhelm nach der Schlacht die Verwundeten des Regiments im Feldlazarett besucht und dem schwerblessierten Regimentskommandeur persönlich das Eiserne Kreuz erster Klasse überreicht.
Nun, das mochte noch hingehen! —
Aber das dritte Bild:
Huldigung des Regiments vor der Büste Wilhelms des Zweiten! —
[S. 98]
War denn dem guten Einjährigen, den man zum Dichten kommandiert hatte, nicht etwas weniger Verschlissenes eingefallen?!
Und um diese drei Bilder herum ein Dialog zwischen dem »Krieg« — Leutnant Blowitz — dem »Frieden« — Molly von Sassenbach — und dem »Genius des Regiments« — Frau Cäcilie von Brandeis! —
Zunächst tritt der Krieg auf, spricht dem Genius des Regiments seinen Glückwunsch zur Wiederkehr des Ruhmestages von Gravelotte aus, mahnt an alte Schlachtenherrlichkeit und beklagt die endlose, flaue Friedenszeit ... Schon erscheint der Friede, legt ebenfalls seine Glückwünsche dem Genius zu Füßen und behauptet, das Regiment leiste auch im Frieden nützliche Arbeit für die menschliche Gesellschaft ...
Alsdann führt der Krieg die Bilder der großen Vergangenheit herauf: Bild eins und zwei.
Der Friede ist natürlich erschlagen, preist aber mit einem längeren Erguß das treue Schaffen des Regiments an der Wehrhaftmachung des Volkes und kommt mit einem Übergang von haarsträubender Kühnheit auf die Huldigung an die neue Kommandeuse ... im Frieden blühe nämlich die holde Geselligkeit ... der Friede sei der Bereich der Frau ... und so weiter ...
Der Krieg ist galant genug, das zuzugeben; aber das Soldatenhandwerk, erklärt er, sei nun doch einmal Männerhandwerk, und schließlich ruft er die Germania zur Entscheidung auf ...
Die erscheint in der Person von Nelly von Sassenbach, erklärt selbstverständlich, das Regiment sei ihr in Krieg und[S. 99] Frieden gleich wert, und endigt mit einer Huldigung an den erhabenen Schirmherrn des Friedens, dessen Gipsbüste alsdann erscheint, umgeben von Soldaten des Regiments in den historischen Uniformen von 1870 und den heutigen, sowie von Offizieren und Ehrenjungfrauen — bengalische Beleuchtung — Kaiserhymne — Tusch — aus —!
Diese erhabene Generalidee mußte sich der unglückliche Einjährige im Schweiße seines Angesichts abgerungen haben.
Cäcilie von Brandeis meinte ihn ordentlich zu sehen — den ihr noch unbekannten jungen Herrn — wie er, als Wachhabender auf Pulverhaus- oder Schießstandswache, keuchend diese Banalitäten zusammenleimte —
Und doch — wenn sie von dem Gedankengang des Ganzen absah, der ja schließlich für seinen Zweck wohl kaum anders hätte konstruiert werden können, und sich an die Ausführung hielt —
Was sie da las: das waren doch immerhin Verse ... Verse, in denen hin und wieder ein besonderes Wort, ein eigentümliches rhetorisches Glänzen verrieten, daß ein feiner Kopf hinter dem handwerksmäßigen Gestammel stand, das er vielleicht selbst verlachte, während er es aufs Papier geschludert — —
Und an einigen Stellen brach's hervor: ein harnischblinkendes Geschlecht klirrender Worte und Rhythmen, der Heerbann einer Seele, die ihre Kräfte zu künftigen Schlachten zusammenzog —
Frau Cäcilie freute sich dessen, was sie da ahnte ... freute sich, daß es ihr gegeben war, solches zu ahnen ... ihr, der Tochter der heitern rheinischen Künstlerstadt ... dem Sprößling[S. 100] einer altpatrizischen Fabrikantenfamilie, die es immer für einen Ehrentitel ihres Namens gehalten hatte, sich mit Kunst zu umgeben, Kunst zu fördern, mit der Kunst zu leben ...
Und ein wenig spöttisch ... ein wenig bitter mußte sie lächeln, wenn sie sich erinnerte, wie ihr guter Fritz ihr das Manuskript des Einjährigen gebracht mit den Worten:
Na, das lies mal, Kindchen! Da wirst du staunen ... einfach begeisternd so was ... einfach niederschmetternd schön! — Jawoll, das ist der Geist des Regiments Prinz Heinrich der Niederlande ...
So dichten bei uns die Einjährigen ... stell' dir vor, wie erst die Leutnants dichten ...!
Ihr guter Fritz — wie er sie vergötterte ... Kunststück! — Er verdankte ihr ja auch ein überaus behagliches Dasein —
Aber nein ... das war ein häßlicher Gedanke ... Er war ihr wirklich von Herzen ergeben ... na, das konnte sie schließlich ja doch auch wohl verlangen ...!
Sie trat vor den großen, bis zum Fußboden herabgehenden Spiegel ... reckte ihre Arme ... und freute sich des flimmernden Widerscheins, den ein verirrter Sonnenstrahl in ihrem rötlich braunen Haar weckte ...
O ja — Cäcilie Imhof wäre auch ohne ihre halbe Million des heißen Umwerbens würdig gewesen, das Fritz von Brandeis ihr zu Füßen gelegt hatte ...
Das Fräulein meldete die Schwestern Sassenbach.
Die schlanken Mädels, beide fast um einen ganzen Kopf größer als Cäcilie, stürmten herein, voran mit Dragonerschritten die smarte Nelly, um die es immer witterte wie ein leiser Hauch von Stallparfüm.
[S. 101]
Tränenlachend versetzten die Schwestern der Hausherrin die Geschichte von dem Landwehrleutnant im Froschpfuhl ... da lachte auch Cäcilie laut und herzlich mit.
Dann aber, als die Mädchen den Namen des Unglücksraben nannten, wurde sie stutzig ... »Haben Sie eine Ahnung, was der Herr seines bürgerlichen Zeichens ist —?«
»Irgend sowas bei der Universität, hat Papa gesagt!«
»So, vielleicht in — Bonn?«
»Ganz richtig, ja, ich glaube wohl,« meinte Nelly.
Schweigend ging Frau Cäcilie aus dem Salon in ihr anstoßendes Damenzimmerchen und holte einen stattlichen Folioband aus ihrer Bibliothek; den schlug sie auf und hielt den Titel den Besucherinnen hin:
Schiller.
Ein Gedenkbuch für das deutsche Volk
zu des Dichters hundertjährigem Todestage
von
Wilhelm Frobenius.
Fünfzehntes bis zwanzigstes Tausend.
»Donnerwetter!« sagte Nelly erstaunt, »ist das von dem Herrn aus dem Froschtümpel?«
»Na, jedenfalls werden wir uns danach erkundigen müssen!« erklärte Frau Cäcilie.
Mit einer seltsamen, unverstandenen Empfindung entsann sich Nelly in diesem Augenblick des heißen Leuchtens, das plötzlich aufgeglüht war hinter den großen Brillengläsern, als der fremde Mann sie angeschaut, den sie heute zum ersten Male gesehen ...
[S. 102]
Ihr war's in der Erinnerung, als habe sie da hineingeschaut in eine Welt, die ihr ganz unbekannt geblieben war bis auf diesen Tag ... ihr, dem Soldatenkinde, das von nichts wußte als von hartem Dienst ... von eiserner Pflichterfüllung ... von engumzirkelter Gesellschaftsfron ...
In diesem Augenblick erschollen lustige Klänge auf der Promenade, die rasch näher und näher kamen ...
Die Pfeifen schrillten ... rasselnd knarrten die taktmäßigen Wirbel der Tambours ...
Wie der Blitz waren die Majorstöchter am Fenster, zogen die Rolläden auf und schossen auf den Balkon hinaus — langsamer folgte die schöne Frau —
Aha, der Papa — und hinter ihm der Herr dieses Hauses ... den Säbelknauf auf der Hüfte ... die gleißende Stahlklinge dicht neben dem scharfgeschnittenen Profil ... und dahinter glitzernd und blinkend der Heerwurm ...
Aus seiner Mitte aufragend, hoch zu Roß wie die Herren an der Tête, die unfrohe, nüchterne Gestalt des Hauptmanns Goll ... ganz hinten noch zwei andere berittene Offiziere, jetzt noch nicht erkennbar ...
Die erste Kompagnie, vom stumpfen Graugrün der schilffarbenen Helmbezüge überlagert ... dahinter die zweite, überflirrt von den leuchtenden Reflexen der Helmspitzen ...
so gellte, so schmetterte das die lindenumsäumte Promenade hinab ...
Nun hatte der Major die drei Damen auf dem Balkon erblickt und Leutnant Blowitz auch, sein getreuer Adjutant,[S. 103] der zu seiner Linken ritt ... die rostbraunen Handschuhe flogen an die Mützenschirme — lächelnd nickten die Damen ...
Hauptmann von Brandeis hatte natürlich schon längst die Herrin seines Hauses erspäht ... die gleißende Klinge fuhr in die Luft und senkte sich dann grüßend an der Flanke des Braunen nieder ... mit strahlendem Lächeln winkten die wasserblauen Augen unter der blinkenden Helmschiene herauf ...
Und hinter dem Hauptmann fuhr noch eine andere Klinge in die Luft und senkte sich ... rechts neben dem baumlangen Flügelmann der Königlichen Ersten marschierte ein stattlicher Offizier, den Frau Cäcilie nicht kannte ...
»Wer ist denn das?«
Nelly wußte Bescheid: »Das ist der Leutnant der Reserve Flamberg — ein Maler aus Düsseldorf!«
Ein Maler aus Düsseldorf ... welch ein Heimatklang ... welch ein Klang aus der blühenden, sprühenden Welt ihrer Jugend in die nüchterne, kaltglänzende ihrer Gegenwart hinein.
Vorüber ... vorüber zog mit raschem, taktmäßigem Schritt die gewaffnete Schar ... es grüßte der puppenzierliche, kleine Carstanjen ... es grüßte mürrischen Gesichts der struppig umbartete Hauptmann Goll ... es grüßten am Schluß des Zuges von ihren Pferden der Oberleutnant Menshausen und der Leutnant Quincke. Vorüber, vorüber, und fernhin verhallte der Trommelschall, der taktmäßige Schritt der Kompagnien.
Das ist deine Welt — das heißt eine Welt — — so klang's in der Seele der jungen Frau ... und dazwischen: Ein Maler ... ein Maler aus Düsseldorf ...
[S. 104]
Wieder saßen die drei Damen im gründämmerigen Salon und schwatzten. Das ganze Festprogramm wurde durchgesprochen, ein Rollenverzeichnis für die lebenden Bilder aufgestellt ... So verrann eine halbe Stunde; da erschien Leutnant Blowitz: »Melde mich ganz gehorsamst zur Stelle, gnädige Frau, und bitte tausendmal um Entschuldigung! — Gnädige Frau haben ja selbst gesehen — —!«
»Allerdings, Herr Blowitz — sehr erfreut, Sie nun auch persönlich kennen zu lernen — nun, wann kommt denn der Dichter?«
»Gnädige Frau meinen den Einjährigen — ja, das wissen die Götter — der ist abhanden gekommen!«
Sensation!
Und Blowitz berichtete.
»Na, er wird sich beim Kehren schon wiederfinden!«
»Vielleicht ist er auch in den Froschtümpel geraten,« meinte Nelly.
Die Hausfrau servierte Portwein und Gebäck, und munter plätscherte das Gespräch ... die neue Kommandeuse ... das Fest ... die Verlobungen, die etwa darauf zustande kommen könnten ...
In Frau Cäciliens Herzen aber klang's immer wieder wie eine frohe, verheißungsvolle Heimatweise: Ein Maler ... ein Maler aus Düsseldorf ... und er steht bei Fritzens Kompagnie ... er wird seine Aufwartung machen ...
Daß Fritz ihr davon noch gar nichts erzählt hatte! Aber freilich, als er früh um fünf aufgestanden, hatten die Gatten ja nur wenige Worte gewechselt ...
Auch Nelly war nicht ganz bei der Sache; von Zeit zu Zeit schlug sie, wie spielend, den Deckel des Buches auf, das[S. 105] vor ihr auf dem Tischchen liegen geblieben war ... Sie dachte an den Mann im Froschtümpel, und wie seltsam seine Augen geleuchtet hatten hinter den goldenen Brillengläsern. Daß vielleicht er dies Buch geschrieben hatte, das in zwanzigtausend Exemplaren hinausgeflattert war in die Welt, um dem deutschen Volke zu erzählen von der Herrlichkeit eines Dichters, dessen sie selber sich nur noch dunkel entsann aus ihrer Schulzeit her ...
Ein Klassiker! Sie selber war seit zehn Jahren nur noch in Operetten und Schwänke gegangen ...
Schiller! — Was war ihr Schiller?!
Und über den hatte man ein Buch schreiben können, nach dem zwanzigtausend Hände gelangt hatten!?
Eine halbe Stunde nach dem Einrücken der Ersten und Zweiten führte der Unteroffizier Friesen sein trauriges Fähnlein Verirrter in den Kasernenhof hinein.
Er hatte sich vorgenommen, seine zwei Gruppen nun wenigstens vorschriftsmäßig in strammem Tritt auf den Kompagnieappellplatz rücken zu lassen, und hatte sich die Kommandos genau überlegt, die er abzugeben hätte, um mit seiner Schar in tadelloser Verfassung auf der Bildfläche zu erscheinen.
Aber kaum hatte er: »Tritt gefaßt!« kommandiert, da erschien am Fenster der Kompagniestube das zornwütige Gesicht des Feldwebels Düfke, der den Unteroffizier anbrüllte, daß es über den ganzen Hof schallte: »Herrgott, Sie Unglückswurm! Da sind Sie ja endlich! — Nun machen Sie bloß, daß Sie vom Kasernenhof 'runterkommen! —[S. 106] Verschwinden Sie, verschwinden Sie in Dreideubelsnamen!«
»In's Kasernentor, marsch marsch!« schrie Friesen voller Wut und Scham.
Und feixend stürmten die Füsiliere von dannen.
Nun kam das Donnerwetter Nummer eins vom Feldwebel. Kaum war das überstanden und der Einjährige entlassen, da lief er draußen seinem Kompagniechef, dem Hauptmann Goll, in den Weg, und das Donnerwetter Nummer zwei prasselte auf seinen sündigen Scheitel nieder.
Ganz begossen schlich er sich auf die Stube, auf der sein Putzer lag, um die feldmarschmäßige Ausrüstung abzulegen.
Da trat ihm, treuherzig schmunzelnd, der wackere Füsilier Zilles entgegen, sein liebster Kamerad unter den Mannschaften: »Herr Unner'ffzier, warum hann Se mich denn nit mitgenomme uff Pattrollje! Dann wär dat Mallör nit passiert!«
»Ja, Zilles, wie sollt ich das anfangen!? Sie stehn doch beim zweiten Zuge, und ich bekam die beiden Flügelgruppen vom ersten! — Na, nun machen Sie mal schnell, daß ich instand komme: erste Garnitur, Helm und Extrastiefel!«
Einer der ersten Regimentsbefehle des neuen Kommandeurs war der gewesen, daß Unteroffizieren, Einjährigfreiwilligen und Mannschaften das Tragen unvorschriftsmäßiger Extrauniformen außer Dienst verboten sei.
So mußte denn Hans Friesen seinen Besuch bei Frau von Brandeis in seiner bessern Kommißgarnitur bewerkstelligen, dem Waffenrock aus grobem Mannschaftstuch mit[S. 107] dem schmalen, goldbetreßten Kragen, daraus die schwarze Halsbinde fast einen Finger breit hervorschaute. Der Besuchsanzug war dadurch betont, daß die Beine, statt in den sackartigen, weiten, schwarzen Tuchhosen, in den sogenannten »Porzellanbuchsen« steckten, den weißen Paradehosen, die auch nicht viel anders aussahen denn zwei riesige weiße Säcke. Auf dem Kopf den Diensthelm mit dem häßlichen, schwarzen Ledersturmriemen, das ungeschlachte Seitengewehr am gewichsten Dienstkoppel um die Hüften geschnallt ...
So zog Hans Friesen, der Königlich preußische Gerichtsreferendar, Doktor beider Rechte, Poet und Unteroffizier, zur Leseprobe seines ersten Dramas. —
Unterwegs überlegte er, wie er sich nun bei der Hauptmannsfrau zu benehmen hätte. Wahrscheinlich würden Offiziere da sein — mußte er nun zuerst vor den Offizieren strammstehen oder vorher, ganz Kavalier, die Frau des Hauses begrüßen —?
Das waren Etikettefragen, die in keiner Instruktionsstunde beantwortet wurden ...
Aber wenn Hans Friesen sich erinnerte, daß er heute morgen schon zwei Ungewitter über sich hatte ergehen lassen müssen und heute nachmittag in der Einjährigeninstruktion bei Oberleutnant Menshausen das allertollste noch bekommen würde ... daß die Qualifikation wahrscheinlich doch bereits verratzt sei ...
Da kam eine ungeheure Wurstigkeit über den jungen Soldaten.
Ach, jetzt war schon alles ganz egal ... jetzt wollte er den Offizieren zeigen, was für ein Kerl im Tressenrock steckte ...[S. 108] er wollte sie auf dem Standpunkt völliger gesellschaftlicher Gleichberechtigung behandeln ... mochten sie schimpfen ...! Was konnte ihm noch passieren!
Aber etwas benommen war ihm doch zumute, als er sich im Korridor der koketten Villa unterm elektrischen Licht, das eine zierliche Zofe angeknipst hatte, noch einmal im Spiegel betrachtete ...
Verdammt ruppig sah man doch aus ...!
Wären nicht die schwarz-weißen Schnüre um die Achselklappen gewesen ... und die Schmisse auf Stirn und Wange wer hätte ihn von einem Kapitulanten unterscheiden sollen ...?!
Die Tür flog auf ... da standen drei plaudernde Damen ... ach — Damen! Wesen aus einer höhern Welt —!
Und mit ihnen im Gespräch drei Offiziere, Hauptmann von Brandeis, Oberleutnant von Schoenawa, der finstere, unnahbare Regimentsadjutant, und Leutnant Blowitz, der einflußreiche Bataillonsadjutant ... Die Herrgötter des Kommißhimmels!
Und nun schlug Hans Friesen doch die Absätze zusammen, daß es knallte, und stand zuerst vor den Offizieren stramm ...
Erst als diese unter Lachen und Entschuldigungen bei der Hausfrau abwinkten, ging er auf die Damen zu und beugte sich auf die duftende Hand nieder, die sich ihm entgegenstreckte ...
»Schau, schau ... so sieht also ein Dichter aus ... den hatte ich mir eigentlich anders vorgestellt! Aber freilich, Herr Friesen, zu der Königlich preußischen Dienstpoesie, die[S. 109] Sie sich da geleistet haben, paßt Ihr Kostüm ganz ausgezeichnet!«
Hans Friesens braunes Gesicht konnte wohl nicht tiefer sich färben ... aber in die weiße Stirn stieg das heiße Erröten ...
Und nun lachte Hauptmann von Brandeis: »Na, Herr Friesen, wo haben Sie denn eigentlich während des Gefechts gesteckt?«
Die Leutnants lachten ... die Damen lachten ...
Nur eine nicht ... Ein rosiges Mädchengesicht, zwei dunkelblaue Augen lächelten ihn mitleidsvoll aufmunternd an ... die jüngere der beiden Majorstöchter. — Herrgott, wie gut das tat!
Die Vorstellung war erfolgt, man hatte Platz genommen um den runden Tisch im Salon, und die Hausfrau forderte den Poeten auf, sein Festspiel vorzulesen.
Und mit dem Klang der eigenen Verse überkam Hans Friesen wieder die fröhliche Wurstigkeit, die er sich vorgenommen ...
Teufel ja! Wenn's auch verschlissene Gedanken und konventionelle Vorstellungen waren, die er da zusammengebraut ... die Verse ... wahrhaftig, die konnten sich sehen lassen ...! Das klang und klirrte wie der Schritt marschierender Bataillone ... das grollte und brauste wie rollende Salven und dröhnendes Hurra beim Sturm ... Und war's auch keine himmelstürmende Poesie ... Poesie war's eben doch ... Soldatenpoesie ...
Und er fühlte, wie sie wirkte.
Als er geendigt, konnte er wohl bemerken, daß die Offiziere in ganz verändertem Ton mit ihm sprachen ...[S. 110] Und die Damen lachten auch nicht mehr über ihn ... obwohl er doch heute morgen den richtigen Gefechtsmoment verpaßt hatte ...
Gern ließen sich alle gefallen, daß er als Regisseur nun frei und ungezwungen mit ihnen schaltete.
Ja, der Bataillonsadjutant fand es vollkommen in der Ordnung, daß der Unteroffizier ihn sehr von oben herab zurechtwies, wenn eine verständnislose Betonung unterlief, oder wenn es galt, die an näselndes Schnarren gewohnte Kommandostimme für das Pathos des Kriegsgottes umzufärben ...
Und nun erst die Damen ... wie glühten sie vor Eifer, es dem Dichter recht zu machen ...
Am holdseligsten aber erglühte eine von ihnen ... und ihre veilchenblauen Augen funkelten nicht nur dem Poeten, funkelten dem straffen, feurigen Jüngling ...
Molly hieß sie ...
Hans Friesen ahnte, daß er an diese Molly viele, viele Verse dichten würde ... bessere Verse als die im Festspiel ... echtere ...
Hatte nicht schon einmal ein Poet eine Molly besungen — —?!
[S. 111]
Über dem Leben des Füsilierregiments Prinz Heinrich der Niederlande lagerte die Stille vor dem Sturm ... die satte, friedliche Sommerstille.
Die großen Besichtigungen waren überstanden. Auch die fatalen vier Wochen auf dem Truppenübungsplatz lagen bereits hinter dem Regiment, als die letzte Gruppe der Reserveoffiziere eingerückt war. Und alles rastete nun ein wenig bis zum Beginn der Herbstübungen, in denen die Arbeit des ganzen Jahres, der Ausbildungsgang mit seiner weise berechneten, allmählichen Steigerung der Ansprüche und Leistungen alljährlich gipfelte.
Die stille Zeit vor dem Manöver wurde hauptsächlich durch fleißiges Schießen und durch kleinere und größere Felddienstübungen ausgefüllt. So hatten die Reserveoffiziere über allzu starke dienstliche Inanspruchnahme nicht zu klagen. Von den aktiven Herren waren viele beurlaubt; die übrigen atmeten nach der Schinderei des Frühjahrs und Hochsommers ein wenig auf.
Mit Feuereifer stürzten sich die Beteiligten auf die Vorbereitungen zum Regimentsfest. Alle zwei bis drei Tage fanden nachmittags unter Leitung des Festspielpoeten Proben für die Aufführung statt, entweder bei Frau von Brandeis oder bei der Protektorin des Abends, Frau Major von Sassenbach.
[S. 112]
Für Hans Friesen bedeuteten diese Proben eine schattige, blumendurchduftete Oase in der dürren Wüste seines Kommißdaseins ... Er lebte nur noch für diese Stunden ...
Was galt's ihm, daß sein Instruktionsoffizier ihn vor versammeltem Kreise seiner Kameraden für den unfähigsten Tappelhans erklärt hatte, der jemals das Regiment verschimpfiert habe?
Was war ihm daran gelegen, daß sein Feldwebel Düfke ihm die Sonderstellung, die sein Talent ihm den Offizieren gegenüber verschafft hatte, täglich durch um so kommissigere Behandlung vergalt, ihm mit dienstlichen Plackereien, wo es nur irgend möglich war, ins Gedächtnis rief, daß er nicht mehr und nicht weniger sei als eben ein Unteroffizier ...
Mochte er ihn den ganzen Tag und die halbe Nacht schikanieren und kommandieren, soviel er wollte ... die Nachmittagsstunden der Proben mußte er ihm freilassen — laut Bataillonsbefehl!
Übrigens hatte Hans auch sonst dienstlich schlechte Tage. So gut er von den Offizieren im allgemeinen zurzeit behandelt wurde, die Herren seiner eigenen Kompagnie machten eine Ausnahme.
Da war Hauptmann Goll, ein alter Junggesell und notorischer Weiberfeind, übrigens ein Verächter alles dessen, was nicht königlicher Dienst war ... und der Künste und Wissenschaften noch ganz besonders.
Da war der Oberleutnant Menshausen ... da war endlich auch der Leutnant Quincke, der, im dunkeln Gefühl der überaus mangelhaften Entwicklung seiner eigenen Geistesgaben, jeden mit seiner grundsätzlichen Abneigung beehrte, der irgend etwas leistete.
[S. 113]
Da war schließlich auch der gestrenge Bataillonskommandeur. Wenn der auf der Bildfläche erschien, dann konnte der einjährigfreiwillige Unteroffizier Friesen sicher sein, irgendwie »aufzufallen«.
»Auffallen« war nämlich gleichbedeutend mit »unangenehm auffallen« ... dienstlich irgend etwas versehen haben — die gute dienstliche Leistung verstand sich von selbst und fiel also nicht auf.
Es war, als ob der Major den unglücklichen Einjährigen im Dienst dafür bestrafe, daß er sich außer Dienst der Gunst der Frau von Sassenbach erfreute.
Ach, wenn Hans gewußt hätte, daß er die unverhohlene Auszeichnung, mit der Frau von Sassenbach ihn behandelte, vor allem dem Umstande verdankte, daß er nach ihrer Auffassung auch nicht im entferntesten als Bewerber um eine ihrer Töchter in Frage kam — —
Ein bürgerlicher Gerichtsreferendar, der noch nicht einmal die Qualifikation zum Reserveoffizier besaß — in dem sah auch Mama von Sassenbachs Argwohn nur den harmlosen, völlig ungefährlichen jungen Menschen, der sich mit Wonne nützlich machte beim Arrangement des Regimentsfestes und überaus korrekte Verse von einer vollendeten Loyalität der Gesinnung zu drechseln verstand —
Wenn Hans Friesen das geahnt hätte —!?
Er faßte die liebenswürdige, fast mütterliche Behandlung, welche die Frau Majorin ihm angedeihen ließ, in einem viel schmeichelhafteren Sinne auf —
Und hatte er dazu nicht eine gewisse Berechtigung —?
Denn daß die Nächstbeteiligte — daß Molly von Sassenbach ihn mit gnädigen Augen ansah ... das durfte er sich[S. 114] in Augenblicken schwellenden Hoffnungsglücks denn doch gestehen ...
Geschehen war ja selbstverständlich eigentlich gar nichts zwischen ihnen beiden ... sah man sich doch nur im Kreise der »Schmiere«, wie die kleine Schar der Komödianten des Festspiels sich bereits benannte, und unter den wachsamen Augen der gestrengen Frau Mama ... zudem unter den noch gestrengeren Blicken der Offiziere, für die man zwar außer Dienst »Herr Friesen«, im Dienst aber sofort wieder nur der Unteroffizier Friesen war ...
Und dennoch ... wenn Hans Friesen nach der Probe zur Kaserne zurückeilte, wo seine Anwesenheit dringend notwendig war im Interesse seiner Korporalschaft ... dann war er doch immer in einer wahren Weltumarmungsstimmung ...
Zwei-, dreimal war es ihm doch gelungen, einen Blick aus den veilchenblauen Augen zu erhaschen ... einen Blick! ... all ihr Götter! nach solch einem Blick war's dem guten Jungen jedesmal zumute, als müsse er den engen Tressenkragen aufreißen ... aufspringen, ans Fenster stürmen, mit tiefen Atemzügen die laue Sommerluft in die glühende Brust eintrinken ...
Statt dessen mußte man ruhig und gemessen sitzen bleiben, von scharfen, wachsamen Augen unermüdlich beobachtet und kontrolliert ...
So waren diese Stunden seines außerdienstlichen Daseins auch wieder ein Qual! —! ach — ein süße Qual —!
Sonst nichts als Dienst — Dienst — Dienst! Morgens um vier in die Kaserne ... abends um neun aus der Kaserne ... dazwischen nur eine Mittagspause von einer[S. 115] Stunde, verbracht in Gesellschaft der übrigen Einjährigen in einem benachbarten Speisehause ...
Die Kellnerinnen, die hier bedienten, waren seit einem Jahre der einzige weibliche Umgang gewesen, den Hans Friesen gehabt hatte ... Nun hatten Rosel und Suse plötzlich für ihn jedes Interesse verloren ...
Sie schmollten und rächten sich, indem sie's beim Servieren immer so einrichteten, daß Hans Friesen zuletzt an die Reihe kam und nehmen mußte, was die Kameraden übrig gelassen hatten ...
Hans Friesen merkte es nicht.
Wenige Tage nach Beginn der Übung hatten sich die Reserveoffiziere wieder vollständig im Regiment eingelebt, und jeder von ihnen suchte und fand seinen nähern Verkehr da, wohin sein Wesen ihn wies.
Hielt Professor Brassert sich an die ältern und friedlichern Elemente, so war der Referendar Dormagen der Mittelpunkt einer Gruppe, die nach dem Mittagessen stets endlos beim Skat zusammenhockte, abends auf der Kasinoterrasse einen Syphon Münchener nach dem andern vertilgte, Sonntag nachmittags beim Sekt kleben blieb und nachts gar häufig im Rauchzimmer beim Tempeln. Oder man zog auch Zivil an und suchte die Variétés oder noch verschwiegenere Orte nächtlicher Ergötzung auf. Dieser Gruppe schloß sich auch meist Herr Klocke an, den es nur grämte, daß er nicht so flott mit dem Gelde um sich werfen konnte wie der wohlhabende Jurist. Die Beliebtheit, die jener durch Ansetzen zahlloser »kalter Enten« sich zu verschaffen suchte, strebte er dadurch[S. 116] zu gewinnen, daß er freigebig von seinem unerschöpflichen Vorrat an zweideutigen Anekdoten spendierte oder seine schier unglaubliche Geschicklichkeit in Kartenkunststücken produzierte, was vor dem Verfahren seines Kameraden entschieden den Vorzug der Billigkeit hatte.
Wieder ein ganz anderer Kreis war es, dem sich der Forstassessor Troisdorf angeschlossen hatte. Man hätte ihn die Gruppe der Mißvergnügten nennen können. Ihm gehörten alle jene jungen Herren an, die es aus irgendeinem Grunde nicht verstanden hatten, sich die Gunst der höheren Vorgesetzten zu erringen. Es waren nicht nur die Schlechtesten im Regiment. Hier wurde unablässig geschimpft, auf die Vorgesetzten, auf die erfolgreichern Kameraden, die als Streber gebrandmarkt wurden, als Leute, die »über Leichen gingen«. Auch in diesem Kreise wurde scharf gezecht, aber mehr aus Wut und Enttäuschung denn aus Liebe zur Sache.
Frobenius war ziemlich allein geblieben. Unter den aktiven Offizieren hatte er keinerlei Anschluß gefunden. Man behandelte ihn mit korrekter Liebenswürdigkeit und beständiger höflicher Zurückhaltung. In der Öffentlichkeit vermied es jeder, sich mit ihm zu zeigen. Und freilich, ein Vergnügen war es auch nicht, an seiner Seite durch die Straßen der Garnison zu spazieren. Wo er ging, da geleitete ihn ein beständiges Schmunzeln auf allen Gesichtern der Passanten, die Straßenjugend rief ihm freche Bemerkungen nach, ja, es war, als ob selbst die Pferde und Hunde scheuten und stutzten, wenn sie die lange Gestalt im schwarzen Überrock aus der Zeit Albrechts des Bären einherwandeln sahen ...
[S. 117]
Frobenius merkte das natürlich sehr wohl. Er wußte sehr gut, daß der größte Teil des ungünstigen Eindrucks, den er hervorrief, auf die Verfassung seiner Equipierung zurückzuführen sei, und ging lange mit sich zu Rate, ob er nicht doch seinem Herzen einen Stoß geben und sich von Kopf bis zu Füßen bei dem ersten Uniformschneider der Garnison neu einkleiden lassen solle. — Aber das hätte ihn wenigstens vierhundert Mark gekostet, und er hatte sich nun einmal, seinen bescheidenen Verhältnissen entsprechend, fest vorgenommen, bei den Neuanschaffungen für die Übung nicht über die hundertzwanzig Mark Equipierungsgelder hinauszugehen, die ihm zustanden. Die aber waren bereits für die inzwischen eingeführten Uniformänderungen sowie für Reithosen und Reitstiefel draufgegangen ...
So trotzte er denn weiter dem Schmunzeln des Straßenpublikums wie der Zurückhaltung seiner Kameraden.
Sein einziger außerdienstlicher Umgang war Flamberg. Und das entschädigte ihn vollkommen — in ihm verehrte er, der Kunstgelehrte, den schaffenden Künstler, wie dieser seinerseits in dem Kritiker den idealen Adressaten seiner Lebensarbeit. Gar manche Stunde verbrachten die beiden Gleichgesinnten im Café, in einer Weinstube drunten in der Stadt oder auf der Stube des einen oder des andern bei kaltem Abendbrot und Flaschenbier in ernstem Geplauder über die zeitbewegenden Fragen der Malerei ... der Dichtkunst ... der Kunst überhaupt.
Dennoch füllte dieser Umgang die Mußestunden des Privatdozenten nicht völlig aus; denn Flamberg legte Wert darauf, auch außerdienstlich viel mit den aktiven Kameraden zusammen zu sein. Es war sein Grundsatz, während der acht[S. 118] Wochen Übungszeit ganz und gar sich in einen Soldaten zu verwandeln, und so wußte er auch mit der ganzen proteischen Wandlungsfähigkeit seiner Künstlerseele sich der Sprache, den Umgangsformen, der Weltanschauung des Kreises anzupassen, welchem er für diese kurze Zeit durch den Rock angehörte, den er trug.
Wilhelm Frobenius wußte sich zu trösten. Die dienstfreien Nachmittage, die kurzen Abendstunden benutzte er, um den Grundriß seiner Vorlesung für das künftige Wintersemester zu skizzieren, die das Drama des Naturalismus zum Gegenstande haben sollte.
Von Tag zu Tag hatte er die peinliche Pflicht aufgeschoben, sich bei seiner Retterin, der Tochter seines Bataillonskommandeurs, für den siegreichen Kampf mit Kuno dem Schrecklichen zu bedanken.
Für einen Menschen, der, wie er, so sicher im Kreise seines Wirkens und Schaffens zu stehen gewohnt war, mußte es ein peinlicher Gedanke sein, eine gesellschaftliche Komödie zu spielen, die für sein inneres Leben keine Bedeutung hatte und ihm doch eine Reihe von Empfindungen bringen mußte, welche die Ruhe seines Herzens gefährdeten — diese schöne Ruhe, die ihm um so wertvoller war, seitdem er eine neue Arbeit begonnen ...
Ja — die Ruhe seines Herzens gefährdeten! —
Denn, so albern ihm das auch vorkam — bei der Erinnerung an jene Szene auf der Chaussee regte sich in ihm noch etwas anderes, als bloß das Gedenken an eine peinliche und lächerliche Blamage. Es war ein dumpfer, uneingestandener Schmerz in ihm, daß seine Retterin aus der so lächerlichen wie gefährlichen Situation[S. 119] nicht nur eine Dame, daß es ... just diese Dame gewesen!
Sein arbeitsames, entsagungsvolles Jugendleben hatte ihn nicht allzu häufig in gesellschaftliche Berührung mit Damen jener Kreise gebracht, denen er seiner Lebensstellung nach heute angehörte.
Die Unzulänglichkeit seiner Verkehrsformen machte ihm das offizielle Gesellschaftstreiben zur sinnlosen Qual und ließ ihn ganz erkennen, wie inhaltleer eigentlich doch all jene Formen des Beisammenseins seien, die überhaupt Männer und Frauen seiner Kreise zusammenführten.
So war sein Verkehr fast gänzlich auf die gleichfalls unverheirateten Gelehrten jener Hochschulen beschränkt gewesen, an denen er bisher gelernt oder gelehrt hatte.
Aber nicht ungestraft beschäftigt man sich ein Leben lang mit den Schöpfungen der Kunst, der Poesie ...
Denn was ist ihrer aller Mittelpunkt? — —
Das Weib! die unabsehbare Fülle der Empfindungen und Erlebnisse, welche die Berührung der Geschlechter dem Mannesleben erschließt ...
Und so lebte unerschlossen ... unerlöst in den Tiefen dieser Gelehrtenseele die Sehnsucht aus der Theorie, aus dem Studium, aus der Nachempfindung heraus, in die Wirklichkeit ... in das Schauen ... in das Erleben ...
Das aber, was sich vor ein paar Tagen auf der Landstraße neben dem Froschtümpel abgespielt, war das nicht ein Erlebnis gewesen ... kein sehr rühmliches ... kein sehr reiches ... aber doch immerhin eine Wirklichkeit, nicht bloß der Reflex einer solchen, nicht bloß ihr Spiegelbild in einer Dichterseele ... einem Buch ... einem Werk?
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Sein erstes, sein einziges Erlebnis, und — eine Fortsetzung würde es ja doch finden müssen — den schuldigen, den längst fälligen Dankesbesuch. —
Und eines Morgens um zwölf ließ sich Wilhelm Frobenius von dem getreuen Schmitz den Überrock, frischgewaschene weiße Glacéhandschuhe und den altmodischen Helm mit dem silbernen Landwehrkreuz zurechtlegen ...
Eine halbe Stunde später stand er in einem dunkeln Salon mit Mahagonimöbeln und grünen Plüschfauteuils ... an den Wänden in schweren, goldenen Leisten tief nachgedunkelte Bilder preußischer Offiziere in den Uniformen vergangener Jahrzehnte und blasser Damen in schwarzen Krinolingewändern ... daneben in auffallendem Kontrast protzige Rahmen, welche die Bildnisse eines grobknochigen Mannes vom Typus des industriellen Emporkömmlings und einer schlichten, spießbürgerlichen Frau in violetter Seidenrobe umschlossen ...
Eine zarte Dame mit nervösem, spitzem Gesicht, unruhig flackernden Augen, scharfer, leichtgeröteter Nase und schlichtem grauen Scheitel trat aus dem Nebenzimmer herein: »Bitte Platz zu nehmen, Herr Leutnant!«
Frobenius versank fast in dem niedern Sammetsessel und hatte einige Mühe, seine langen Beine, den Säbel und Helm schicklich unterzubringen. »Gnädige Frau werden bereits gehört haben ... ich hatte neulich das Unglück ... man hatte mir ein unbrauchbares Pferd geschickt ... und Ihr Fräulein Tochter ...«
»Ach, der Herr sind Sie! —« Rücksichtslos kritisierend musterten die grauen Augen die Erscheinung des Besuchers.
[S. 121]
»Ich möchte also Ihrem Fräulein Tochter noch einmal meinen Dank für ihren gütigen Eingriff aussprechen —«
»Ach, das war wohl nicht mehr als Christenpflicht von Nelly, Herr Leutnant!«
»Werde ich die Ehre haben, das gnädige Fräulein selbst zu sehen —?«
»Meine Töchter sind wieder ausgeritten, aber sie müssen jeden Augenblick wiederkommen!«
Einen Augenblick Stille. Wilhelm Frobenius fühlte sich namenlos geniert.
Frau von Sassenbach hatte inzwischen ihre Prüfung beendet — — Nein — der Herr war ungefährlich!
Und in viel liebenswürdigerm Ton stellte sie nun die üblichen Fragen: Wie der Herr Leutnant sich im Regiment gefalle ... wie er mit seinem Kompagniechef zufrieden sei ... ob er sich auf das Manöver freue. — — Er sei ja wohl Gelehrter im Zivilverhältnis — und aus Bonn — sieh da — aus dem schönen Bonn am Rhein.
Ob er auch die dortigen Verwandten ihres Mannes, Seine Exzellenz den Generalleutnant a. D. von Sassenbach und seine Damen kenne —
Das mußte Frobenius natürlich verneinen —
Hinter seinem Rücken öffnete sich mit raschem Ruck die Tür. — Er fühlte: da ist sie — —
»Ah, sieh da — der Herr Leutnant Frobenius — na, endlich!« Schelmisch drohte das Mädchen mit dem Finger.
Sie hatte sich nicht Zeit genommen, sich umzukleiden ... schlank und straff stand sie da ... knapp umschloß das graue Reitkleid die elastische Gestalt ...
[S. 122]
Auf ihren Lippen lag ein Lächeln ... ein Lächeln von so ganz anderer Art als neulich am Froschtümpel ...
Und mit ausgestreckter Linken hielt sie dem Besucher einen stattlichen Folioband entgegen, auf dem — — sein Name stand ... »Man hat sich inzwischen mit Ihnen beschäftigt, wie Sie sehen, Herr — — Leutnant ...«
Mit einem Male überkam den Gelehrten das Gefühl einer wunderbaren Sicherheit. Schau, schau — nun wußte sie, nun mußte sie wissen, wen sie vor sich hatte ... mußte wissen, daß er nicht immer das hilflose Opfer unmöglicher Situationen war.
»Werden Sie glauben, Herr Leutnant, ich hab nicht nur Ihr Buch gelesen ... ich hab auch zum ersten Male seit meiner Pensionszeit den Schiller wieder vorgenommen —!«
»Ah — — das ist schön! — Aber nun lassen Sie mich Ihnen nochmals meinen aufrichtigen Dank —«
»Aber so schweigen Sie doch bloß von der albernen Geschichte ... das war ja nicht der Rede wert ... Ich hab Ihnen zu danken ... ich!«
Und mit peinlicher Überraschung ward nun Frau von Sassenbach die stumme Beobachterin eines Gesprächs über Gegenstände, die in ihrem Salon noch niemals verhandelt worden waren ...
Was war das ... Nelly glühte ja bei der Unterhaltung mit diesem langstelzigen Herrn, wie sie kaum je im Ballgespräch mit einem ihrer Verehrer geglüht hatte ...
»Erinnere dich, Nelly, daß wir heute mittag bei Frau von Czigorski zu Tisch gebeten sind! es wird Zeit, dich umzukleiden!«
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Der Besucher verstand. »Ich darf die Damen nicht länger aufhalten!«
»Ich hoffe, Sie werden mir noch mehr von Schiller erzählen, Herr Frobenius,« sagte das Mädchen, indem es sich erhob.
»Ich fürchte,« meinte Frobenius, »dazu wird kaum Gelegenheit sein!«
»Aber gewiß! — erstens sehen wir uns doch nächstens auf dem Regimentsfest — und zweitens werden wir doch hoffentlich bald einmal das Vergnügen haben — nicht wahr, Mama? — Herrn Frobenius bei uns zu sehen!?«
»Ich hoffe das gleiche,« sagte Frau von Sassenbach in einem Ton, der wenig mit dem Inhalt ihrer Worte stimmte ..
»Leben Sie wohl, Herr Frobenius, und seien Sie nochmals bedankt ... ja ... seien Sie bedankt ...! Auf Wiedersehn, Herr Frobenius!«
Beim Aufstehen kamen Beine und Säbel abermals in Konflikt.
Was tat's! — — Auf Wiedersehn! hatte sie gesagt — auf Wiedersehn — —
In dem Kreise der Gleichgültigen und Zurückhaltenden, in dem Frobenius sich bewegte, hatte er, ohne es zu wissen und zu ahnen, einen geschworenen verbissenen Feind.
Major von Sassenbach hatte sich beim Hauptmann Goll genau nach den Umständen erkundigt, unter denen der Reitunfall des Landwehroffiziers zustande gekommen war.
Goll hatte ihm erzählt, wie besorgniserregend sich der Gaul bereits auf dem Kasernenhof benommen — wie er[S. 124] sich dann beim Ausreiten zum Exerzierplatz zur Ruhe gegeben habe, beim Klang der ersten Schüsse aber plötzlich wie wahnsinnig geworden und nach kurzem Widerstande seines Reiters in besinnungsloser Karriere mit ihm davongerast sei.
Der Major hatte sich erinnert, daß Leutnant von Finette ihm erzählt, es handle sich um ein notorisch verdorbenes Pferd, und er hielt sich für verpflichtet, festzustellen, wie es zusammenhängen mochte, daß die Verwaltung des Tattersalls einen solchen Schinder einem Offizier zu dienstlicher Verwendung an die Hand zu geben gewagt habe.
Zufällig kam er in den nächsten Tagen an der Reitbahn vorbei, suchte den Direktor auf und beschwerte sich sehr energisch.
Der schien untröstlich, ließ sofort den Stallaufseher kommen. Dieser war sehr erstaunt, daß ihm eine Rüge zugedacht war; just dieses Pferd sei ausdrücklich verlangt worden.
Von wem denn?
Ja, das wisse er nicht mehr. Er müsse in der Liste nachsehen.
Er kam zurück, meldete: der Bursche des Oberleutnants Menshausen habe das Pferd bestellt — anzuschreiben für Herrn Leutnant der Landwehr Frobenius.
Nun wußte der Major genug.
Er sprach dem Direktor der Reitbahn sein Bedauern über das Mißverständnis aus, empfahl sich und überlegte ...
Was tun? — Offenbar hatte der kaltherzige Geselle, den der Major ohnedies nicht leiden konnte, dem harmlosen[S. 125] Landwehrfritzen einen infamen Streich gespielt — Was war nun anzufangen —? Frobenius Mitteilung machen —? Aber dann mußte es ja Mord und Totschlag geben — — Nein — er wollte sich den intriganten Herrn privatim vorbinden.
Bei nächster Gelegenheit stellte er Menshausen: »Herr Oberleutnant, Ihr Bursche hat am vergangenen Donnerstag vormittag im Tattersall ein Pferd abgeholt — war das für Sie oder für jemand anders?«
Das fahlbraune Gesicht des Oberleutnants wurde noch um einen Ton fahler ... die aufgedrehten Schnurrbartspitzen zuckten leise ... »Das war — für jemand anders, Herr Major!«
»Für wen denn?«
»Für den Leutnant der Landwehr Frobenius!«
»Wie kamen Sie dazu?«
»Der Bursche des Herrn Frobenius wußte noch nicht Bescheid im Tattersall!«
»So — und da haben Sie ihm also freundlicherweise den Ihrigen zur Verfügung gestellt?«
»Zu Befehl, Herr Major!«
»Und — wie war es denn möglich, daß der Bursche mit dem notorisch unbrauchbaren und gemeingefährlichen Viech angezogen gekommen ist?«
»— — Woher soll ich das wissen, Herr Major!? — ich bedaure das selbst aufs lebhafteste — ist eben 'ne kolossale Schweinerei von den Stallburschen im Tattersall.«
»Hm — also Sie hatten dem Burschen keine Anweisung gegeben, welches Pferd er bringen solle?«
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»Ich, Herr Major? — —«
In diesem Augenblick stieg eine dunkle Welle in das schnauzbärtige Antlitz des Stabsoffiziers ... die starken Kinnmuskeln begannen mächtig zu arbeiten ... zwischen den zusammengepreßten Lippen drang keuchend der Atem hervor und blies die lang herabhängenden grauen Schnurrbartborsten in die Höhe ...
Herrgott, der Major wußte Bescheid! — Wie? — das mochte der Teufel wissen —!
»Ich bitte ganz gehorsamst um Verzeihung, Herr Major — ich habe die Unwahrheit gesagt —«
»Das heißt: Sie haben mich unverschämt belogen, Herr! — Frech und schamlos belogen haben Sie mich!!«
»Herr Major, ich muß ganz gehorsamst bitten —«
»Gar nichts bitten müssen Sie ... Soll ich Sie dem Ehrenrat melden —?! Wissen Sie, was dann mit Ihnen passiert?!«
Totenblaß, mit bebenden Lippen stand Menshausen vor dem Vorgesetzten ... die weißbehandschuhte Rechte am Mützenschirm flatterte hin und her ...
»Haben Sie gewußt, daß der Herr von der Landwehr keinen Schimmer vom Reiten hatte?«
»Nein, Herr Major — ich habe ihn erst am Tage vorher beim Mittagessen kennen gelernt.«
»Na, und da haben Sie ihm nicht auf den ersten Blick angesehen, daß er nicht der Mann ist, einen solchen Racker zur Räson zu bringen?!«
Menshausen schwieg.
»Geben Sie also zu, daß Sie sich einer Infamie schuldig gemacht haben?«
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»Herr Major —!«
»Geben Sie's zu —?! Oder wollen Sie's vom Ehrengericht bescheinigt haben?! — Nicht nur, daß Sie sich skandalös unkameradschaftlich benommen haben ... Sie haben ein Menschenleben in Gefahr gebracht ... Na, und Sie wissen ja auch, wem Sie's zu verdanken haben, daß Sie nicht als fahrlässiger Mörder dastehen —! Genügt Ihnen das nicht, um einfach in den Boden zu sinken, Sie — —? Also noch einmal: geben Sie zu, daß Sie sich ganz unqualifizierbar benommen haben — geben Sie's zu —?«
»Es — es — — soll nicht wieder vorkommen, Herr Major!«
»Ich denke in diesem Augenblick daran, daß Ihr verstorbener Herr Vater ein Kriegsschulkamerad von mir gewesen ist ... dazu können Sie sich gratulieren ... sonst — — Aber ich werde Sie im Auge behalten, Herr Oberleutnant — verlassen Sie sich darauf! Danke —!!«
— — Für diese Stunde hatte Menshausen Rache geschworen.
Ohne daß Frobenius eine Ahnung davon hatte, umlauerte Menshausen seinen ganzen Lebenswandel, dienstlichen und außerdienstlichen ... Irgendwo würde man schon etwas finden, wo man hinterhaken könnte ...
Es war ja doch auch reinweg zum Verrecken ... immer kam aller Ärger von den verdammten Gehirnfatzken, die dem ehrlichen Soldaten hier in seine Arbeit hineinkorksten ...
Vor wenig Tagen hatte er draußen bei der Felddienstübung wegen des versedrechselnden Einjährigen einen Riesenanriß besehen ... und nun diese gottverfluchte Schweinerei,[S. 128] die ihn das Wohlwollen seines Bataillonskommandeurs gekostet hatte! —
Das sollte nicht vergessen werden —!
Während die Reserveoffiziere sich bei den höhern Vorgesetzten lediglich dienstlich zu melden hatten, war es üblich im Regiment, daß sie ihrem Kompagniechef noch einen gesellschaftlichen Besuch in dessen Wohnung abstatteten; bei den verheirateten Herren pflegten sie aber zwei Karten nur dann abzugeben, wenn sie dazu besonders aufgefordert wurden.
Das lag ja bei Martin Flamberg vor ...
Eines Morgens nach dem Dienst warf er sich in Besuchsanzug, um Frau von Brandeis seine Aufwartung zu machen.
Er hatte, wie täglich bei der Rückkehr von der Kaserne, ein zärtliches Briefchen seiner Braut vorgefunden, und während er sein zweites Frühstück verzehrte, überlas er, ein stilles Lächeln um die Lippen, die beglückenden Zeilen ...
Agathe richtete zurzeit daheim das eheliche Nest ein und meldete freudestrahlend, daß die Saloneinrichtung aufgestellt sei ...
»Auch noch für ein anderes Zimmer sind die Möbel angekommen. Denk dir selbst, du Schlimmer, für welches!«
Ach, du süßes, süßes Mädel! ... Herrgott, nur sieben Wochen noch! —
Er schob den Brief in den Ärmel seines Überrocks und machte sich auf den Weg.
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Eine Weile noch spann seine Phantasie die holdseligen Träume weiter. Dann aber begannen sich seine Gedanken mit dem Ziel seines Besuches zu beschäftigen.
Er hatte genug im Regiment von Frau von Brandeis gehört, um zu wissen, daß er einem nicht ganz gewöhnlichen Erlebnis entgegengehe.
Niemand wollte so recht begreifen, wie Herr von Brandeis an diese Frau gekommen war.
Ein liebenswürdiger Herr von tadellosen Manieren, einigem Unterhaltungstalent und auch von durchschnittlichen militärischen Fähigkeiten.
Daß er allerdings einmal im Schießen mit seiner Kompagnie den Kaiserpreis davongetragen, das schrieb man weniger seinen eigenen Bemühungen zu, als der Tüchtigkeit seines Kompagnieoffiziers, des nunmehrigen Regimentsadjutanten, Oberleutnant von Schoenawa. Und so mißgönnte man ihm ein klein wenig den Roten Adlerorden vierter Klasse, den er diesem glänzenden Schießresultat seiner Kohorte verdankte.
Was man aber als ganz und gar wohlverdient ansah, das waren die zahlreichen Frühstücksorden, die ihm zuteil geworden waren, wenn er das Regiment bei Fürstenbesuchen und Hoffestlichkeiten zu vertreten hatte; denn seine Repräsentationstalente waren beträchtlich, und Englisch und Französisch sprach er wie seine Muttersprache.
Aber das alles waren doch keine Qualitäten, die Anspruch auf die Gunst einer Dame, wie seine Frau war, gewährten!
Frau Cäcilie war vor anderthalb Jahren dem Regiment wie ein Stern aufgegangen ...
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Jeder kannte die Höhe ihrer Mitgift und wußte, daß sie auf ein noch ganz anderes Vermögen Anwartschaft hatte, wenn sie einmal ihre noch recht rüstigen Eltern in Wiesbaden beerben würde.
Inmitten eines Offizierkorps, dessen Angehörige weder von Hause aus noch im großen und ganzen infolge ihrer ehelichen Verbindungen durch namhafte Vermögen ausgezeichnet waren, gab soviel Geld immerhin die Folie des Außergewöhnlichen.
Aber mehr noch als diese äußeren Güter war es der Ruf ihrer eigenartigen Schönheit, ihres Geistes und ihrer Talente, was sie hoch über das Durchschnittsniveau der im Regiment vertretenen Weiblichkeit heraushob und die erstaunte Frage berechtigte, wie eine solche Dame sich mit einer glatten Mittelmäßigkeit wie Fritz von Brandeis habe begnügen können! —
Es herrschte in den gesellschaftlichen Beziehungen der Herren des Regiments zu seinen Damen im allgemeinen ein ausgezeichneter Ton. Die Frauen und Töchter der Kameraden galten auch den ausgesprochensten Don Juans als Tabu.
Um die schöne Frau von Brandeis aber, die Tochter der Künstlerstadt, wehte es wie ein geheimnisvoller Hauch von Seltsamem ... geheimnisvoll Lockendem ... der sie aus der Schar der bieder korrekten Frauen und Mädchen heraushob, die man sonst an der Seite der Kameraden zu sehen gewohnt war ...
Und die keckern unter den jüngern Herren hatten denn auch in aller Vorsicht einmal Fühler ausgestreckt — aber sie waren rasch und gründlich enttäuscht worden —
[S. 131]
Frau von Brandeis war eine ebenso tadellose wie zärtliche Gattin —
Oberleutnant Menshausen, der Abgott aller Nähmädchen und Ladenmamsells der Garnison, hatte im Vertrauen auf eine nicht unbeträchtliche Reihe von Erfolgen auf gefährlichen Gebieten einmal einen etwas schärfern Ansturm riskiert ... aber die schöne Frau hatte ihm in einer Weise heimgeleuchtet, die ihm ein für allemal den Mut zu weitern Versuchen benommen hatte.
Von alledem hatte Martin Flamberg in den letzten Tagen im Kasino genug gehört, um mit einiger Spannung seinem heutigen Erlebnis entgegenzusehen ...
Nun, er war ja abgehärtet ... mochte Frau von Brandeis immerhin ein kleines Wunder sein ...
Wenn er die Reihe strahlender Schönheiten an sich vorüberziehen ließ, die im vergangenen Sommer seinem Pinsel gesessen hatte, so brauchte er nicht zu befürchten, in Versuchung zu kommen ... Agathe konnte ganz ruhig sein! —
Sein erster Eindruck war eine gewisse Enttäuschung ... Unwillkürlich hatte er sich ein Bild der vielberedeten Erscheinung gemacht ... groß — königlich — brünett ... Nun war sie einen Kopf kleiner als er selbst, von rötlich-braunem, flimmerndem Haar, zarten Farben, lebhaftem, etwas unruhigem Auge ... Gewiß ein sehr anmutiges Geschöpf ... aber für ihn, den Verwöhnten, doch nichts Außergewöhnliches ...
Mit großer Lebhaftigkeit leitete Frau Cäcilie das Gespräch ein: »Ich entsinne mich sehr wohl, Herr Flamberg, Ihnen einmal in Gesellschaft begegnet zu sein!«
[S. 132]
»Ah, bei Kommerzienrat Trinkaus, nicht wahr, meine Gnädigste?«
»Gewiß, bei Trinkaus. Ich weiß noch, Sie haben einen auffallend schlecht sitzenden Frack getragen ... Daran hab ich gleich gemerkt: der muß was Besonderes sein ... Wenn einer bei Trinkaus so schlecht angezogen herumlaufen darf, das ist sicher ein Genie ...«
»Stimmt, stimmt!« lachte Flamberg, »gepumpt für zwei Mark fünfzig!«
»Heute scheinen Sie etwas mehr auf Schneider zu halten!?«
»Geschäftssache, gnädige Frau! — Ein gewisses Publikum glaubt nur an Künstler, die in erstklassigen Ateliers arbeiten lassen können!«
»So — und das können Sie also!?«
»Man schlägt sich so durch, gnädige Frau!«
»Ich glaub's ... Sie müssen nämlich wissen, Herr Flamberg, ich war diesen Juni mit meinem Mann auf Urlaub in Berlin ... Da hab ich Ihre zwei Bilder in der Sezession gesehen ... Wissen Sie, was mein Mann damals zu mir sagte? Du, so ein Bild möcht ich von dir haben!«
Aha — dachte Martin Flamberg, darauf will's also hinaus ...
»Ich beneide Sie!« fuhr die schöne Frau fort, »ich beneide euch Künstler überhaupt!«
»Beneiden? — um was?«
»Wie soll ich sagen — Sie sitzen hier friedlich und plaudern oder strampeln draußen auf der Heide herum und führen Ihren Zug ... und derweile reisen Ihre Bilder in[S. 133] der Welt herum ... reden zu Tausenden, was für ein Kerl Sie sind ... Ist das nicht beneidenswert? — Ich möchte es — die Fernwirkung Ihrer Persönlichkeit nennen!«
»Ach, gnädige Frau, mich dünkt ... viel beneidenswerter als solche Fernwirkung, von der man schließlich doch nichts hat ... viel beneidenswerter muß die Nahwirkung sein, die eine schöne Frau ausübt.«
»Ach je, die Nahwirkung ... auf wen denn? ... Wen hab' ich denn, um ›nahzuwirken‹? Die Stabsoffiziere ... grämlich ... früh verbraucht — die Hauptleute ... dienstgehetzt — dazu die streberhaften Oberleutnants und die ungaren Leutnants ...«
»Sie urteilen sehr hart, gnädige Frau ... Diese Herren sind doch die Kameraden, die Berufsgenossen Ihres Gatten.«
»Ums Himmels willen, hab ich mir mal wieder den Mund verbrannt!? — Na, das bleibt doch unter uns, nicht wahr, Herr Flamberg?«
»Selbstverständlich! — Nun ja ... ich kann's mir schließlich vorstellen ... Sie kommen aus so ganz andern Kreisen ... Aber ich meine, auch Ihnen müßte das doch imponieren, diese unermüdliche, opferfreudige Kleinarbeit, die hier geleistet wird!«
»Kleinarbeit ... ja wahrhaftig, Kleinarbeit!«
»Aber eine sehr wichtige und nützliche Arbeit! — Flößt Ihnen das denn keinen Respekt ein?«
»Respekt — o ja!«
»Und schließlich — was geht Sie am Ende das Milieu an, in dem Sie leben? — In einer Häuslichkeit wie dieser ... an der Seite eines liebenswürdigen, ritterlichen Gatten, wie der Ihre ist ...«
[S. 134]
»O ja!«
Schon wieder dies »O ja!« — Dies »O ja!«, das er so gut kannte! —
Das kam ja immer zuerst, wenn eine verheiratete Frau zu kokettieren begann ... dies korrekt sich stellende, zugleich aber leises Bedauern, heimliche Enttäuschung andeutende »O ja« über den Gatten — —
Äh ... sie waren doch alle gleich ... alle, alle versuchten sie dies ewig gleiche, langweilige Spiel ... dies Spiel, das eben doch nichts weiter war und bleiben sollte, als ein Spiel ... ein Flirt ... eine inhaltlose Sensation!
Ein ernsthaftes Abenteuer — ach, dazu waren sie ja doch fast alle zu feige ... zu satt und zufrieden am Ende in ihrem warmen Nest ... aber sich einen Flirt versagen zu können ... dazu waren sie doch wieder alle zu unausgefüllt ... zu unvornehm ... zu charakterlos ...
Gräßlich, dies frivole, ziellose Spiel mit den heiligsten Dingen ... mit Treue und Leidenschaft ... Wie rasch man das durchschaute ... wie rasch der pikante Reiz der ersten derartigen Erlebnisse verweht war ... und dann widerte es einen nur noch an ... Also von der Sorte war auch diese da ...!
Fast brüsk brach er auf und empfahl sich.
»Wir hoffen, Sie nächstens bei uns zu sehen, Herr Flamberg!«
Klischee, Klischee — — Und so etwas galt im Offizierkorps als eine Art höheres Wesen —
Schade — ein hübsches Bildchen hätte sie schon abgegeben: die schwermütigen braunen Augen unter der weißen[S. 135] Stirn, mit dem rostfarbenen, straffen Haarkranz darüber und ... Eine feine Schulterlinie hatte sie gewiß auch ... Der Unterarm, die feine, nervöse Hand ... Das war vielversprechend gewesen —!
Ausführlich und sehr lustig berichtete er an Agathe.
Schon einige Tage später konnte Martin Flamberg sich überzeugen, daß sein Künstlerauge recht vermutet hatte.
Drei Tage nach seinem Besuch lud ihn ein silbergraues Kärtchen zu einer Abendgesellschaft in kleinem Kreise ... ein Kärtchen, bekritzelt mit einer seltsamen Handschrift: feste Auf- und Abstriche, doch umschwirrt von einem kapriziösen Gewirr hin- und herfahrender Schnörkel ... links oben in der Ecke ein Doppelwappen, vermutlich das Adelswappen derer von Brandeis und das bürgerliche der alten Düsseldorfer Patrizierfamilie, aus der die junge Frau hervorgegangen ... Freilich! sie konnte es sich leisten, das Wappen ihrer Sippe neben dem adeligen aufzupflanzen ...
Er führte die Frau des Hauses zu Tisch — — Außer ihm: Major von Sassenbach mit Frau und Töchtern, Oberleutnant von Schoenawa und Leutnant Blowitz.
Heute sah er sie ganz anders.
Die drei andern Damen, die Offiziere, nicht zuletzt der Gatte, gaben dieser Frau eine Folie, die sie seltsam hob ... In dieser Umgebung, wahrhaftig, erschien sie wie ein hinverwehtes Wunder.
Aller Augen hingen an ihr; sie beherrschte die Unterhaltung.
[S. 136]
Spießbürgerliche Mißbilligung lag auf dem spitzen Gesicht der Frau von Sassenbach ... rötete ihre Nase ... ließ ihre grauen Augen in frostigem Pharisäertum funkeln ...
Die stattlichen Majorsmädel verschlangen die elegante junge Frau in naiver Bewunderung ...
Leutnant Blowitz, ein braver Junge, huldigte ihr mit knappenhafter Ergebenheit ...
Schoenawa, ein kalt beherrschter Energiemensch, verfolgte jede ihrer Bewegungen mit verschlossenem, finsterm Ernst ... Nur zuweilen flimmerte in seinen frostigen schwarzen Augen ein heißer Strahl; der verriet Martin Flambergs geschultem Malerauge: auch dieses Mannes Seele, soviel er davon besitzen mochte, stand im Banne der Hausherrin ...
Ihr Gatte glänzte übers ganze Gesicht vor demütig anbetender Bewunderung, vor Glück und Stolz, der legitime Besitzer so vieler Herrlichkeit zu sein ...
All diese Verehrung, diese teils freiwillige, teils widerwillige Bewunderung steckte den Maler an.
Und wirklich ... sie sah strahlend aus ... sie trug eine fraisefarbene Seidenrobe, überrieselt von einem bronzefarbenen Spitzengewirk ... Der Ausschnitt ließ eine Schulterlinie von adeliger Zeichnung frei, den Hals mit leisem Rosa angetönt ... ihn umzog ein dünnes goldenes Kettchen mit einem smaragdgrünen Darmstädter Glasschmuck ... Für Maleraugen ein Fest ...!
Das sprach er nach Tisch bei der Zigarre dem Hauptmann aus.
Der griff die Andeutung rasch und gewährungsfreudig auf.
[S. 137]
Martin merkte, er war einem geheimen Wunsch seines Kompagniechefs entgegengekommen ...
Und zwei Tage später stand der Maler im Wintergarten der Villa Brandeis mit Pinsel und Palette der Hausherrin gegenüber. Flamberg hatte sich ein förmliches Atelier zwischen den Palmen und Skabiosen improvisieren dürfen. Als Hintergrund hatte er eine spanische Wand aufgestellt und eine blaßrosa Sammetdecke darüber aufgehängt, die er in einem der Salons entdeckt hatte.
Er selber trug über der grauen Litewka eine grobe blaue Küchenschürze, die Frau Cäcilie persönlich unter Lachen und Scherzen ihm umgebunden ...
Und nun durfte er sie ungeniert und gründlich betrachten, wie sie vor ihm im Sessel lehnte in dem Kostüm von neulich, das er sich ausgebeten hatte ... in der fraisefarbenen Seidenrobe mit dem rieselnden Gewirk bronzener Spitzen ... mit dem geraden Ausschnitt, der die herrliche Schulterlinie enthüllte ...
Seltsam war ihr zumute unter dem durchdringenden, enthüllenden Blick der braunen, durstigen Künstleraugen ... Weich ... hingebend ... opferfroh ...
Einmal trat der Maler auf sie zu, um ein paar Falten ihres Gewandes anders zu ordnen ... da durchschauerte es sie ... unwillkürlich schloß sie leise die Augen ... neigte das flimmernde, duftende Haupt zurück ...
Martin Flamberg mußte sich zusammennehmen ... mußte mit Gewalt an seine ferne Agathe denken ...
Und das war nun jeden zweiten Tag ein paar Stunden ... jeden zweiten Tag ...
[S. 138]
Manchmal kam Hauptmann von Brandeis vom Nachmittagsbesuch im Kompagnierevier zurück, steckte, freundlich lächelnd, den Kopf ins »Atelier«, warf einen prüfenden Blick auf die Fortschritte des Abbildes ... einen strahlenden auf das Original ...
Das Lächeln, das diesen Blick erwiderte, ward täglich matter und matter ... Brandeis merkte es nicht.
»Wie finden Sie meinen Mann?« fragte Frau Cäcilie einmal den Künstler.
»Ich bin ihm sehr gut, er ist so eine wahre Natur, durch und durch echt — so etwas empfinden wir stets als besonders wohltuend — wir verlogenes, verdorbenes Künstlergesindel, wir —«
»Verlogen und verdorben — seid ihr alle so —?«
»Alle ... das liegt in unserm Handwerk ... das ganze Leben ist uns ja doch nur ein Vorwand ... alle Menschen sind uns nur Mittel zum Zweck ...«
»Aber zu was für einem Zweck —!«
»Zu keinem schlechten — das weiß Gott! — Aber die Menschen, die mit uns umgehen, sind dennoch immer betrogen ... wir nützen sie aus, und sie dürfen's nicht merken ... beileibe nicht ... daß sie uns nichts sind als Modelle!«
»Das sagen Sie — ein Bräutigam?«
»Das ... steht auf einem andern Blatt, gnädige Frau ...«
»Also doch nicht so ganz Übermensch ... doch irgendwo ein Fleckchen in Ihrem Herzen, wo man sich anbauen kann?! —«
Martin Flamberg malte und schwieg.
»Heut abend bleiben Sie zum Tee bei uns! — Mein Mann kommt erst um acht Uhr aus der Kaserne zurück —[S. 139] Sie werden mir inzwischen Gesellschaft leisten, und ich werde Ihnen etwas vorsingen!«
Martin Flamberg atmete tief auf ... »Wer könnte da ›nein‹ sagen —?«
»Ich habe schon lange auf die Gelegenheit gelauert, Ihnen zu zeigen ... ein bißchen Wer bin ich auch ... ein bißchen mehr als all die Kommißgänschen hier herum ... ein ganz klein bißchen pass' ich auch in die Welt, in der Sie heimisch sind —«
— — Und Frau Cäcilie saß am Flügel ...
Sie schien zu wachsen, als nun die ersten Akkorde aufschauerten unter den schlanken, nervösen Fingern ...
Nur die Kerzen am Instrument brannten im Zimmer ... warfen gelbe Lichter auf die erdbeerfarbene Seide ... flimmernde Reflexe in die straffe Haarkrone — darunter schimmerte die weiße Stirn mit mattem Opalglanz ...
Nun öffnete sich sanft der schmale Mund ... und weiche Töne quollen durchs Zimmer:
Martin saß im Halbdunkel. Ah, Straußens »Freundliche Vision« — die dunkelschwüle Weise, wie sie zu der Stunde paßte ... Martins Seele löste sich ganz ... ein heißes Fluten hub an, wogte und webte durcheinander ...
Mit einer, die mich lieb hat ... Agathe ... Agathe ...
[S. 140]
Gewaltsam hatte Martin die Erregung zurückzudrängen versucht, die aus der Tiefe seiner Seele in seine Augen quoll ... Nun übermannte es ihn plötzlich ...
»Herr Flamberg, was haben Sie —?«
»Ich habe heim gedacht ... heim gedacht an ein fernes Mädchen — das hat keine Ahnung, daß ich in diesem Augenblick —«
»Nun — was?«
»— daß ich einer Stimme lausche ... einer Stimme, die nicht die ihre ist ...«
»Nun — und was ist dabei?«
»Viel ist dabei — — —«
»Ach Sie — Sie Künstler Sie — ich weiß ja, alles nur Vorwand, alles nur Modell ... Sie haben's ja selbst gesagt.«
»Gnädige Frau —!«
»Haha ... nun wollen Sie's wohl gar nicht Wort haben ... aber Sie haben sich verraten ... Nun dürfen Sie sich nicht wundern, wenn man Sie nicht so tragisch nimmt!«
Die junge Frau ging mit raschen Schritten zum Flügel zurück ... schlug einen schrillen Akkord an ... ging in eine tolle Walzermelodie über ... dann brach sie plötzlich ab, sang zu übermütiger Weise abermals einen Bierbaumschen Text:
»Ah, ihr musiziert? — Das ist recht ... und so lustig! — Das freut mich! Entschuldige, liebes Kind, daß ich so spät komme ... und auch Sie, lieber Flamberg ... danke Ihnen, daß Sie meiner Frau Gesellschaft geleistet haben ...!«
[S. 141]
— — An diesem Abend vergaß Martin Flamberg zum ersten Male, vorm Schlafengehen am Sternenhimmel Agathens Augen zu suchen.
Am 17. August, am Vorabend des Tages von Gravelotte, wurde das Regiment aus der Stimmung der Festvorbereitung durch eine plötzliche Trauerkunde gerissen: Seine Durchlaucht der Erbprinz von Nassau-Dillingen, der Kommandeur des rheinischen Armeekorps, war nach kurzer Krankheit in Koblenz gestorben.
Wenige Stunden nach Ankunft der Trauernachricht kam auch bereits die Allerhöchste Kabinettsorder, nach welcher die Offiziere des Armeekorps auf vierzehn Tage Trauer anzulegen hatten.
In dieser Zeit eine große Feierlichkeit mit Musik und Tanz zu begehen, das wäre nicht schicklich erschienen. Und so mußte das lange vorbereitete Regimentsfest bis zu einem andern großen nationalen Gedenktage, dem Tage von Sedan, aufgeschoben werden. Dieser Tag hatte sonst für das Regiment nur die allgemeine patriotische Bedeutung, nicht die spezielle eines Ruhmestages: denn das rheinische Armeekorps hatte ja bei Sedan nicht mitgefochten.
In anderer Beziehung aber klappte es mit der Verlegung recht hübsch. Der 2. September fiel nämlich auf einen Sonntag. Und da am Dienstag, den 4. September, die Abfahrt ins Manövergelände im Hunsrück angesetzt war, so blieb Montag, der 3., zum Packen, und das Regimentsfest wurde so, außer einem Begrüßungsfest für die Kommandeuse, zugleich ein Abschiedsfest.
[S. 142]
Für die aktiven Herren bedeutete das Ausrücken ins Manövergelände einen dreiwöchigen Abschied aus der Garnison.
Die Offiziere des Beurlaubtenstandes würden überhaupt nicht mehr in die Garnison zurückkehren; sie würden sich am letzten Manövertage nach Schluß der Übung bei der Kritik abmelden können und galten damit als entlassen, um von der nächsten Bahnstation aus auf dem kürzesten Wege in ihre Heimat zurückkehren zu können.
— Die letzten Wochen vor dem Feste waren verhältnismäßig ruhig verlaufen.
Martin Flamberg hatte das Bild der Frau von Brandeis vollendet, und damit war für ihn die Veranlassung zu seinen regelmäßigen Besuchen in der Villa Brandeis weggefallen, nachdem im Kreise der Intimen des Hauses bei einer Sektbowle »Firnistag« gefeiert worden war ...
Am folgenden Morgen hatte Hauptmann von Brandeis auf dem Rückmarsch von der Felddienstübung den hinter ihm marschierenden Flamberg an die Seite seines Pferdes gewinkt und hatte mit ihm in schnellerem Tempo einige Schritte Vorsprung vor der marschierenden Kompagnie gewonnen:
»Nun sagen Sie mal, lieber Flamberg, wir wollen uns ganz offen darüber aussprechen — und ich denke, Sie nehmen mir das wohl nicht übel — Sie haben mir da das ersehnte Bild meiner Frau gemalt. Und Sie wissen ja, ich bin in ganz erfreulichen Verhältnissen. Bitte, machen Sie mir jetzt Ihren Preis, und genieren Sie sich durchaus nicht, die Sätze zu berechnen, die Sie auch sonst von Ihren Auftraggebern beanspruchen.«
[S. 143]
Martin Flamberg sann einen Augenblick nach. Er fand es sehr richtig und vornehm von Herrn Brandeis, daß er es seiner, des Malers Entscheidung überließ, wie er die Angelegenheit auffassen wolle:
»Ich bitte ganz gehorsamst, Herr Hauptmann, mir gestatten zu wollen, meine Arbeit Ihrer Frau Gemahlin als bescheidenen Ausdruck meines Dankes für liebenswürdige Gastfreundschaft zu Füßen zu legen, und Ihnen, Herr Hauptmann, als gleich bescheidenen Dank für die gütige Aufnahme, die ich schon zum zweiten Male bei der Königlichen Ersten gefunden habe!«
Brandeis markierte liebenswürdige Verlegenheit: »Aber lieber Flamberg, wie soll ich das nur wieder gut machen?«
»Das haben Herr Hauptmann bereits vorher getan! Nur eine Bitte möchte ich mir gestatten auszusprechen, vorausgesetzt selbstverständlich die Zustimmung Ihrer verehrten Frau Gemahlin: ich möchte bitten, mir zu erlauben, das Bild im nächsten Frühjahr in Berlin auszustellen!«
»Na, lieber Flamberg — — selbstverständlich werde ich ja den Fall mit meiner Frau besprechen müssen ... aber ich zweifle nicht im geringsten daran ... daß sie stolz sein wird, in solch einer meisterhaften Verkörperung ... vor der staunenden Mitwelt paradieren zu dürfen ...«
— — »Ja, was machen wir da, Cäcilie?« fragte Brandeis daheim, nachdem er berichtet hatte. »Eigentlich ist mir die Sache ein bißchen fatal ... das Bild ist ja ein fürstliches, ein unbezahlbares Geschenk ... das kann ich ja eigentlich gar nicht annehmen von dem fremden Herrn.«
[S. 144]
»Da wird uns wohl nichts anderes übrig bleiben!« meinte Frau Cäcilie, »jedenfalls müssen wir uns in irgendeiner Form revanchieren.«
»Da fällt mir was ein: Flamberg ist doch verlobt und heiratet unmittelbar nach dem Manöver. Da werden wir ihm also ein schönes Hochzeitsgeschenk machen!«
»Aber bitte, nicht etwa einen Wertgegenstand, der auch nur einigermaßen wie eine Bezahlung aussieht!«
»Ne, selbstverständlich das nicht!« lachte der Hauptmann, »das möchte uns auch wohl doch ein bißchen schwer fallen! — Weißt du, daß er für jedes der Bilder in der Sezession fünfzigtausend Mark bekommen hat?«
»Mir fällt noch etwas anderes ein ... selbstverständlich, das mit dem Hochzeitsgeschenk, das wird gemacht ... aber ich werde der Braut einen prachtvollen Korb Rosen schicken mit unserer Visitenkarte!«
Der Hauptmann war einverstanden. Und Frau Cäcilie ließ ein riesiges Arrangement prachtvoller La-France-Rosen zusammenstellen. Dazu sann sie sich noch etwas anderes aus: sie ließ Flambergs Werk photographieren und fügte eines der Bilder ihrer Sendung an die Braut des Malers bei. Zu dieser Sendung schrieb sie selbst ein paar Begleitzeilen:
»Mein sehr verehrtes gnädiges Fräulein, empfangen Sie hierbei das Abbild des jüngsten Meisterwerkes Ihres Herrn Bräutigams, und erlauben Sie dem Original und dem künftigen Mitbesitzer des herrlichen Werkes, Ihnen die herzlichsten Wünsche zu Ihrer demnächstigen Vereinigung auszusprechen.
Ein Mann, dem wir andern alle nichts sind als der gleichgültige äußere Anstoß für sein Schaffen, nichts als ein Motiv, ein Modell, das man festhält mit raschem, unfehlbarem Pinsel, und das dann, ach so schnell, einem neuen Platz machen muß, nichts als ein paar bunte Farbflecke in der Außenwelt — — einem solchen Mann dürfen Sie Lebensgesellin sein — Sie Glückliche. —
Empfangen Sie unsre aufrichtigsten Empfehlungen.
Fritz und Cäcilie von Brandeis.«
[S. 145]
Als Agathe van den Bergh diese Zeilen las, gab es ihr einen Ruck am Herzen ... Lange, lange studierte sie die Züge der Photographie, die klare Schrift mit den festen Grundzügen und dem kapriziösen Schnörkelgerank ...
So war es nun schon die zwei Jahre hindurch gewesen: jedesmal, wenn sie ein neues Werk des Geliebten sah, hatte sie dies dumpf nagende Wehgefühl ... Es war nicht Eifersucht ... es war der unbegriffene Schmerz der reinen Mädchenseele, die empfand, daß sie dem geliebten Manne nicht alles — nicht alles war — niemals alles werden würde — ach nein, niemals mehr denn ein kleiner, kleiner Ausschnitt aus seiner Welt —
Es war nicht Mißtrauen ... nur das geheime Grauen war's des ahnenden Mädchenherzens vor den Abgründen im Leben, in der Sehnsucht, in der Vergangenheit und Gegenwart des Mannes ... des Künstlers.
Am vorletzten Samstag vor dem Ausrücken — es war der 25. August — ging Martin Flamberg auf einen viertägigen Urlaub nach Düsseldorf ...
[S. 146]
Wie im Fluge verstrichen ihm die wenigen Stunden der Heimfahrt ...
Welch ein Sturm in ihm ... welch ein Sturm der Gefühle — der Leidenschaften — der Gedanken — der Grübeleien und Träume ... Agathe hatte ihm den großen Frieden seines Lebens bringen sollen — ihn ausfüllen bis in die Tiefen seiner Seele ... Er hatte gewähnt, in ihr jene große Liebe gefunden zu haben ... jene große Liebe, von der alle Menschen träumten ... und die Künstler heißer und sehnsüchtiger denn alle andern ... und nun — —
Seine Besuche bei Frau Cäcilie hatten nun aufgehört, und seitdem erst war es ihm ganz bewußt geworden, was diese Besuche ihm bedeutet hatten ... Nein wahrlich, was seitdem in seiner Seele fieberte und stürmte, das hatte wenig Ähnlichkeit mit dem großen Frieden, den er erhofft ...
Agathe empfing ihn am Bahnhof. Der Präsident van den Bergh begleitete seine Tochter.
Martin fühlte, wie seine Braut ihn prüfend ... angstvoll beobachtete ... Er fühlte es, ohne daß er den Zusammenhang begriff; denn Agathe hatte es nicht übers Herz bringen können, auch nur ein Wort über die Sendung der fremden Dame und das seltsame Briefchen, das sie begleitet hatte, an ihren Verlobten zu berichten ...
War es so etwas wie böses Gewissen, was Martin Flamberg hellsichtig machte für die verhohlene Befangenheit seiner Erkorenen ...? Er gab sich lebhaft ... heiter ... ungezwungen ... mit fast lärmhafter Lustigkeit ... Und dabei fühlte er doch, daß sie seine Absicht durchschaute ...
»Nun, Martin,« sagte der Präsident bei der Heimfahrt, »Sie haben inzwischen auch wieder eine neue Arbeit vollendet?«[S. 147] Der Präsident hatte sich noch heute nicht entschließen können, seinem Schwiegersohn das väterliche Du entgegenzubringen.
»So, hat Agathe Ihnen erzählt — ja gewiß, Papa, ich habe meine Zeit gründlich ausgenutzt.«
»Eine schöne Frau! — Ich erinnere mich ihrer noch sehr gut ... als Backfisch machte sie Furore in unsern Salons ... aber sie muß sich inzwischen noch mächtig herausgemacht haben, nach Ihrem Bilde zu schließen.«
»Aber — woher wissen Sie, Papa —?«
Dunkelglühend, mit niedergeschlagenen Augen sagte Agathe: »Die Dame hat mir einen prachtvollen Rosenstrauß geschickt ... und eine Photographie ihres Bildes ...«
»Und davon hast du mir nichts geschrieben!?«
»Ich dachte, sie hätte es dir selber gesagt.«
»Nein, das hat sie nicht — ich habe sie auch nicht mehr gesehen, seit das Bild fertig ist ...«
— — Zu Hause, im ersten Augenblick des Alleinseins warf sich Agathe mit einem leisen Stöhnen an seine Brust, sah ihm tief in die Augen: »Ach, Martin, kommst du mir so wieder, wie du gegangen bist — —?«
»Aber Kind — was hast du nur?!«
Stumm zeigte ihm Agathe Cäciliens Bild und Brief ...
Tief atmend überflog Martin die seltsamen Zeilen ... Gott, sie sagten ihm ja nichts Neues ... er wußte ja doch schon ... Aber Agathe mußte beruhigt werden ...
Wie sie so vor ihm stand, da glich sie so ganz wieder jener Gestalt, die das Faustbuch von Wilhelm Frobenius in seiner Phantasie lebendig gemacht ... ganz wie Gretchen sah sie aus, die bebenden Herzens den Geliebten fragt, ob[S. 148] er glaube, glaube an eine ewige Macht, die den Wandel unseres Schicksals lenkt ...
Und in einem Wirbel des Gefühls riß er die geliebte Gestalt in seine Arme und küßte die schweren Tränen aus seines Mädchens Augen ...
Aber während er die bebende Braut an seinem Herzen hielt, fühlte er mit Grausen, daß er einer andern denken mußte ... immerzu ... immerzu einer andern ... so, wie sie ihm gegenüber gestanden hatte in der letzten Stunde zweieinsamen Beisammenseins ...
Das Bewußtsein, daß diese Stunde niemals wiederkommen werde, hatte beiden mit jähem Griff plötzlich die Kehle ... das Herz umschnürt ...
Herrgott, warum gab es Schranken in der Welt? — Was half dem Künstler die Phantasie — die allmächtige, allerfassende, die ihn die grenzenlosen Reiche der Schönheit nur darum in all ihrer Herrlichkeit überschauen lehrte, damit das Leben selbst ihn dann immer wieder ausschlösse von dem Besitz alles dessen, was er viel tiefer doch als andere empfand ... viel tiefer verstand ... viel tiefer hätte genießen können ...
Martin hatte die Zähne zusammengebissen ... hatte das letzte Aufgebot all seiner Seelenkräfte in sich aufgerufen zu keuchendem Kampfe gegen die Versuchung, dies Weib in seine Arme zu schließen ... das Weib des vertrauenden Mannes, des Vorgesetzten, des Kameraden ... Und er wußte es wohl: die Glut all dieser verschwiegenen Kämpfe hatte er seinem Werke eingehaucht ... Er wußte: es war sein bestes geworden.
Und hatte Agathe das nicht herausgefühlt — nicht[S. 149] ahnend empfunden — selbst aus dem schattenhaften Abbild seines Werkes, das sie allein erst kannte?!
Und warum mußte er dieser letzten Sekunde des heißen Kampfes, des schmerzvoll bittern Sieges gedenken ... in diesem Augenblick ... im Arme des Mädchens, das er sich zur Kameradin seines Lebens, zur Friedenbringerin seines Herzens erkoren?
Sie hatte ihn nicht gebracht ... den ersehnten Frieden ... Ob er wohl kommen würde, wenn er sie einmal ganz sein eigen nennen durfte?
An diese Hoffnung wollte er sich anklammern.
[S. 150]
Und nun saß Martin Flamberg inmitten des glänzenden Kreises des Regiments Prinz Heinrich der Niederlande und seiner Damen im kerzenhellen Kasino vor dem Vorhang, hinter dem das Festspiel sich entrollen sollte.
Wirklich eine stattliche Versammlung.
Zu den Offizieren des Regiments hatte sich ein größerer Zuzug fremder Uniformen gesellt, deren Träger dem Regiment nahe standen.
Voran natürlich der Brigadekommandeur mit seinem Stabe, ferner der Bezirkskommandeur mit seinem Adjutanten, dann eine Anzahl glatzköpfiger, weißbärtiger Herren, pensionierter Generale und Stabsoffiziere mit redseligen Gattinnen und leise verblühenden Töchtern; denn die Villenvorstadt der Garnison war eine vielbegehrte Pensionopolis. Auch sämtliche in erreichbarer Nähe wohnenden inaktiven und Reserveoffiziere des Regiments hatten sich eingefunden.
Zu den Waffenröcken, die bei den ältern Herrn von einem bunten Ordensgeflimmer erhellt waren, gesellte sich ein lichtfarbiger, gleißender Damenflor.
Allerdings, die Gattin des Brigadekommandeurs hatte sich entschuldigen lassen in taktvoller Rücksicht auf Frau Baronin von Weizsäcker; galt doch der Kommandeuse das[S. 151] ganze heutige Fest, soweit es als ein gesellschaftliches Ereignis ausgestaltet war. Und so hatte die Frau Generalin sich zurückgehalten, damit die Gattin des Regimentskommandeurs die Ehren des Abends unverkürzt als erste genieße.
Von den Stabsoffizieren war der trunk- und wetterfeste Oberstleutnant Rautz Junggesell, der hagere, unnahbare Major Blasberg seit fast zwei Jahren Witwer.
So bildeten die spinöse Frau von Sassenbach, die ihre bürgerliche Geburt durch sehr starke Betonung aristokratischen Wesens zu verdecken suchte, und die aus uraltem Adel stammende, rundliche Frau von Czigorski, die mit ihrem Manne in lautem und bourgeoisem Wesen wetteiferte, die nächste Umgebung der Frau Oberst.
Die Gruppe dieser drei Damen war der Mittelpunkt der Weiblichkeit. An sie gliederte sich auf der einen Seite die Schar der meist schon etwas greisenhaften Gattinnen der Pensionierten, auf der andern Seite die der jungen Frauen der Hauptleute und Oberleutnants und endlich eine ganze Schar junger Mädchen, teils Offizierstöchter, teils geladene Freundinnen der letztern aus der Stadt.
Im großen Saale waren die Stuhlreihen gestellt. Die Bühne war in der Veranda aufgeschlagen, die große Glastür ausgehoben, ihr Rahmen bildete das Proszenium.
Hinterm Vorhang harrte der einjährig-freiwillige Unteroffizier Friesen, aufgeregt wie nur je ein dramatischer Dichter am Abend seiner Premiere an einer Weltstadtbühne, selbstverständlich wieder in Dienstanzug und »Porzellanbuchsen«, Regisseur und Inspizient in einer Person.
Neben ihm saß als Souffleur der jüngste Leutnant Carstanjen,[S. 152] sehr ungnädig über dies Kommando, das ihn für eine Stunde dem Flirt im Saal entzog.
Im Augenblick, als Hans Friesen das erste Glockenzeichen geben wollte, fiel sein Blick seitwärts, wo plötzlich, wie aus der Erde gewachsen, der Gefreite Manes seiner Kompagnie stand, schlotternd vor Befangenheit, im Drillichanzug, mit der schwarzen Gefreitenschnur um den Jackenkragen, die zerknüllte Feldmütze in der Hand, ganz geblendet von den paar Strahlen Festglanz, die seine weit aufgerissen starrenden Augen erhascht hatten. Er machte dem Unteroffizier hilflose Winkzeichen.
»Haben Sie was für mich, Manes?«
»Jawohl, Herr Unner'ffzier ... ene Zettel vom Herr Feldwebel!«
Voll düsterer Ahnung nahm Hans den Wisch, entrollte ihn und las: »Morgen früh fünf Uhr zur Aufsicht beim Umbau von Schießstand 5. Düfke, Feldwebel.«
Aha, der Neid der Götter! — Hol's der Teufel!
In der Eile betete Hans Friesen das Register sämtlicher Flüche her, die er während seines Dienstjahres aus dem Munde der Kapitulanten seiner Kompagnie vernommen hatte.
»Na, Manes, stehen Sie noch immer da? — Sagen Sie dem Herrn Feldwebel einen schönen Gruß von mir, und er könnte —«
Es war doch geratener, den Rest zu verschlucken ... das Dusseltier war imstande, die Bestellung auszurichten ...
O welche Lust, Soldat zu sein —!
Auf einmal klang eine weiche Stimme neben ihm: »Guten Abend, Herr Friesen!«
[S. 153]
Herrgott, Molly von Sassenbach als »Friede«.
Mein Himmel, wie schön ... wie unsagbar schön das Mädchen aussah! Zwar das rote Griechengewand, das sie trug, paßte eigentlich verflucht wenig zu ihrer Mission; aber an dem goldenen Palmenzweig, den sie im Arme hielt, konnte man ja bei einigem guten Willen immerhin erkennen, was sie vorstellen sollte.
»Fühlen Sie, wie ich zittere!« Sie hielt ihm die kleine, duftige Hand hin.
»Das nennt man Lampenfieber!« scherzte er gezwungen.
»Wie schade, nun sind die Proben zu Ende!«
»Jawohl ... und übermorgen geht's fort ... und ich seh Sie nicht mehr wieder ...«
»Kommen Sie denn nicht noch einmal zurück in die Garnison?«
»Das wohl ... vierzehn Tage, um das Offiziersexamen zu machen! — Aber dann — dann sind Sie wieder das Majorstöchterlein ... und ich der simple Kommißknote ...«
»Aber Sie kommen doch zum Frühjahr zur Übung ins Regiment?!«
»Ach — im nächsten Frühjahr! ... Das ist eine Ewigkeit —!«
»Herr Friesen, ich will Ihnen etwas anvertrauen: vielleicht sehen wir uns doch schon früher wieder — — nämlich ... das Manöver ist doch im Hunsrück ... und — —«
In diesem Augenblick stürzte der Leutnant Carstanjen, der inzwischen auf der Bühne mit Frau von Brandeis und Nelly geschwatzt hatte, heran und rief: »Donnerwetter, Friesen — machen Sie doch los —!«
[S. 154]
Zähneknirschend gab Hans Friesen das Klingelzeichen ... und der Vorhang flog in die Höhe ...
Alles klappte vortrefflich.
Zwar Martin Flambergs Malerauge stand Qualen aus, als er die Farbenzusammenstellungen an Kostümen und Dekorationen sah ...
Leutnant Blowitz, der »für die Regie verantwortlich zeichnete«, hatte sich törichterweise nicht entschließen können, die Unterstützung des doch im Regiment vorhandenen Malers heranzuziehen. Wozu von der Anerkennung der Vorgesetzten und ihrer Damen noch etwas auf einen Herrn fallen lassen, der in drei Wochen wieder nach Hause ging ...? Das konnte doch in der Familie bleiben ... das konnte man ja selber verdienen ...
Die Folgen waren schrecklich.
Frau Cäcilie natürlich sah so blendend schön aus, wie ihr Kostüm und ihre Frisur geschmackvoll und sachgemäß waren, aber die Majorsmädels in ihren roten und lila allegorischen Kostümen aus dem Maskenverleihgeschäft, und vollends Leutnant Blowitz als »Krieg« in einer Rüstung, die ein Mittelding zwischen einem mittelalterlichen Ritterharnisch und einem griechischen Heroenpanzer darstellte und aussah, als sei sie aus Trümmern von Konservenbüchsen zusammengenietet ... geradezu schaudervoll!
Die Dekorationen zu den lebenden Bildern hatte ein kundiger Thebaner von Anstreichergehilfen, den Blowitz unter den Füsilieren der dritten Kompagnie ausfindig gemacht, nach dem Muster der berühmten Gemälde im Offizierkasino zusammengepinselt.
[S. 155]
Vor diesen fragwürdigen Hintergrund hatte Blowitz die lebenden Bilder gestellt, so gut er's verstand.
Er war nicht ungeschickt in solchen Veranstaltungen. In seinem frühern Regiment war er vereidigter Festarrangeur gewesen ... und das hatte ihm den Rücken gesteift gegen die Versuchung, den Sachverständigen heranzuziehen, der zur Hand gewesen wäre.
Na, es ging auch so. Und jedenfalls — das Publikum war von der Leistung, die auf dem eigenen Holze des Regiments gewachsen war, vollkommen zufriedengestellt.
Und als schließlich im letzten Bilde die Gipsbüste Seiner Majestät erschien, von den flackernden und knisternden Flammen zweier bengalischer Feuerwerkskörper beiderseits angestrahlt, umgeben von einer Huldigungsgruppe von Soldaten und allegorischen Jungfrauen — da erhoben der General und der Oberst sich mit einem klirrenden Ruck von ihren Stühlen, die ganze Zuschauerschaft folgte, die Regimentsmusik schmetterte die Kaiserhymne, und in heller Begeisterung vermischten sich die hellen Stimmen der Damen mit den dröhnenden der Offiziere.
Dann tönte lauter Applaus ... der Vorhang über dem lebenden Bilde öffnete sich zum zweiten Male ... und nun rief der General mit schallender Stimme in den Saal: »Seine Majestät, unser allergnädigster Herr — Hurra — Hurra — Hurra!«
Die Fensterscheiben klirrten ... die Damen winkten mit der Hand und schwenkten ihre weißen Schals ... die Musik gab im Tusch das Letzte ihrer Lungenkraft her ... es war ein Getöse, als solle der jüngste Tag anbrechen ...
[S. 156]
Und abermals dröhnender Applaus ... die Darsteller verneigten sich ...
Aus den Reihen der jüngern Offiziere tönten laute Rufe: »Blowitz — Blowitz —!«
Die Gruppe schob den »Krieg« in den Vordergrund ... er verneigte sich, hold errötend unter seiner Schminke ... immer und immer wieder ...
In der Ecke hinter dem Vorhang aber stand im Ordonnanzanzuge der Festspielpoet ... Um ihn kümmerte sich kein Mensch, selbst Molly von Sassenbach hatte ihn ganz vergessen ...
Oder ob auch sie das Gefühl hatte, daß es ein wenig stilwidrig wirken würde, wenn in diesem Augenblick ein Unteroffiziersrock und ein Paar »Porzellanbuchsen« im Vordergrunde des Bildes erschienen ...?
Erst als nun der Vorhang zum letzten Male gefallen war und die Mitwirkenden in glückseliger Erregung, froh des stolzen Gelingens, laut plaudernd und schwatzend in die als Garderobenräume eingerichteten Korridore abströmten, gewahrte Molly plötzlich den unglücklichen Einjährigen in seiner Ecke: »Herrgott — Sie haben wir ja ganz vergessen — —! Na — das ist 'ne schöne Bescherung —!«
»Poetenlos — gnädiges Fräulein!«
»Na warten Sie — nachher wird der Oberst sicher mit Ihnen sprechen — und dann — dann tanzen wir zusammen, wir zwei — nicht wahr, Herr Friesen?!«
Aber Mollys Prophezeiung erfüllte sich nicht, wenigstens nicht in ihrem ersten Teil.
Zwar hatte Hans Friesen eine offizielle Einladung zum[S. 157] Fest bekommen. Er hatte heimlich gehofft, als Festspielpoet bei den Mitwirkenden des Abends seinen Platz zu finden.
Aber als er in den nun wieder hell erleuchteten Speisesaal trat, da kümmerte sich kein Mensch um ihn, und er drückte sich eine Zeitlang, völlig unbeachtet, in der gräßlichsten Stimmung an den Wänden herum.
Als dann alles Platz nahm, wandte er sich in peinlicher Verlegenheit an den Vizefeldwebel, der den Dienst der Kasinoordonnanzen beaufsichtigte, und fragte, wo ihm sein Platz angewiesen sei. Der antwortete ganz kurz: »Da unten, bei die Avantageur!«
Und richtig! — Man hatte ihn chargenmäßig ganz unten am linken Hufeisenende zwischen die blutjungen Fähnriche und Fahnenjunker gesetzt ...
Diese jungen Herren fühlten sich als zukünftige aktive Offiziere dem Einjährigen um mindestens ein Dutzend gesellschaftliche Nasenlängen voraus und suchten ihn, den um fünf bis sechs Jahre ältern, von oben herab zu behandeln.
Allmählich gewann Hans Friesen den Humor der Situation. —
Nun, wenigstens bei den Bürschchen rechts und links wollte er sich sobald als möglich in Respekt setzen und wartete nur auf die erste passende Gelegenheit, um ein Exempel zu statuieren ...
Inzwischen schaute er nach Molly um ... Sie saß am selben Tisch, aber weit höher hinauf, zwischen den Leutnants Carstanjen und Quincke, die ihr natürlich auf Mord und Tod den Hof machten ...
Ekelhaft, dies verlebte, gelbe Gesicht des fatalen Quincke neben ihrem rosigen, preziösen Köpfchen ... ihren apfelblütenfarbigen[S. 158] Schultern, die sich nun so lockend und schimmernd aus dem rosa Ballfähnchen hoben ...
Und jetzt — da ... sie hatte ihn erspäht, sie lächelte, sie hob unmerklich das Glas ... Er auch ... Blick tauchte in Blick, eine Sekunde lang —
Der grünschnäblige Fähnrich von Berneck, kaum dem Kadettenkorps entschlüpft, siebzehn Jahre alt, hatte Friesens Blick bemerkt ... Er trug bereits das Portepee ...
»Nanu, mit wem flirten Sie denn so vernehmlich?«
»Ja ... das möchten Sie wohl wissen! — Hehe! Neid der besitzlosen Klasse, was ...?! Na, halten Sie sich am Sekt schadlos! Prost, Herr von Berneck —!«
»Ich bin für Sie der Herr Fähnrich von Berneck, Unteroffizier Friesen!«
»Ach so, Sie wollen den ältern Kameraden 'rausbeißen,« sagte Friesen mit gewinnendem Lächeln, »na, dann lassen Sie sich sagen: ein jeder blamiert sich, so gut er's versteht! — Nochmals: Prost, Herr von Berneck —!«
Das Bürschchen wollte auffahren ... Aber die roten Abfuhren auf Stirn und Wange des Einjährigen leuchteten so martialisch, und in den harmlos lächelnden Augen blitzte ein Licht, scharf und hell wie eine niedersausende Säbelklinge. — Achselzuckend wandte der Herr Fähnrich sich ab.
Und Hans Friesen suchte und fand abermals Mollys Auge — Mollys Lächeln ...
— — Die Tischordnung hatte den Kasinovorstand zwei schlaflose Nächte gekostet. Wahrhaftig keine Kleinigkeit, all die Muschirs und Paschas fein säuberlich nach der Zahl der Roßschweife zu verstauen ... Und noch peinlicher war die Plazierung ihrer holden Ehehälften und Töchter — dann[S. 159] dabei diese Unzahl von Wünschen der Kameraden — und schließlich galt es doch auch noch, gewisse Regungen des eigenen Herzens zu berücksichtigen.
Dieser Reserveonkel ... dieser Malfritze ... der hatte drei Wochen lang fast jeden zweiten Nachmittag ein paar Stunden mit der schönsten Frau im Regiment allein sein dürfen ... Skandal! — Na, der hatte sich's natürlich nicht entgehen lassen, solch eine Gelegenheit nach allen Kräften auszunutzen ... Was mochte er erreicht haben?! — Heut abend würde man zweifellos allerlei beobachten können ...!
So hatte er der Frau von Brandeis den Witwer Major Blasberg als Tischherrn gegeben und sich selbst an ihre rechte Seite gesetzt — — Flamberg gegenüber an die andere Hufeisenseite.
Von den Reserveoffizieren hatte nur der harmlose, dicke Oberleutnant Brassert eine Tischdame bekommen, ein ältliches Stiftsfräulein, eine arme Verwandte des Majors Blasberg, die dem um zehn Jahre jüngern Vetter seit dem Tode seiner Frau die Haushaltung führte ... Mit dieser anmutigen Nachbarin saß Brassert, wie üblich, am Stabstisch.
Frau Cäcilie unterhielt ein krampfhaftes Gespräch mit ihrem schweigsamen Tischherrn und mied es geflissentlich, ihrem Nachbarn zur Rechten auch nur ein Wort zu schenken.
Gräßlich ... fühlen zu müssen, daß er keinen Blick von den Bewegungen ihrer entblößten Arme ... von dem Spitzensaum ihres Halsausschnitts verwandte ...
Er knirschte über diese Vernachlässigung. Na, warte nur — ein bißchen mehr als Luft bin ich doch — — Das sollst du merken, schöne Frau! —
[S. 160]
Als wiederum in der stockenden Unterhaltung seiner Nachbarin eine Pause eingetreten war, neigte er sich zu ihr, die sich beharrlich von ihm abgewandt hielt: »Gnädige Frau scheinen mich schlecht behandeln zu wollen?!«
»Ich ... Sie? — ich behandle Sie überhaupt nicht!«
»Na ja, ich bin in Ungnade bei Ihnen — das weiß ich ja!«
»So — das haben Sie also gemerkt!? — Dann wundert's mich, daß Sie als Arrangeur der Tafel keine unterhaltsamere Nachbarschaft für sich gewußt haben als mich!«
»Aber, gnädige Frau — verstehen Sie das denn nicht? — Ich hoffte Gelegenheit zu haben, mich Ihnen gegenüber in ein besseres Licht zu setzen!«
»Ja, sehen Sie — dann haben Sie sich also getäuscht!«
»Das merk ich allerdings! — Schade! Mir fehlen leider Gottes die Qualitäten, mit denen man sich bei Ihnen beliebt machen kann. Schlichter Soldat wie ich, verstehe nichts von Musik, malen kann ich auch nicht ... kurz, nicht für fünf Pfenn'ge Chance ...!«
»Nun also ... Warum haben Sie sich denn mit aller Gewalt den schönen Abend durch meine Nachbarschaft verderben wollen?!«
»Gnädige Frau — was tut man nicht für das Glück, einen Abend neben der schönsten Frau im Regiment sitzen zu dürfen. — So was kommt sobald nicht wieder, daß es von einem selbst abhängt. — — Der Vorzug, in Ihrem Hause zu Gaste geladen zu sein — der hat mir bis jetzt ja nicht geblüht, wenn ich auch ebensogut wie alle andern Herren Ihnen meine Aufwartung gemacht habe — —«
[S. 161]
»Herr Oberleutnant, Sie wissen so gut wie ich, daß Sie sich das Recht auf Gastfreundschaft in meinem Hause verscherzt haben!«
»Ah — das ist also noch immer nicht vergessen?! — Tja — ich versteh es eben nicht so gut wie mancher andere, meine Empfindungen im Zaume zu halten —!«
»Pah — Empfindungen — — Sie und Empfindungen?! Sie wissen überhaupt nicht, was Empfindungen sind — —!«
»Ich weiß nicht, was —?! Haha ... man möchte wahrhaftig anfangen, mit Gegenbeweisen zu renommieren ...!«
»Unnötige Mühe! Ihr Renommee ist stadtkundig!« —
»Tja ... was bleibt unsereinem übrig ... die Frauen, die man möchte, sind bereits anderweitig vergeben ... und überdies so unangenehm tugendhaft ... wenigstens unsereinem gegenüber! ... Tja — wenn man ein Ritter der Feder wäre, wie dieser Tapergreis, der Frobenius ... Sehn Sie nur, gnädige Frau: Nelly von Sassenbach plaudert mit ihm über die ganze Tafel hinüber, und Herr von Schoenawa, ihr Tischherr, ist kaltgestellt ... Ja ja, die Herren von der Reserve ... die Herren von der Intelligenz ... das ist mal was anderes für die Damen ... da können wir einfachen Soldaten nicht konkurrieren ... Und wenn man nun gar ein berühmter Maler ist, wie ein gewisser anderer Herr — —«
»Bitte, sprechen Sie sich nur ruhig aus, Herr Oberleutnant —!«
»O ich — — Sie werden begreifen, daß es mir nicht ganz gleichgültig sein kann, wenn man selbst von einer Dame so deutliche Zeichen ihrer Abneigung bekommen hat ... und irgend so ein Herr, der mal auf acht Wochen hier hineinschnüffelt[S. 162] ... der darf dann mit dieser selben Dame allein sein ... Wochen hindurch ... stundenlang ... Ich begreife Herrn von Brandeis nicht — wahrhaftig!«
»Herr Menshausen, Sie sind denn doch von einer Geschmacklosigkeit! — — Wenn ich das nun meinem Mann erzählte?!«
»Das ... würde sich wohl kaum empfehlen, gnädige Frau ... Ich bin der beste Schütze im Regiment!«
»— — Sie sind verrückt! —«
Mit bebenden Lippen wandte die schöne Frau dem Frechen den Rücken.
Himmel ... wenn nur Major Blasberg nichts gehört hatte! — Aber nein ... der war tief, tief in sich versunken ... stumm sah er die Perlen in seinem Sektglase aufsteigen ... Frau Cäcilie wußte: der eiskalte, unzugängliche Mann dachte an nichts als an seine Frau, die seit zwei Jahren in kalter Friedhofserde lag ... an die Mutter seiner drei Buben ...
Gott, wie verschieden doch die Herzen ... die Charaktere aller dieser Männer, die einen Rock trugen ... eine Sprache sprachen ... das gleiche, mathematisch abgemessene und umzirkelte Leben führten ...
Wenn sie selber nun heute stürbe?! — Fritz, das wußte sie, würde dann auch so sitzen ... viele, viele Jahre lang ... und kein Weib mehr anschauen nach ihr ...
Und jener andere — nach dem jede Fiber ihres Leibes ... jeder Herzschlag ... jeder Gedanke sich sehnte?
Er würde sich gratulieren, daß er sie noch gerade vor ihrem Verschwinden aus der großen Modellsammlung des Lebens eingefangen ... für seine Leinwand, die im nächsten[S. 163] Sommer als Reklame seines Pinsels von Ausstellung zu Ausstellung wandern sollte ... würde in die Arme der harrenden Braut eilen ... und weiter malen ... eine Schönheit nach der andern in sich hineinsaugen mit den braunen, durstigen Künstleraugen ... und den vergänglichen Schmelz ihrer Jugendherrlichkeit, die verschwiegenen Tiefen ihrer Seelen zu ewiger Dauer auf seine Tafeln bannen ...
Ach, wie ruhevoll und befriedend doch der Gedanke, daß ein treues Herz, ein ritterliches, makelloses Gemüt nur für uns lebt —
Sie suchte den Blick ihres Mannes. Fritz saß ihr schräg gegenüber an der andern Hufeisenseite neben der bildschönen Frau des Bezirkskommandeurs. Er hatte kein Auge für die aufdringlich zur Schau getragenen Reize der überjungen Frau, die der alternde, zur Disposition gestellte Stabsoffizier in allzu großem Selbstvertrauen an sich gefesselt ...
Nun fühlte Fritz den langersehnten Blick seines Weibes ... beglückt hob er das Glas ... trank ihr zu, strahlend wie ein Bräutigam ...
Ach, und doch, und doch — — —
Die Baronin von Weizsäcker hob die Tafel auf.
Paar hinter Paar ... seideraschelnd ... sporenklirrend schob sich die Gesellschaft aus dem Speisesaal in die Empfangsräume. Hier hielt die Frau Oberst Cercle. Alles drängte sich heran ... die Offiziere, die jungen Mädchen wetteiferten der Gestrengen die brillantberingte Hand zu küssen.
Sie war die typische Kommandeuse: geistig unbedeutend von Antlitz neben dem leuchtenden Gatten, doch äußerst[S. 164] pompös, beständig das Lorgnon an der Nase, voll zuckersüßer Herablassung gegenüber Gutangeschriebenen, hundeschnäuzig ablehnend einem jeden gegenüber, dessen Conduite zu wünschen übrig ließ, und in all diesen feinen Nuancen bereits erstaunlich Bescheid wissend. Ihr Benehmen konnte jedem einzelnen geradezu als Barometer seiner eigenen Stellung im Regimente dienen.
Die Reserveoffiziere waren für sie ohne jegliches Interesse ... existierten einfach nicht. Und dies ihr Benehmen gab für alle Damen, die auf Korrektheit Wert legten, das Signal, die eingezogenen Herren mit kältester Zurückhaltung zu behandeln.
Martin Flamberg stand abseits und beobachtete, das leise, ironische Lächeln des Menschenkenners auf den Lippen, mit scharfem Auge, dem nichts entging ... das durch all die korrekten Formen und Formeln in die Tiefe drang und das Ganze des Menschen packte, der sich hinter ihnen barg ...
Und während sein Verstand sich mit skeptischer Ergötzung am Bilde der menschlichen Komödie weidete, erbaute sich das Malerauge an dem farbenbunten Bilde des äußern Geschehens ...
Wie das wogte ringsum ... wie das flimmerte von Kraft und Anmut ... von Farbenglut und flirrendem Lichterspiel ...
Ab und zu warf Martin auch einen Blick durch die halboffene Tür in den Speisesaal. Hier waltete eine Schar von Heinzelmännchen in Ordonnanzlivree und Füsilierrock ihres Amtes. Mit jener Präzision, welche den braunwangigen Burschen auf dem Exerzierplatz eingedrillt worden war,[S. 165] verwandelten sie den Speisesaal in einen Tempel der Tanzmuse. Mit Zauberschnelle verschwanden die geschmückten, silber- und blumenbeladenen Tafeln, mächtige Besen wurden geschwungen, Staubwolken flogen, Stuhlreihen umkränzten die Saalwände.
In den Empfangsräumen trennte sich inzwischen die Gesellschaft nach Geschlechtern, die Damen ins Billardzimmer, wo die Ordonnanzen Tee und Süßigkeiten darreichten, die Herren ins Rauchzimmer zu Schnaps und Nikotin.
Aber einige der keckern Damen überschritten doch bald wieder den Trennstrich der Geschlechter, unter dem Vorwand, sich eine Zigarette zu holen, und blieben im Rauchzimmer kleben.
Frau Cäcilie suchte ihren Gatten auf, hängte sich an seinen Arm in dem starken Bedürfnis, sich an ihn anzuschmiegen, jenes Gefühl der Zusammengehörigkeit, das sie bei Tafel so jählings zu ihm hingezogen, auch äußerlich zu betätigen ...
Diesen Augenblick hielt Martin Flamberg für geeignet, sich für die Rosendedikation an seine Braut zu bedanken ...
Mit umschleierten Augen sah Frau Cäcilie ihm entgegen ... Sie hatte ihn seit dem »Firnistag« nicht mehr gesehen ... zehn Tage lang nicht mehr gesehen ...
»Also glücklich vom Urlaub zurück, Herr Flamberg? — Wie geht's — was macht ›Gretchen‹?«
»Sie hat mich beauftragt, ihren Dank noch einmal mündlich zu wiederholen!«
»Nun, war's schön daheim? — Was treibt Fräulein Agathe?«
[S. 166]
»Sie baut an unserm Ehenest!«
»Ah — wird's hübsch?«
»Wird noch nicht vorgezeigt, gnädige Frau — ich hab' nicht hingedurft!«
Der Hauptmann lachte übers ganze Gesicht ... er war wie trunken von der Huld seines Weibes: »Na, lieber Flamberg, ich wünsche, daß es gerade so hübsch wird bei Ihnen wie bei uns ... und daß ihr zwei mal gerade so glücklich werdet wie die da und ich ... was, Alte —?!«
Frau Cäcilie lächelte ... ein Lächeln, das Martin durchschauerte.
»Tja, und übermorgen geht's nun fort,« schwatzte Brandeis weiter, »na, für Sie ist das ja nur 'ne Etappe näher auf dem Anmarsch zum Traualtar ... aber für uns zwei —? drei Wochen bittrer Trennung! — Na, Cilly — wo bleibt die Abschiedsträne? — Warten Sie nur, lieber Flamberg, das werden Sie auch noch kennen lernen. — Gut, daß Sie und ich wenigstens zusammen unterm selben Zeltdach schlafen werden ... was, Flamberg? — dann werden wir uns vor dem Einduseln im Stroh von unsern Herzallerliebsten vorschwärmen ... was —?! Ich bin fein heraus ... meine Schwärmerei findet wenigstens volles Verständnis, da Herr Flamberg dich ja kennt ... und sogar einigermaßen gründlich! — wann aber werde ich mal den Vorzug haben —?«
»Nun — wer weiß ... unverhofft kommt oft ...! Darf ich um Ihre Tanzkarte bitten, gnädige Frau?«
»Bitte —!«
»Den zweiten Walzer — darf ich —?«
[S. 167]
Sie nickte, und er kritzelte seinen Namen auf das glänzende Blättchen.
Andere Bewerber drängten sich herzu. Cäciliens Gesicht versteinerte sich, als auch Menshausen sich heranwagte: »Ich bedaure, Herr Oberleutnant!«
»Wie — zu spät gekommen — schon alles besetzt —?!«
Er hatte, als sei das selbstverständlich, die Tanzkarte von einem Kameraden übernommen, warf einen Blick darauf: »Sieh da ... ein Rheinländer noch frei ... darf ich darum bitten?«
»Den Rheinländer lasse ich aus!«
»Ich bin untröstlich —!«
Blick traf in Blick eine Sekunde lang ... eine Flamme heißen Hasses blitzte der jungen Frau entgegen: Sei auf deiner Hut — du —!
Pah ... was frag ich nach dir ... nach deinem Haß ... nach deinem Rachegelüst ...! antwortete Cäciliens Blick.
Eine Minute später gab sie den Rheinländer an Herrn Frobenius ... war er nicht Martins Freund ...? würde sie nicht von Martin plaudern können mit ihm ...? —
Der zweite Walzer ging zu Ende ... Cäcilie und Martin hatten kaum sprechen können während des Tanzes ... tief aufatmend machten sie Rast. Cäcilie schob die Fingerspitzen in Martins Arm ... Keines wagte, das andere anzuschauen; beide fühlten, der letzte Augenblick des Beisammenseins war nahe.
»Morgen früh werd' ich die Ehre haben, Ihnen meinen Abschiedsbesuch zu machen, gnädige Frau!«
[S. 168]
»Den erlaß ich Ihnen, Herr Flamberg — Sie würden mich nicht treffen ... ich reise schon morgen früh! — Soll ich Ihnen sagen, wohin —?«
»Ich bitte darum!«
»So, Sie wissen also noch nichts? — Mein Mann hat Ihnen noch nichts erzählt?!«
»Ich habe keine Ahnung!«
»Wir haben vor drei Tagen ein Gut gekauft ... in der Nähe von Simmern ...«
»Was — auf dem Hunsrück? — und unser Manöver —«
»— entwickelt sich zwischen Simmern und Birkenfeld — ich weiß wohl! — Ich nehme da oben meinen Sommerfrischensitz ... die Sassenbachschen Mädels nehme ich mir zur Gesellschaft mit ... Das Korpsmanöver ist in unserer Nähe ... ich habe die Dislokation bereits studiert ... wir werden einmal zu Ihnen ins Biwak hinauskommen ... und vielleicht reiten Sie an einem Ruhetage mal zu uns hinüber ...«
Martin konnte nicht sprechen. In jähem Entzücken und ahnungsvollem Schreck zugleich taumelten seine Gefühle —
Auf der Heimfahrt vom Urlaub hatte er abgeschlossen ... es sollte ... es würde ja zu Ende sein am zweiten September ... Er würde sich alsbald nach der Übung zur Landwehr versetzen lassen, würde Frau Cäcilie von Brandeis niemals wiedersehen ... Den einen Abend noch unter den Augen des ganzen Regiments ... da würde man schon Fassung bewahren können ... dann Montag nach dem Dienst mit dem Hauptmann nach Hause ... ein korrektes, liebenswürdig heiteres Abschiedsgeplauder unter den Augen des Gatten ... und dann ... ade! ... ade für ewig!
[S. 169]
Agathe wartete ... ihr gehörte all sein Sehnen ... jede Sekunde im Banne der schönen Frau war Verrat an dem geliebten Mädchen ... Also Schluß! ... endgültig Schluß!
Und nun — —?! ... Schicksal, nimm deinen Lauf —!
»Kommen Sie, Herr Flamberg ... noch ein paar Takte ... gleich ist's zu Ende ...!«
Hauptmann von Brandeis stand in der Tür des Rauchzimmers, die Zigarette zwischen den Fingern, und sah schmunzelnd in das Gewühl des Tanzes hinein ... ein frisches, glückliches Lächeln lag auf seinen Lippen ...
Die Königin des Festes ... ja, das war sie ... seine Cäcilie ... Die andern Damen ... welche von denen war denn auch nur von weitem mit ihr zu vergleichen!
Und wie sie tanzte ... Selbst die ältesten Stabsoffiziere machten gute Figur mit ihr ... Die alten Herren waren wie elektrisiert, wenn sie die federleichte Gestalt im Arm hielten ... angesteckt von der rhythmischen Energie, die ihre Glieder durchpulste ... Und wenn sie förmlich einen Meistertänzer wie diesen Flamberg gefunden hatte ... den beiden zuzuschauen, das war ja wirklich ein ästhetischer Genuß ...
Überhaupt dieser Flamberg! ... Doch direkt ein begnadeter Mensch! — Stammte er nicht aus ganz dürftigen Verhältnissen? — Freilich ... aus einem Pfarrhause! — Gewiß waren seine Eltern feingebildete Leute gewesen ... die gute Kinderstube! So was ist nicht nachzuholen und nicht nachzuahmen ... aber zur Gesellschaft im eigentlichen Sinne hatte er nun doch mal nicht gehört — und wer merkte ihm das heute noch an ... ein genialer Künstler, eine repräsentative Persönlichkeit, und dabei so'n famoser Kerl[S. 170] — selbstbewußt — natürlich! Na, das gehörte sich auch so! Aber dabei so einfach ... so ohne Prätension ... und Ehrenmann vom Scheitel bis zur Sohle ...
Solche Reserveoffiziere sollte man mehr haben im Regiment! Andere Nummer als diese Windhunde, die Herren Dormagen und Klocke, diese Säbelraßler und Uniformfatzken!
Höchst erfreuliche Aussicht, in so angenehmer Gesellschaft die drei Manöverwochen zu verbringen ... und wie reizend, daß nun auch Cäcilie in der Nähe war und auch noch ein wenig von der Gesellschaft des Malers profitieren würde, der ihr ja offenbar sehr sympathisch war. Schade, daß er und seine Zukünftige nicht in der Garnison wohnten; das wäre so recht ein hübscher Verkehr gewesen, die zwei. Cäcilie hatte unter den Damen des Regiments noch immer nicht den rechten Anschluß gefunden ... die junge Braut, das müßte nach Flambergs Beschreibungen ein Umgang für sein anspruchsvolles Weib gewesen sein ... Na, man würde eben bald mal nach Düsseldorf hinüberfahren und die jungen Leute im eigenen Heim aufsuchen ...
Ach ... das Leben war doch schön, wenn man ein bißchen Dusel hatte! — der freilich gehörte dazu ... na, und über Mangel an Dusel hatte Fritz Brandeis wahrhaftig nicht zu klagen ...
»Glänzende Tänzerin, Ihre Frau Gemahlin!« klang's da plötzlich neben ihm. Oberleutnant Menshausen, das geleerte Likörglas in der Hand.
Komisch ... wenn der Mensch auftauchte, immer hatte man so ein fatales Gefühl ... Was war's doch gewesen? — Ach so, seine läppische Bemerkung damals ... wann[S. 171] doch? — — ah, als die Reserveoffiziere einrückten ... haha! — Damals hatte er selber, Brandeis, davon gesprochen, daß er wünsche, Flamberg solle Cäcilie malen ... Und nun war das Bild bereits fertig ...
»Ja, ja, sie tanzt ausgezeichnet!« sagte er mechanisch.
»Und wie sie bei der Sache ist! — wenigstens wenn sie mit Herrn Flamberg tanzt — —!«
»— — Wieso —?«
»Ach, ich — ich meinte nur so —!«
»So?! — Sie meinten nur so! — Ich hatte das Gefühl, als ob Sie sich über irgend etwas ... wunderten!«
»Ich mich wundern? — Nein, das nicht ... sondern ...«
»Was?! — was, wenn ich bitten darf?«
»O — ich — es ist mir allerdings aufgefallen, daß die gnädige Frau dem Herrn von der Reserve gegenüber — so überaus — liebenswürdig ist! Das ist allgemein bemerkt worden.«
»Die Herren von der Reserve haben ihr Patent von Majestät genau so gut wie wir!«
»Selbstverständlich, selbstverständlich!«
»Nun also?!«
»Immerhin — sie gehören doch nicht zum engern Kreise des Regiments.«
»Herr Flamberg ist ein Freund meines Hauses.«
»Ach so — ein Hausfr— — ein Freund Ihres Hauses. Verzeihen Herr Hauptmann meine Neugierde. Nun weiß ich ja Bescheid. Haben Herr Hauptmann schon einen Schnaps genehmigt? Nein? Ordonnanz! einen Benediktiner für Herrn Hauptmann!«
»Ich danke! Ich habe kein Bedürfnis.«
[S. 172]
»Nicht? Dann bitte ich um Entschuldigung — meine Pflichten als Kasinovorstand ...«
»Bitte, lassen Sie sich nicht stören!«
— — Was war das gewesen? Was für ein Mißton — was für ein häßlicher Hauch war da herangeweht? Die gnädige Frau so überaus liebenswürdig gegen den Herrn von der Reserve — das ist allgemein aufgefallen! Herrgott, war der Kommißtratsch denn schon wieder am Werk? Und an Cäcilie wagte sich das heran, an seine Cäcilie? Himmelbombenelement!
Wo war sie nur? Schau — da schwebte die weiße Gestalt hin — wie eine Krone umschloß das braungoldene Haar die weiße Stirn — fest schmiegte sie sich an ihres Tänzers breite Brust — an Herrn Flambergs Brust —
Wahrhaftig — vielleicht doch ein bißchen zu fest für die scharfen Augen, die spitzen Zungen der Sittenwächterinnen da hinten auf dem Drachenfels ...
Und wie sie glühte ... er auch ... Mein Gott, warum sollten sie nicht?! — waren sie nicht beide Temperamentsmenschen? fröhliche Genießer, die sich ganz hingaben an den schönen, festlichen Augenblick ...?
Immerhin ... ein wenig Rücksicht nehmen mußte man schon ... wir kennen doch dies Klatschweibergesindel ... ob das Unterröcke trägt oder Hosen mit Stegen ... Vielleicht ... wäre doch ein Wink der Warnung an Cäcilie angezeigt ...
Ach, Unsinn! — Wozu ihr die unbefangene Freude trüben —? Seine Cäcilie ... er kannte sie doch! Und Flamberg! ... Hand ins Feuer für den!
Der Walzer klang aus. Quer durch den ganzen Saal, mit strahlendem Lächeln, schritt Fritz von Brandeis auf das[S. 173] Paar zu, das eben glühend, schweratmend, den Tanz beendet hatte. Und in heiterm Geplauder nahm er Cäciliens Arm und spazierte noch ein Weilchen mit ihr und Flamberg durch den Saal.
Mochten die Klatschweiber sich die Mäuler zerreißen!
Der Drachenfels hatte seine Wahrnehmung bereits festgelegt. Und die war: Einige der Damen des Regiments hatten sich einer entschieden zu starken Bevorzugung des nicht aktiven Elements unter den Herren schuldig gemacht.
Auf der Bühne, wo vorher der Eintracht lieblicher Genius mit herzbewegenden Worten die stille Friedenstätigkeit des Regiments Prinz Heinrich der Niederlande gepriesen, war nun der Areopag der alten Damen versammelt. Da thronte inmitten die Kommandeuse und handhabte eifrig das Lorgnon; zu ihrer Rechten Frau von Sassenbach, zur Linken Frau von Czigorski. Und um die drei Säulen des Regiments herum gruppierten sich die übrigen Damen, die Gattinnen der Podagristen aus Pensionopolis ... Nur ein einziges jugendliches Gesicht in ihrer Mitte, die Frau Hauptmann Haller, eine sehr lebenslustige Frau von dreißig Jahren, die diesmal schweren Herzens auf die Freuden des Tanzes verzichten mußte, da sie ihren drei Buben noch ein Geschwisterchen bestellt hatte.
Die rechte Flanke, wo Frau von Sassenbach saß, sprach nur von Frau von Brandeis; was die Herzen der Gruppe außerdem bewegte, durfte mit Rücksicht auf die Majorin nicht zu Worte gelangen. Um so eifriger betuschelte dafür die linke Seite die allgemeine Beobachtung, daß Frau von[S. 174] Brandeis heut abend nicht die einzige Dame war, die sich mit Vorliebe an gewisse Herren des Beurlaubtenstandes hielt.
Schon bei Tische hatte man bemerkt, daß das ältere Fräulein von Sassenbach sich weit weniger um ihren Tischherrn bekümmerte, den ernsten und zielbewußten Regimentsadjutanten, als vielmehr um ihr Gegenüber, diesen unmöglichen Herrn von der Landwehr, dessen schwarzblauer Waffenrock mit den altmodischen großen Knöpfen, dessen riesige Epaulettes und dessen trikotartig knapp die hagern Beine umschließenden Hosen allgemeines Entsetzen erregt hatten.
Ja, und kaum war die Tafel aufgehoben, da hatte sich Fräulein Nelly alsbald im Rauchzimmer eingefunden und bei einer Zigarette mit dem merkwürdigen Bekannten weiter geplaudert.
Dann allerdings war der Tanz in seine Rechte getreten. Der schien nicht die starke Seite des eingezogenen Herrn zu sein; denn er stand meist in der Tür des Rauchzimmers und schaute durch seine riesigen Brillengläser mit behaglicher Betrachtung in das Gewühl des Tanzes hinein. Wer ihn aber genauer beobachtete, konnte wohl bemerken, daß sein Blick ein bestimmtes Ziel verfolgte ...
Nelly Sassenbach wanderte von einem Arm in den andern. Stets, wenn sie an Herrn Leutnant Frobenius vorbeistrich, flog ein rascher, stiller Blick des Einverständnisses zu ihm hinüber ...
— — Ja, Wilhelm Frobenius sah nichts als seine Retterin ... War sie nicht just das Gegenteil alles dessen, was er an Weiblichkeit bisher gekannt ... und war sie nicht zugleich die Verkörperung seines erträumten Frauenideals ...?!
[S. 175]
Er hatte in der Literatur vor allem immer für die heroischen Mädchengestalten geschwärmt, wenn auch seine vielbewunderte stilistische Meisterleistung die Analyse der Gretchengestalt war. — Sein Herz zog ihn vielmehr zu den ausgesprochenen Mannweibern der Dichtung ... freilich im Leben war ihm dergleichen niemals begegnet ... ach, ihm waren überhaupt wenig Frauengestalten begegnet im Leben ...
Von den Damen des Regiments interessierte ihn, außer Nelly, nur noch eine, jene, von der sein Kamerad und Freund Flamberg ihm doch in einem Ton erzählt hatte, aus dem selbst ein noch naiveres Gemüt als er hätte herausfühlen müssen, daß sie ihm mehr gewesen denn nur ein Modell ...
Frobenius verglich die beiden Frauen beim Tanzen. Cäcilie legte sich weich und anschmiegend in des Tänzers Arm. Es schien ihr angenehm zu sein, wenn man sie recht fest und nahe hielt. Scheinbar willenlos überließ sie sich der Führung ihres Partners, tanzte ruhig, schwebend; ihre Füße schienen sich kaum zu bewegen.
Nelly aber tanzte mit weitem Abstand, sehr selbständig, mit weit ausholenden Schleifern, wie um sich auszutoben und auszutollen im Tanz. Wenn man sie so sah ... ihre Tanzwonne steckte an ... man bekam Sehnsucht, sich von ihr hineinziehen zu lassen in diese Strudel, diese Wirbel, in denen sie sich tummelte wie ein losgelassenes Füllen ...
Ach, es war Jahre her, seit Wilhelm Frobenius zum letzten Male auf dem Professorenball das Tanzbein pflichtmäßig, aber ohne Liebe zur Sache geschwungen. Damals hatte sich die alternde Tochter des Rektors und Dekans der[S. 176] philosophischen Fakultät lebhaft für den jungen, aufstrebenden Privatdozenten interessiert, und manche mehr oder weniger zarte Andeutung hatte ihm nahegelegt, er solle zugreifen und seine Karriere sichern ... aber die hochfahrende Nüchternheit des gelehrten Fräuleins hatte ihm ein Grauen eingeflößt. Er hatte sich sehr merkbar zurückgezogen und war seitdem gesellschaftlich ziemlich kaltgestellt. Daß er auch heute noch nicht einmal Extraordinarius war, stand zweifellos auch in einem gewissen innern Zusammenhang mit jener Fahnenflucht. — Nun, er hatte gesellschaftliche und berufliche Zurücksetzung zu verschmerzen gewußt ...
Auch heute abend hatte er nicht engagieren wollen, aber als er nach Tisch Fräulein Nelly von Sassenbach eine gesegnete Mahlzeit wünschte, hatte die ihm von selbst ihre Tanzkarte hingehalten.
»Ich bin ein miserabler Tänzer, gnädiges Fräulein!«
»Schadet nichts — wir werden plaudern!«
Nun der Bann gebrochen war, hatte er auch noch Frau von Brandeis engagiert. Die Schar der übrigen Damen war ihm gleichgültig — auch durfte man die aktiven Herren nicht berauben.
Aber der Gedanke an den bevorstehenden Tanz hatte ihn doch mit einem gelinden Grauen erfüllt ...
Nun war er da, der gefürchtete und doch ersehnte Augenblick ...!
»Also mit dem Tanzen ist es wirklich nichts, Herr Frobenius?«
»Sie würden wenig Freude an mir erleben!«
»Aber so versuchen wir doch einmal!«
[S. 177]
Und mit einem Gefühl ehrfürchtiger Andacht legte er seine Hand um die schlanke, feste Gestalt des Mädchens ...
»Also los — es ist ja nur 'ne Polka — die werden Sie doch noch schaffen können!«
Alles drehte sich im Wirbel ... aber er nahm all seine Kraft zusammen ...
»Sehn Sie wohl — geht ja blendend!«
Wahrhaftig, es ging wunderschön — zwar Hören und Sehen schwanden ... nichts blieb als ein dumpfes Gefühl des Rhythmus ...
Eins, zwei, drei, vier — eins, zwei, drei, vier —
Das ... und ein Strom von Glück und Rausch, der von dem straffen, lebenswarmen Mädchenkörper aus in alle Glieder des Gelehrten überströmte ... in die Seele eines fast vierzigjährigen Knaben ...
Wenn nur nicht das Parkett so infam glatt gewesen wäre! — Und daß man alle Augenblicke mit einem andern Paar karambolierte, war auch nicht gerade angenehm ... aber er war ja so kurzsichtig ... und alles wirbelte im Kreise ringsum ...
»Na warten Sie nur, wenn Sie mich beim nächsten Walzer nicht zu einer Extratour auffordern, dann werd' ich böse!«
Auf einmal fühlte er, daß er den Halt verlor ... sein linker Fuß war ausgeglitten ... die Wirbelsäule bekam von unten einen Stoß ... knickte vornüber ... der lange Körper verlor das Gleichgewicht ... riß im Sturz die Tänzerin mit um ... Im selben Augenblick stieß zum Überfluß ein heranwirbelndes Paar wider die taumelnden Leiber, und mit voller Wucht sausten beide lang in den Saal ... Nelly hatte[S. 178] einen leisen Schreckens- und Schmerzensschrei ausgestoßen, sie war im Sturz unten zu liegen gekommen ... die Röcke flogen zur Seite ... fast bis zum Knie streckten die weißen Strümpfe sich vor ...
Wie der Blitz war sie empor trotz eines heftigen Schmerzes im linken Bein ...
»Herrgott — stehn Sie doch bloß auf!«
Ihr Tänzer saß in genau derselben Stellung, wie vor fünf Wochen im Froschtümpel, auf dem blanken Parkett inmitten des Gedränges der Paare, die jäh anhielten und die Gestrauchelten umdrängten ...
Verworren, blöden Ausdrucks starrte er vor sich hin ... die Brille war abgeflogen ... er war so gut wie blind ...
»Stehn Sie doch auf ... Donnerwetter nochmal!!«
Und Nelly reichte ihm beide Hände hin ... er griff zu wie ein tappiges Baby ... ließ sich emporziehen ...
»Herrgott nein — mit Ihnen ist aber auch wahrhaftig gar nichts anzufangen!«
Mama Sassenbach raste wie eine Furie durch den Saal ... Wo war ihr Mann? ...
Natürlich — der bekümmerte sich kein bißchen um seine Töchter ... hatte sich irgendwo im Rauchzimmer festgekneipt!
Wahrhaftig, da saß er mit dem Oberstleutnant, dem Bezirkskommandeur, ein paar pensionierten Exzellenzen und Stabsoffizieren um einen Siphon Münchener.
»Verzeihung, meine Herren! — Moritz, komm, wir müssen nach Hause!«
»Aber, Kind — 's ist ja noch nicht mal Mitternacht!«
[S. 179]
»Einerlei — wir müssen! Nelly hat einen kleinen Unfall gehabt ... Fuß verstaucht ... einen Riß im Kleid ... und außerdem —«
»Verflucht! — Selbstverständlich ganz zu deiner Verfügung, liebste Amelie! — Sie verzeihen, meine Herren!«
Die alten Herren schmunzelten.
Es kam selten vor, daß Frau Amelie von Sassenbach nicht aus irgendeinem Grunde vorzeitig zum Aufbruch blies und den Gatten vom Münchener wegschleifte ...
— Wutbebend berichtete Frau von Sassenbach ihrem Gatten.
Der fluchte: »Das kommt davon, daß sich das Mädel mit dem Landwehrfritzen eingelassen hat ... den hätte sie doch wahrhaftig kennen sollen! — Wo steckt sie denn?«
»Ist schon in der Garderobe — sie konnte sich ja im Saal überhaupt nicht mehr sehen lassen in dem ruinierten Kleid!«
»Und wo ist Molly?«
»Herrgott ja, Molly — — geh sie suchen, Moritz!«
Und Moritz ging auf die Suche.
Ja, wo war Molly? — Im Gewühl der Tanzenden spähte der Vater vergeblich nach dem lichtblonden Zopfgetürm über dem rosa Tüllfähnchen ...
Leutnant Blowitz, der als Ballarrangeur und Vortänzer fungierte, sah seinen Chef mit suchenden Augen in der Tür stehen. Er führte Frau von Brandeis, mit der er just eine Extratour tanzte, schleunigst zu ihrem rechtmäßigen Tänzer, Herrn von Schoenawa, zurück und schoß auf den Major zu: »Kann ich Herrn Major mit irgend etwas dienen?«
[S. 180]
»Ich suche meine Tochter Molly — wir brechen auf!«
»Meines Erinnerns habe ich das gnädige Fräulein vor ... vor zirka einer halben Stunde gesehen ... sie tanzte mit dem Einjährig-Freiwilligen Friesen!«
»So, mit dem Einjährigen — und seitdem — —?«
»Seitdem ist sie mir aus den Augen gekommen!«
»Na ... machen Sie kein Aufsehen ... hier im Saal ist sie nicht! ... Wo könnte sie sonst wohl sein —?«
»Im Rauchzimmer und im Billardzimmer haben Herr Major schon nachgesehen?!«
»Im Rauchzimmer war ich selbst! — im Billardzimmer — das wäre möglich!«
Lebhaft plaudernde Gruppen in allen Ecken, um die Spieltische gedrängt erhitzte Leutnantsgesichter, junge Mädchen und Frauen, die sich eifrig fächelten ... hastende Ordonnanzen mit Servierbrettern voller Selters- und Biergläser ... von Molly keine Spur! —
Also nochmals zurück in den Saal! —
Auch hier keine Molly! —
»Vielleicht weiß der Einjährige Bescheid?« meinte Leutnant Blowitz, »den muß man ja leicht herausfinden an seinen schauerlichen weißen Hosen!«
Jawoll —! die weißen Hosen waren ebensowenig zu finden wie das Majorsmädel ...
»Da bleibt nur noch eine Möglichkeit, Herr Major — — das gnädige Fräulein muß im Garten sein!«
»Is ja ausgeschlossen!«
Aber der bekümmerte Vater stürzte doch sogleich zur Veranda ... spähte in den Garten hinaus, dessen Laubengänge, vom Mondlicht angesilbert, dunkel träumten, nur[S. 181] von den mattleuchtenden Kugeln einiger Lampions belebt ...
»Molly!« rief der Vater gedämpft, »Molly — bist du hier?!«
— — Ein paar Minuten bangen Schweigens ...
Dann tauchte ein weißer Schatten aus der Dämmerung, und ... ein harmloses Lächeln auf dem glatten Engelsgesichtchen hüpfte Molly die Veranda hinauf: »Hast du mich gerufen, Papachen?«
»Allerdings — Mama bricht auf!«
»Oh, wie schade ... ich hatte mich so auf den Kotillon gefreut!«
»Tut mir leid! — Wie kommst du denn in den Garten?«
»Es war so heiß — — ich wollte mich ein wenig abkühlen!«
»So — abkühlen! — Na, komm!«
Lächelnd und schlank wie eine Fee schwebte Molly vorauf.
Der Major folgte. Unablässig zwirbelten seine Finger die lang herabhängenden grauen Schnurrbartspitzen ...
Er hatte sehr wohl bemerkt, daß hinter dem weißen Schatten, der sich aus dem Dunkel entwickelte, noch ein anderer weißer Schatten im Garten gespukt hatte ... aber der war nicht ans Licht gekommen ...
Er hatte eine heillose Ähnlichkeit gehabt mit einem Paar weißen Mannschafts-Paradehosen, auch »Porzellanbuchsen« geheißen — —
Ja, das hatte der Vater gesehen, aber ... er wollte nichts gesehen haben ...
[S. 182]
Nur künftighin besser auf das Mädel passen —!
»Na, gut' Nacht, lieber Blowitz! Ich danke Ihnen! Noch viel Vergnügen!«
»Danke gehorsamst, Herr Major! — Empfehle mich, mein gnädiges Fräulein!«
Wenn der nur nichts gemerkt hatte — —!
Blowitz verzog keine Miene beim Abschied.
Aber er hatte doch gesehen.
Na, wenn die Kleine sich partout einen Flirt mit dem Einjährigen in ihr blondes Köpfchen gesetzt hatte ... Hermann Blowitz fühlte weder zum Denunzianten noch zum Klatschweibe Beruf in sich ... Er wollte seine Entdeckung für sich behalten ... bei ihm war das Geheimnis der Kleinen gut aufgehoben —
Und Hans Friesen, der erst wie ein Verbrecher gezittert hatte, lachte nun selig in sich hinein in seinem dunkeln Versteck ... er tappte sich zu der Bank zurück, auf der er eben mit Molly gesessen — auf der er kühnen Muts einen scheuen, seligen Kuß erbeutet hatte ...
Der machte das Poetenherz schwer und warm ...
Er fühlte das Schicksal seines jungen Lebens über seinem Haupte ...
Es hieß Molly ... Molly Sassenbach — —
Um vier Uhr morgens waren die letzten Damen gegangen. Nun rotteten sich die Leutnants im Billardzimmer um die Siphons zusammen.
Teufel auch ... die Nacht war doch mal angebrochen ... die vorletzte Nacht in der Garnison ...
[S. 183]
Morgen nur Instruktionsstunden und Appell ... Appell ...
Stiefelappell ... Gewehrappell ... Appell mit eisernen Portionen und Appell mit Fußbekleidung ... Appell mit Sachen, die auf Kammer abgegeben werden mußten ... Stubenrevision ... und zuletzt Appell im Manöveranzug.
Das schaffte man auch mit unausgeruhten Knochen ... mit einem noch so wüsten Brummschädel.
Erhitzt vom Tanz goß man einen Schoppen nach dem andern in die glühende Kehle. Bald waren die Leutnants Klocke und von Finette wie die Staubsäulen betrunken. Energischer Zuspruch älterer Kameraden mußte sie zum Heimschwanken bewegen. —
Die Tanzlust war noch nicht gestillt. Da die Regimentsmusik verschwunden war, setzte sich der kleine Carstanjen ans Klavier und hieb eine wilde Walzermelodie in die Tasten hinein ...
All die unruhvollen jungen Männerherzen, in denen die Erregungen des Festes nachzitterten, lechzten unbewußt nach einem letzten äußersten Austoben ... Einer umfaßte den andern ... und bis zum Umfallen wurde gewalzt.
Verschlafen lungerten die Ordonnanzen in den Ecken herum und starrten mit blöden, verwunderten Augen auf das wilde Treiben ihrer jungen Herren ...
Schließlich wurden sie hinausgeschickt.
Und auf den hohen gotischen Stühlen, die sonst feierlich die Regimentstafel umstanden, wurde nun ein toller Ritt ausgeführt ... dann nach dem krähenden Kommando des kleinen Carstanjen ein großes Schwadronsexerzieren ...
[S. 184]
Ein jeder hatte sich dazu bewaffnet ... Eine große Trophäe von alten Ritterschwertern, Hellebarden und Morgensternen, welche die Wand des Rauchzimmers zierte, war zu diesem Zweck geplündert worden ...
Ein abenteuerliches Bild, die jungen Herren mit aufgeknöpften Waffenröcken ... rittlings auf den hochlehnigen Stühlen ... ausgerüstet mit phantastischem Gewaffen aus alter Ritterzeit ...
»Eskadron — Galopp —!«
Keiner aber glühte höher ... keiner johlte lauter ... keiner schwang die Waffe wilder als Martin Flamberg.
[S. 185]
[S. 187]
»Dat is en janz schöne Jegend hier ... oben Regen ... unten Dreck ... nix im Magen — der Düwel soll't holen!«
In unaufhaltsamem Marsch schob sich das erste Bataillon des Regiments Prinz Heinrich der Niederlande dem »Feind« entgegen.
Unaufhaltsam strömte der Regen ... seit Tagen ... seit Wochen ...
Unaufhaltsam fluchten und wetterten die Unteroffiziere der Königlichen Zweiten:
»Ich glaub, hier regnet et überhaupt et janze Jahr!«
»Weiß der Kuckuck, die vierzehn Dag, dat mer als hier obe rumkrabbeln, hann mer noch kei' trockne Minute jehatt!«
»Ich sinn als janz aus em Leim ... die Buxen reißen wie Schafleder ... an de Stieweln platzen die Sohlen ab ...!«
»Und trocken kriegt man die Brocken überhaupt nit mehr!«
»Na, Friesen, Sie sagen ja gar nix!«
Der Einjährige schwieg.
Die Tragriemen des feldmarschmäßig gepackten Tornisters schnitten tief in die Achseln. Alle fünf Minuten wanderte das Gewehr von der rechten Schulter auf die linke und von der linken auf die rechte ... in den Stiefeln schwappte eine[S. 188] lehmige Flüssigkeit ... und hinter den Ohren entlang rieselte ein beständiges Rinnsal eiskalten Regenwassers in die Halsbinde hinein ...
Von dem allen merkte Hans Friesen in diesem Augenblick auch nicht das Mindeste ...
Hans Friesen merkte nicht einmal, daß ihm der kurze Pfeifenstummel zwischen den Lippen längst kalt geworden war ...
Hans Friesen dichtete.
Ach ... herrlich konnte man dichten auf solch einem endlosen Marsch ...
Den Kameraden, den aktiven Unteroffizieren, ging immer nach der ersten Stunde der Stoff für ihre Kommißgespräche aus.
Die Berichte über das letzte Quartier, die Klagen über den miserabeln Fraß, die Renommistereien über Abenteuer mit den Bauernmädeln, das reichte nie weiter als eine knappe Meile. Dann bemächtigte sich der Kilometerstumpfsinn der marschierenden Kolonne, zumal dann das Gewicht des gepackten Affen allmählich immer fühlbarer wurde ...
Dann aber begann Hans Friesens gute Zeit.
Wie mutwillige Schwalben schossen dann seine Gedanken der Marschkolonne voraus ... strichen durch die regennassen Wälder zur Rechten und zur Linken, wo in der triefenden Feuchte zwischen vermodernden Baumstümpfen und Farndickichten ganze Kolonien grauer, gelber, violetter Pilze aus dem Boden gewachsen waren und mit ihren breiten Schirmdächern in lustigen Gruppen beisammen hockten ...
Aber weiter flatterten des Poeten Träume ... zurück zur Garnison ... um das blonde Haupt eines gewissen jungen Mädchens, das chargenmäßig in unerreichbarer Höhe[S. 189] über dem Unteroffizier stand, das er räumlich in weiter Ferne wähnte ... und das in Wirklichkeit, ohne daß Hans Friesen etwas davon ahnte, nur einen Tagemarsch weit in süßträumender Ferienruhe unter den rauschenden Hunsrückwäldern weilte ...
Und Hans Friesen dichtete.
Eine Strophe nach der andern fügte er zusammen ... feilte Zeile auf Zeile in Gedanken durch und sprach sie sich so oft vor, bis sie sich unvergeßlich seinem Hirn eingeprägt hatten, damit er sie am Abend blank und sauber in sein Dienstnotizbuch eintragen könne ... zwischen Vermerken über Brotempfang ... Kompagniebefehle ... Vorposteninstruktionen ...
Nun wiederholte er noch einmal die ersten Strophen des Gedichts, das ihm aus den triefenden Nebeln zugeweht war:
Ja, die zwei Strophen saßen! Das ließ sich nicht bestreiten! Nun mußte die Antwort kommen ... also munter weitergereimt ...!
Ja, wahrhaftig, das hatte er getan, wenn es auch noch so märchenhaft klang ... er hatte sie gehalten, die schlanke,[S. 190] blonde Majorstochter, gehalten an seinem Herzen, das unterm Tressenrock des Unteroffiziers so verdammt unvorschriftsmäßig gepocht hatte ...
Ach, und als er seinen Arm zum ersten Male um den weichen Körper gelegt ... Richtig — so mußte es ja weitergehen:
»fühl' deines Herzens Schlagen ...«
Ach ... und dann ... dann war ja das Unvergeßliche ... das schier Unglaubliche gekommen ...
»und Lippe weilt auf Lippe fest ...«
Schau, da war ja wieder eine Strophe beisammen — und auch die stand fest auf ihren vierzehn Versfüßen ...
Vor dem Dichter trottete in mürrischem Schweigen sein Kompagnieoffizier, der Leutnant Quincke.
Scheußliche Sache, so ein Manöver! — Eigentlich Dienst von morgens früh um drei bis abends um zehn und von abends um zehn bis früh um drei ... Die Körperpflege wurde nur noch markiert ... aussehen tat man schon mehr wie ein Latrinenreiniger und nicht wie ein Angehöriger des ersten Standes der Nation ... Dabei seit vierzehn Tagen kein weibliches Wesen mehr zu Gesicht bekommen ... die dreckigen Bauerntrinen zählten nicht mit — die waren höchstens was für die Herren Burschen!
Und was das Lächerlichste war ... seit acht Tagen führte dieser krumme Landwehronkel, dieser Leutnant Frobenius, die Kompagnie an Stelle des Hauptmanns Goll, der seinerseits als ältester Kapitän des Regiments für den Major Blasberg die Führung des zweiten Bataillons übernommen hatte.
[S. 191]
Blasberg hatte am Tage nach dem Regimentsfest, unmittelbar vor dem Ausrücken ins Manöver, in eine Nervenheilanstalt gebracht werden müssen. Die Schwermut, die ihn seit dem Tode seiner Frau zu Boden gedrückt hatte, war plötzlich als ausgesprochen krankhafte Melancholie zum Ausbruch gekommen.
Und so war nun der unmögliche Landwehroffizier der unmittelbare Vorgesetzte seines patenten Kameraden für die Dauer der Herbstübungen geworden ...
Und nun das Allerunglaublichste ... die Sache klappte —!
Auf seinem braunen, steifbeinigen »Roland«, der frömmsten Kuh aus dem Tattersall der Garnison, machte dieser Frobenius eine ganz leidliche Figur und hatte sich mit seinem vierbeinigen Freund auf ganz erträglichen Fuß zu stellen gewußt.
Der innere Dienst funktionierte tadellos ... na, Kunststück! — So ein Musterexemplar von Feldwebel — und der brillante Unteroffizierersatz!
Ja, darauf verstand sich der griesgrämige Hauptmann Goll ... Unteroffiziere erziehen, das war seine Spezialität! —
Übrigens war ja auch dieser Frobenius selber von einer kommissigen Gewissenhaftigkeit, daß es schon nicht mehr schön war!
In der Ortsunterkunft stelzte er wahrhaftig höchst eigenhändig von Quartier zu Quartier, steckte seine Nase in jede Eßschüssel und in jedes Bauernbett, um sich zu überzeugen, ob die Herren Füsiliere auch ordentlich zu essen kriegten und weich genug lägen.
[S. 192]
Er selber, Quincke, hatte sich zum Glück eine etwas vornehmere Auffassung des Königlichen Dienstes zugelegt. Wofür waren denn die Korporalschaftsführer da?
Ja, Frobenius hatte sich in seine Pflichten als Kompagnieführer ganz famos eingearbeitet und war infolgedessen mit seiner militärischen Situation zufrieden wie nie zuvor.
Er sah sehr verändert aus, hatte sich am Tage vor dem Ausrücken die wenigen Haarsträhnen seines Schädels ganz kahl abscheren, seinen langen, struppigen Vollbart kurz verschneiden lassen.
Auch seine Uniform sah nicht mehr ganz so vorsintflutlich aus, seitdem ihr Träger eine etwas vorschriftsmäßigere Haltung gewonnen, und mit seinem braven, alten Roland vollends fühlte er sich verwachsen wie ein Zentaur.
Was tat's, ob es regnete von morgens früh bis abends spät und die ganze Nacht hindurch ...
Freilich, damit war's nun auch Schluß ... Glück am Herzen des Weibes — damit würde es wohl niemals was werden ...!
Seit seinem Sturz im Tanzsaal hatte er jede Hoffnung aufgegeben. »Herrgott nein, mit Ihnen ist aber auch wahrhaftig gar nichts anzufangen«, das klang ihm noch immer im Ohr, und immer meinte er das hochmütige, zurückgeworfene Köpfchen, das empört aufstampfende Füßchen im Goldkäferschuh zu sehen ... ihr hastiges Vondanneneilen ... den Ausdruck der Wut über die gräßliche Blamage und den verdorbenen[S. 193] Abend im Klang ihrer Stimme ... in jeder Bewegung ...
Abschiedslos war sie ihm enteilt, und auch als Dienstag morgens um vier Uhr in der Dämmerung das Regiment von der Kaserne aus an der Wohnung des Majors vorbeimarschiert war zum Bahnhof hin, da hatte sie mit ihrer Mutter und Schwester auf dem Balkon gestanden und allen Herren einen freundlichen Abschiedsgruß gewinkt ... als aber er, Wilhelm Frobenius, auf seinem Roland den Säbel vor ihr gesenkt, da hatte sie kühl über ihn hinweggeschaut und dann Herrn Quincke, den Führer des vordersten Zuges der Zweiten, mit um so deutlicherer Freundlichkeit gegrüßt ...
Ade Hoffnung ... ade Träume ... ade süße, stolze Verkörperung des alten Amazonenideals ...!
Nein, es war vorbei ... keine Hoffnung mehr ...! Und selbst auf das Wiedersehen konnte er sich nicht mehr freuen ... auf das Wiedersehen, das wenigstens im Bereich der Möglichkeit lag. Denn er wußte ja von seinem Freunde Flamberg, daß die Amazone mit ihrer Schwester ebenfalls auf den Hunsrück hinaufgepilgert war ... Nein, hoffen und sich freuen — das gab's nicht mehr.
Und dennoch ...!
Wilhelm Frobenius zog die Manöverkarte aus seiner Packtasche. Der Regen prasselte auf das Zelluloidfutteral, und durch die Tropfen hindurch suchte der Reiter den Namen, um den sich trotz allem immer und immer seine Träume rankten ...
Am Allenbach entlang, einem Nebenwässerlein der Nahe, dessen Lauf auf der Karte durch zahllose kleine Sternchen begleitet war, welche Mühlen, Schleifmühlen darstellten,[S. 194] an der Einmündung des Beierbachs, war das Dörfchen Hettstein eingetragen und dicht daneben ein kleiner Kreis mit einem Fähnchen ... Das war das Schlößchen Hettstein, die neue Erwerbung der schönen Frau Cäcilie.
Hier hauste nun die stramme Reiterin ... die fesche Tänzerin ... die lächerlich Verehrte ...
Verrücktheit! — So ein Mädchen und seine Bücherexistenz ... die Lange-Pfeifen-Atmosphäre seiner winzigen Junggesellenbude ... sein demütiges, halbbäuerliches Mütterchen daheim im Westerwalddörfchen — und dieses Luxusgeschöpf ... dieses Freiluftwesen ...
Lächerlich! — Und doch ... und doch ...! Oh, Schloß Hettstein —!
Da horch —: Bum — und wieder: Bum —
Aus den triefenden Nebeln, welche bis tief über die langgestreckten Kuppenzüge des Idarwaldes niederhingen, war der erste Kanonenschuß gefallen ... Von dort war der »Feind« zu erwarten: Aufgabe des Regiments, ihn am Heraustreten aus dem dicken Forste zu verhindern ...
Und Leutnant Blowitz sprengte von der Tête her am Bataillon entlang: »Die Herren Kompagnieführer zum Herrn Major!«
Da faßte Frobenius Rolands Zügel kürzer, nahm den linken Schenkel zurück ... Ein ganz klein bißchen sträubte sich die faule Kreatur, dann hoppelte sie gemächlichen Äppelgalopp mit ihrem Reiter an der Zweiten und Ersten entlang auf den Bataillonskommandeur zu, der seinen Kompagnieführern die Gefechtslage erklären und seine Befehle ausgeben wollte.
[S. 195]
Der Herr Major von Sassenbach ...
Der schaute dem Anreitenden entgegen mit Augen, die Frobenius kannte ... mit schelmisch blitzenden Reiteraugen ...
»Na, lieber Frobenius, wie war's Quartier?«
»Danke gehorsamst, Herr Major! — Waschen müssen hab ich mich auf dem Korridor: meine Schlafstube reichte nur fürs Bett!«
»Und ich hab' 'ne Art Tanzsaal gehabt ... mußte heut morgen 'ne halbe Stunde nach mir selber suchen, bis ich mich fand! — Sie sehen übrigens ganz vergnügt aus bei diesem Sauwetter!«
»Warum auch nicht, Herr Major!? — Man kann ja dabei an die schönsten Sachen denken!«
Der Major schmunzelte.
Eigentlich ein ganz prachtvoller Herr, dieser Don Quijote! — Schade, das Malheur im Tanzsaal! — Schließlich — Frau Professor wäre doch eigentlich durchaus standesgemäß gewesen ... und daß er ein Bürgerlicher war ... du lieber Gott, wenn ein Mädel mal sechsundzwanzig Jahre alt geworden ist ...
Dem Miniaturkrieg, welchen beide Brigaden, durch Kavallerie, Artillerie und Spezialwaffen verstärkt, im zweiten Manöverabschnitt gegeneinander zu führen hatten, lag eine überaus komplizierte Annahme für die allgemeine Kriegslage zugrunde. Aber diese Annahme existierte eigentlich nur für die beiden Detachementsführer. In das geliebte Deutsch der Unterführer und vollends der Mannschaften übersetzt[S. 196] verwandelte sich jede Gefechtsannahme, verwandelte sich überhaupt das ganze Manöver in das äußerst einfache Rezept:
Marschieren, bis man an den Feind heran ist — dann ausschwärmen, schießen, sprungweise vorgehen — marsch, marsch, hurra!
Na — und das hatte man ja gebimst bis die Schwarte knackte!
Für das sogenannte »gemeine Truppenschwein« — und unter diesen Begriff rechnete man mindestens alles, was »tippeln« mußte, auch die Herren Leutnants der Infanterie — war so das ganze Manöver nichts weiter als ein abwechslungsreicher, strapaziöser und wenig komfortabler Spaziergang mit mancherlei scherzhaften Unterbrechungen.
»Also, meine Herren,« schloß Major von Sassenbach eine längere Auseinandersetzung über jenes verwickelte und höchst theoretische Problem, das sich aus der allgemeinen Kriegslage ergab, »der Witz vons Janze ist folgender: Durch die Aufklärung ist festgestellt, daß der Feind durch den Idarwald im Anmarsch ist, und zwar auf der Chaussee, die von Bischofsthron über das ›Graue Kreuz‹ nach Bruchweiler führt. Wir stehen augenblicklich am Südeingang von Kempfeld, das Nest halblinks vorn ist Bruchweiler; das müssen wir vor dem Feind erreichen und von seinem Nordwestrande aus den Feind am Heraustreten aus dem Idarwalde verhindern. Das erste Bataillon ist vorn, das zweite und dritte folgt; das Schwesterregiment marschiert auf der Linie Schafbrücke-Schauren. Wir haben also Gefechtsanschluß rechts und sollen im Angriffsfalle links überflügeln, sonach bleiben wir[S. 197] im Vormarsch auf Bruchweiler, alles übrige entwickelt sich historisch — ich danke Ihnen, meine Herren —!«
Na, das strategische Geheimnis des Morgens hatte sich also gelüftet, und die Herren Kompagnieführer galoppierten zu ihren Kolonnen zurück.
Weiter ging's in strömendem Regen durch das stumme, ärmliche Dörfchen Kempfeld — laut kakelnd stoben die Hühner von der Landstraße herunter auf die bergenden Misthaufen; flachsköpfige Buben und Mädel sprangen aus den Türen, schrien den Kriegern die ewige Kinderfrage zu: »Saldat — kummen 'er noch mieh?«
Langsam ansteigend gen Bruchweiler zu schlängelte sich der lehmige Weg durch abgeerntete, teilweise bereits umgepflügte Felder, deren nasse Schollen, von der Pflugschar abgestochen, speckig glänzten ... eine lange, dunkle Wand, von grauer, zerfranster Wolkendecke überlagert, reckte sich der Idarwald. Von dort her klangen immerfort die dumpfen Schläge der Geschütze. Zur Rechten irgendwo, auf einer umnebelten Höhe vergraben, antwortete die Artillerie des Süddetachements ...
Willkommene Musik für das Soldatenohr! Sie bedeutete: Bald hat sich's ausgekilometert — und wir kriegen ihn am Kragen, den bösen Feind — dann geht's ins Quartier.
Ei verflucht, nein ... nicht ins Quartier ... Heute stand am Ende des Marschtages ein Biwak auf kotigem Stoppelfeld ...
Noch drei Kilometer bis Bruchweiler.
Inmitten eines Hages von leise herbstlich gebräunten Obstbäumen träumte das verschlafene Dörfchen unterm Schirm des Waldgebirgs ...
[S. 198]
Plötzlich — rack ... tack, tacktack — Vom Dorfrand her knatterten die ersten Gewehrschüsse durch die brauenden Dünste.
Nach einigen Minuten stob in vollem Galopp ein Zug der diesseitigen Kavallerie, der Deutzer Kürassiere, den Anger entlang, in eiliger Flucht hinter der anrückenden Infanterie Deckung zu suchen.
Wie schmutzige Mehlsäcke sahen die weißen Koller aus im trüben Morgenlicht ...
Ihr Führer meldete im Vorbeirasen dem Major: »Bruchweiler wird soeben von abgesessener feindlicher Kavallerie besetzt!«
Hochauf richtete sich der Major in den Bügeln: »Herr Leutnant Blowitz!«
»Herr Major?!«
»Das Bataillon entwickelt sich links gestaffelt, links der Chaussee — vierte Kompagnie hinter der linken Flanke aufmarschiert, aber geschlossen, zu meiner Verfügung!«
»Zu Befehl, Herr Major!«
Der Adjutant preschte zurück.
Wie der Blitz war Hauptmann von Brandeis vom Gaul herunter, warf die Zügel seinem Burschen zu, der dienstkundig sogleich zur Hand war: »Die ganze Kompagnie nach links — schwärmen! Marschrichtung: der große Baum in der Mitte des Dorfes!«
Und in den Bügeln richtete sich auch Leutnant Frobenius auf ... Roland fuhr aus seinem Halbdusel mit Entsetzen empor und machte einen kleinen Seitensprung: »Exerzierordnung! mit Gruppen links schwenkt — marsch, marsch!«
[S. 199]
Schon stob der Major heran. »Zum Donnerwetter, Herr Leutnant Frobenius, Sie wollen wohl hier im Bereich des feindlichen Feuers Kompagnieexerzieren abhalten —?!«
»Herr Major, ich wollte —«
»Ach was, zum Kuckuck — lassen Sie schwärmen und gar nichts weiter! — Auseinander mit den Kerls! Geben Sie einen Marschrichtungspunkt an — dann läuft die Karre von selber!«
Jesses — dieser Landwehrfritze —! zu nichts zu gebrauchen — höchstens zum Schwiegersohn, und auch dazu nur unvollkommen — —
»Stellung!« kommandierte Hauptmann von Brandeis.
Da purzelte die lange Schützenlinie der ersten Kompagnie wie hingemäht auf den Bauch in den triefenden Sturzackerlehm —
»Geradeaus am Dorfrand, Schützen! Visier 800 und 900! Schützenfeuer!«
Und — rack, tacktacktack rollte das Schützenfeuer die Front entlang — —
Der lustige Waffentanz begann. —
In hellen Massen waren die Schützen des feindlichen Detachements aus den dunkeln Hängen des Idarwaldes herausgetreten, verstärkt durch zwei Flaggenbataillone, das heißt: Bataillone, die in Wirklichkeit nicht existierten, sondern nur durch je eine blaue Flagge statt einer Kompagnie markiert wurden, und hatten mit dieser künstlich hergestellten Übermacht die »Niederländer« und ihr Schwesterregiment bis weit hinter Kempfeld zurückgeworfen.
[S. 200]
Hier fand das Süddetachement an den bewaldeten Hängen des »Sandkopfes« und der »Marscheider Burr« einen Stützpunkt.
Darüber war es vier Uhr nachmittags geworden.
Allmählich war das lärmhafte Duett der Geschütze von hüben und drüben verstummt und die Verfolgung ermattet. Gegen fünf Uhr hatten die »Niederländer« jenseits des Höhenrückens Biwak bezogen.
Das zweite Bataillon hatte das zweifelhafte Vergnügen, die Vorposten zu stellen, die sich nun auf den felsigen Kuppen des Höhenrückens aufbauten. Dahinter biwakierte geschlossen das erste und dritte Bataillon in einer schmalen Lichtung der Waldes auf dem langsam sich senkenden Abhang gen Herborn zu.
Mit Zauberschnelle bauten sich hinter den Gewehrpyramiden die niedern braunen Zugzelte auf ... Kochlöcher wurden geschaufelt ... lange Züge zum Wasserholen, die klappernden Kochgeschirre der ganzen Kompagnie in der Hand, stiegen zum entfernten Dorf herunter; bald rollten auf der Chaussee die bereits während der Gefechtspause vorsorglich an den vorbestimmten Biwakplatz dirigierten Wagenkolonnen heran. Ganze Berge von Stroh und Holz wurden abgeladen. Der Küchenunteroffizier empfing schmunzelnd seine Portion Blechbüchsen mit Pökelfleisch, seinen Stapel Pappkartons mit Preßgemüsekonserven, seinen Anteil Salz und Kartoffeln ...
Rasch wurde alles in eine Leinwandplane gewickelt: denn der Regen drohte die ganze Herrlichkeit schon vor der Zeit zu einem Brei zusammenzurühren ...
Und bald knisterten und qualmten überall die Flammen,[S. 201] umschwelten das durchnäßte Stroh, das triefende Reisig, das die Füsiliere zusammengeschleppt.
Martin Flamberg hockte auf den Knien dicht neben dem just einen Meter hohen braunen Zelte, das die Burschen für die Herren der ersten Kompagnie aufgeschlagen hatten, und pustete mit aufgeblasenen Backen das immer wieder erlöschende Feuer an ... aus dem Kessel stieg der Duft zerkrümelter Erbswurst, die mit würfelförmig geschnittenem Cornedbeef vermengt und mit einem dicken Büschel kleingeschnittener Küchenkräuter vermischt war — die hatte Martins gerissener Bursche, der Füsilier Klomprich, beim Vorbeimarsch durch die Stakete der Bauerngärten hindurch erwischt ... das duftete verdammt appetitlich ...
Wenn nur das Feuer endlich mal ordentlich durchbrennen wollte ... Die sämtlichen Burschen hatten schon ihren letzten Atemzug verpustet ... nun pustete der Herr Leutnant selber ...
Er fühlte sich persönlich verantwortlich für das leibliche Wohlergehen seines Kompagniechefs, seines Kameraden Carstanjen und der beiden Gäste des Offiziertisches, des Kompagniefeldwebels und des jungen Fahnenjunkers von Erichsen.
Er pustete, pustete, pustete. — Dunkelrot schwoll ihm das Gesicht ... Aschenflocken stoben ihm um die Nase ...
Gott sei Dank! Endlich schwelte ein schwaches Flämmchen auf, qualmig fauchte es in das nasse Stroh hinein ... »Sauerei verfluchte —!« ... Er richtete sich auf.
In diesem Augenblick scholl hinter seinem Rücken ... scholl — — was —?! Das mußte ein Traum sein — scholl ein silbern schmetterndes, dreistimmiges Frauenlachen — —
[S. 202]
Er fuhr herum.
Bei Gott ... da standen drei schlanke Gestalten ... drei glühende, regenfeuchte Gesichter strahlten aus den aufgeklappten Kragen der Gummimäntel unter unförmlichen Wachstuchmützen ... in nasse Strähnen zusammengepappt hingen die rötlichblonden Haare der einen, die weißblonden der beiden andern über die erhitzten Wangen ... Nelly und Molly von Sassenbach und ... sie.
»— Hahaha, Herr Leutnant Flamberg ... nein — wie Sie bloß aussehen ... einfach zum Wälzen, Herr Flamberg!«
Wahrhaftig — er sah ein bißchen anders aus als beim Ball unter den flimmernden Kerzen des Kasinosaales.
Die hohen Stiefel, die Kniee, die Schöße des Waffenrocks lehmüberkrustet, in steifen, groben Falten hing der graue Umhang um seine Schultern; der hochgeklappte Kragen zeigte sein schmutzig rotes Futter, die weiche Feldmütze saß beiderseits auf dem Ohr, der große, zerschrammte Schirm tief in der Stirn ...
Aber darunter ... darunter leuchteten die braunen Augen aus dem nun tiefgebräunten Gesicht so verwettert, so kriegerisch in sieghafter Männlichkeit ...
Frau Cäcilie war jählings verstummt, als diese braunen Augen mit ungewollter heißer Huldigung sich in die ihren gesenkt hatten ... als die heißen Lippen sich tief auf ihre regenfeuchte Hand niederbeugten ...
»Gnädige Frau — meine Damen — — wahrhaftig, die Sonne geht auf!!«
»Sie sehn, wir haben's nicht lange ausgehalten da unten in unserer Dreieinsamkeit auf Schloß Hettstein,« sagte langsam, stockend die schöne Frau.
[S. 203]
»Nee wahrhaftig — wir hatten direkt krampfhafte Sehnsucht nach roten Kragen und blanken Knöpfen!« bestätigte Nelly Sassenbach.
»Na, und da konnte Ihnen geholfen werden — nicht wahr, meine Damen? Aber nun sagen Sie bloß, wie in aller Welt haben Sie sich denn hier heraufgefunden in diese gottverlassene Wald- und Bergesöde?«
Frau Cäcilie wies nach der Chaussee hinüber. Da blinkte durch die Nebelschwaden ein funkelnagelneues, schneeweißes Automobil: »Ein sehr nobles Geschenk meines Vaters zu unserm Einzug auf Schloß Hettstein!«
»Reizend von dem alten Herrn — was sagen Sie, Herr Flamberg? Ja, ja, solchen Vater muß man haben!« lachte Nelly.
Aber ihre Augen schweiften dabei ruhelos suchend über das buntwimmelnde Bild des muntern Biwaktreibens hin ..
»Wo ist mein Mann?« fragte Frau Cäcilie.
»Der sorgt für seine hundertzwanzig räudigen Schäflein!« meldete der kleine Carstanjen, der inzwischen herangekommen war und die Damen begeistert begrüßte. »Aber sieh — da kommt er ja schon!«
Ja, da kam er.
Die Hand im braunen Feldhandschuh am breiten Schirm der Manövermütze — sein gutes, ehrenfestes Gesicht strahlend in Glückseligkeit: »Welch seltner Glanz in unserer Hundehütte, meine Damen! — Na, komm her, Alte!«
Ehe Cäcilie sich's versah, hatte er sie an beiden Schultern gefaßt, unbekümmert um die ringsum gaffenden Füsiliere, Burschen, Unteroffiziere —
»Aber Fritz —!«
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»Teufel auch — armer, verdursteter Landsknecht! — Ja, da lachen Sie, kleiner Carstanjen! Ist aber nur der Neid der besitzlosen Klasse!«
Flamberg lachte nicht ... er hatte sich abgewandt ... starrte einen Moment in die Nebelschwaden hinein, die um die Bergkuppen geisterten ...
»Na, sag bloß, wie kommt ihr denn an den weißen Quietschkasten da hinten?«
Frau Cäcilie gab Aufklärung.
»Donnerwetter — geht doch nichts über 'nen nobeln Schwiegeralten! — Na warte, werden wir ihm gleich eine Meldekarte schreiben mit unserm gehorsamsten Dank! — Na, Flamberg, und da werden Sie wohl noch ein paar Erbswürste und ein paar Büchsen Cornedbeef mehr spendieren müssen!«
»Ach was — Erbswürste, Cornedbeef! — Wir haben euch viel was Besseres mitgebracht!«
Umringt von den staunenden Füsilieren schleppte der Chauffeur einen wuchtigen Korb heran ... goldbekapselte Flaschenhälse ragten daraus hervor ... aus appetitlichen Papierhüllen entwickelte sich kaltes Geflügel ... alle möglichen Blechbüchsen mit Pasteten und Ragouts ...
»Pfui Teufel — total unkriegsmäßig! — Luxus und Wohlleben greifen um sich!«
»Halt, halt — nicht alles wegnehmen! — Der hohe Bataillonsstab muß auch was mithaben!«
Das Automobil hatte natürlich das ganze Biwak auf die Beine gebracht. Von allen Seiten strömten die Herren der beiden Bataillone heran, die Damen zu begrüßen, und in respektvoller Entfernung starrten die Unteroffiziere,[S. 205] glotzten die Füsiliere herüber zu den liebreizenden Gästen ihrer Herren, die nun, von Geplauder und Lachen umschwirrt, ihre Schritte dem Bataillonsstabszelt zulenkten.
Als die Gruppe am Biwak der zweiten Kompagnie vorüberkam, hemmte Nelly ihren Schritt ... schon von weitem sah sie, den ihr Blick suchte ...
Frobenius hatte seine Kompagnie beim Gepäck antreten lassen und hielt Gewehrappell ab ... gewissenhaft ging er von Mann zu Mann ... jeder mußte mit ausgestreckter Rechten die Waffe, aus der die Verschlußteile entfernt waren, in die Höhe halten, und der Kompagnieführer schielte durch den Lauf hindurch, ob er auch gründlich gesäubert sei ...
Tausend, wie er sich verändert hatte in den paar Manövertagen! — Ordentlich militärisch sah er aus ... ordentlich kriegerisch, der gelehrte Herr, trotz seiner großen Brille ... mit den kotbespritzten Reitstiefeln, dem kurzverschnittenen Bart, der zerknitterten Feldmütze überm tiefgebräunten Gesicht ...
Nelly wußte: jetzt durfte sie nicht stören! Und schnell folgte sie ihren Reisegefährtinnen, die, von einer ganzen Schar Offiziere umschwärmt, ihren Vater zu begrüßen gingen. —
Wo aber die Unteroffiziere der Zweiten um ihr Feuerchen hockten und sich ihre Erbswurstsuppe zurechtbrutzelten, da war ein junger Bursch halbleibs emporgeschossen ...
Himmel! — die Oreade, die lauschend hinterm Felsen schwieg! die Heldin all der zahllosen Lieder, welche ihm zugeflogen waren auf den Märschen der letzten Tage ...
[S. 206]
Auf! — auf! ihr entgegen! — aber, Teufel nein, wer war man denn? — Ein armer Kommißknabe ... nichts als ein ganz gewöhnlicher Kaldaunenschlucker ...
Er in seiner schirmlosen Feldmütze, in seinem geflickten Tressenrock, mit seinen ungewaschenen Händen ... und sie ... sie wandelte fern, fern und unerreichbar ... wie ein leibhaft gewordener Dichtertraum ...
Aber suchten nicht ihre Augen? — suchten sie nicht —
Nun hatten sie gefunden ... ihn gefunden ...!
Die flaumigen Bäckchen flammten ... sie nickte ihm kurz und gemessen ...
Da sprang er auf ... stand stramm ... legte die Hand an die Feldmütze ... und warf sich dann wieder lang hin neben das qualmende Feuer ... überhörte die plumpen Späße seiner Kameraden, des Sergeanten Metzges, des Oberlazarettgehilfen Nattermüller, des Unteroffiziers Franzkowiak ...
Stumm und ausgehungert löffelte er aus dem blechernen Kochgeschirrdeckel seine Erbswurstsuppe in sich hinein — seine Seele aber formte den letzten Vers zu seinem Morgenliede:
Vor dem Bataillonsstabszelt, der einzigen Behausung im ganzen Biwak, die mit den Wohnungen zivilisierter Menschen eine entfernte Ähnlichkeit hatte, unter dem Vordach, das wenigstens einen dürftigen Schutz gegen den immerzu[S. 207] munter niederströmenden Regen bot, hatte sich eine lustige Tafelrunde zusammengeschart ... ein paar hochkant gestellte Kisten bildeten Tische und Sitzgelegenheit ... das Service bestand aus groben Steinguttellern, aber die erlesensten Delikatessen der Saison gab's diesmal zu schmausen statt der üblichen Feldkost, der Preßgemüsesuppe, des halbverbrutzelten Konservengulasch ... Das heißt, auch diese kriegsmäßigen Speisen fanden ihre Abnehmer ... die drei Damen kosteten sie mit Begeisterung ... die mitgebrachten Herrlichkeiten überließen sie den Herren ...
Den Sekt trank man aus ramponierten Kaffeetassen ...
»An meiner is kein Henkel dran ...!«
»Schad' nischt — is Henkell drin!« schmunzelte der flaumbärtige Carstanjen.
Sassenbach hielt eine kleine Rede auf den holden Besuch: »Mit hold meine ich natürlich nur die gnädige Frau, nicht euch, ihr Mädels ... das bildet euch bloß nicht ein!«
Mit galantem, stürmischem »Oho!« protestierten die Leutnants.
Frau Cäcilie war still ... sie nahm sich zusammen; denn einmal hatte sie einen Blick ihres Gatten aufgefangen, der mit stummer, banger Beobachtung an ihr hing, als sie hingerissen ... selbstvergessen mit Martin Flamberg geplaudert ...
Doch immer verglich lechzend, qualvoll ihr armes Herz.
Hier ein friedlich knisterndes Herdfeuer — dort eine jetzt verhalten glostende, oft aber heiß und goldigrot auflodernde Glut.
Warum bin ich heraufgekommen? — Nutzlose Quälerei!
[S. 208]
Und doch zählte sie angstvoll Viertelstunde um Viertelstunde, die verrann unter neckendem Geplauder, hin und wieder flatternden Scherzworten.
Der Sekt schäumte in blauen Emaillebechern, in zerbrochenen Tassen aus dem Fünfzigpfennigbasar. Gleichmäßig tropfte draußen der Regen aus den ziehenden Nebelschwaden hernieder. Die Dämmerung sank. Gesättigt, sangen draußen die Soldaten immer und immer wieder das Heimkehrlied:
Und eine tief lastende Melancholie umwob das Haupt der schönen Frau ... Warum war sie nur heraufgekommen? Es hatte ja doch keinen Zweck.
Mit einem Male meldete von draußen her die Stimme des Postens vor der Fahne: »Der Herr Oberst kommt!«
Hei — das platzte wie eine Granate mitten hinein in die harmlos schmausende Gesellschaft!
Der Major sprang auf: »Herrschaften, laßt mich durch!«
Er stelzte mit seinen vom langen Reiten und langen Sitzen steifgewordenen Beinen aus dem Schutze des Zeltdachs heraus, dem Regimentskommandeur entgegen, der heute das Detachement führte.
Durch den Nebel kam's von der Chaussee herangetrabt ... der Regimentsstab, die Herren in Mützen ...
[S. 209]
Oberst von Weizsäcker, neben ihm, unnahbar wie immer, Herr von Schoenawa, sein Adjutant, und Oberleutnant Menshausen, der als Ordonnanzoffizier zum Regimentsstabe kommandiert war — ein paar Trompeter und Meldereiter von den Deutzer Kürassieren in ihren mattblinkenden Stahlhelmen.
Der Oberst, stattlich und rosig, mit den braunweißen, beständig zuckenden Schnurrbartflämmchen, nahm die Meldung des Biwakskommandanten entgegen, tat ein paar Fragen über Nachrichten vom Feind, Sicherheitsmaßregeln, Verfassung und Gesundheitszustand der Mannschaften ...
Da hatte er unterm schützenden Dach des Stabszeltes die hellen Regenmäntel, die wehenden Schleier der Damen erspäht.
Neugierig, in ritterlicher Haltung trabte er heran und begrüßte die errötenden Gäste des Biwaks.
»Meine Damen — allerhand Respekt! Bei dieser Sintflut im rauhen Kriegsgetümmel?«
Einen hämischen Zug um die Mundwinkel, hielt Oberleutnant Menshausen zur Linken des Obersten.
Schau, schau, die schöne Frau Cäcilie im Biwak — und die beiden Fräulein von Sassenbach ... und selbstverständlich in der Nähe der schönen Frau der Herr Sommerleutnant und Maler aus Düsseldorf ... und neben dem schlanken Majorstöchterlein die Karikatur, der Gehirnfatzke aus Bonn ...
Ein Skandal, daß man durch das an sich ja sehr ehrenvolle Kommando verhindert war, die Entwicklung dieser interessanten Ereignisse aus der Nähe zu verfolgen.
[S. 210]
Aber warte — nächstens im Korpsmanöver ... was sagte die Manöverquartierverteilungsliste? Samstag, den neunzehnten September bis Sonntag, den zwanzigsten September: Regimentsstab — Schloß Hettstein — Erstes Bataillon — Bataillonsstab, erste und zweite Kompagnie: Dorf Hettstein —
Dann werden wir also die ganze Gesellschaft dicht beisammen haben ... dann werden ja die Dinge mehr oder weniger zum Klappen kommen ... dann könnte man vielleicht gar ein bißchen nachhelfen ...!
Wie ... das würde sich finden! — Jedenfalls irgend etwas würde sich dann ereignen ... ein kleiner Spaß ... eine kleine Abwechslung in diesem verflucht eintönigen Kommißdasein ...
Dann würde man sich entschädigen können für so manchen Ärger, den man hatte schlucken müssen ...
Inzwischen mußte man freilich die Karre laufen lassen, wie sie laufen wollte ...
Wenn man nur einen Vertrauensmann wüßte —?
Ah — Quincke — auch in dieser Wildnis das unvermeidliche Monokel ins fahle Gesicht geklemmt ...
Menshausen winkte den jüngern Kameraden an die Seite seines Gaules, streckte ihm die braunbehandschuhte Rechte hin: »Sie, lieber Quincke — im Interesse unseres Offizierkorps — beobachten Sie doch mal die beiden Herren des Beurlaubtenstandes, den Flamberg und den Frobenius, ein bißchen genauer, wenn die Damen in der Nähe sind ... Brandeis hat ja ein Schlößchen hier in der Nähe gekauft — also werdet ihr wohl öfter das Vergnügen haben — Mir kommt's vor, als ob die beiden fremden Herren — —«
[S. 211]
»Selbstverständlich, lieber Menshausen, hab's längst gemerkt ... Denken Sie, ich schlafe mit offenen Augen?!«
Leise tuschelten die beiden Herren ...
— Und Quincke paßte auf, als nun der hohe Stab von dannen getrabt war ...
Immer tiefer sank die Dunkelheit ... die Damen, von den Herren geführt, unternahmen noch einen Rundgang durchs Biwak, während die Azetylenlampen des Mercedes, vom Chauffeur entzündet, bereits weiße, gleißende Lichtkegel in die Abenddünste zeichneten ...
Aha ... Frau von Brandeis wieder zwischen ihrem Mann und Herrn Flamberg ... ja, ja, immer à trois ... unbegreiflich diese eselhafte Vertrauensduselei des Kapitäns ...
Und Fräulein Nelly von Sassenbach natürlich Seite an Seite mit dem hagern Landwehrleutnant ...!
Quincke schlich hinter den beiden her und lauschte ...
»— Ja, mein altes Mütterchen, gnädiges Fräulein — eine ganz, ganz einfache, einsame alte Frau! Sie hat sich nicht entschließen können, nach meines Vaters Tode das Dörfchen droben auf dem Westerwald zu verlassen, wo ihr Mann dreißig Jahre lang die Buben und Mädel in die Geheimnisse des ABC eingeweiht hatte ... ach ja, eine einfache Frau! Aber was für Augen, gnädiges Fräulein ... Augen wie so ein altes wundertätiges Waldweiblein aus dem Märchen ...«
»Ach ja ... die möcht ich wohl kennen lernen —!«
Feine Zusammenstellung, grinste Quincke: junge Dame von Stand, passionierte Reiterin und Tänzerin ... Tochter eines preußischen Stabsoffiziers — — und eine[S. 212] Bauernschulmeisterswitwe in einem Waldnest! — Na ja ... wenn die Menschen verrückt werden, fängt's im Kopf an —!
Aber es kam noch toller.
Im Halbdunkel gewahrte Quincke, daß das jüngere Fräulein von Sassenbach unauffällig zurückzubleiben suchte ...
Und wahrhaftig! — Da tauchte aus der Mitte der Mannschaften, die um ihre Lagerfeuer rasteten, die Gestalt eines Unteroffiziers auf ...
Aha, der Einjährige, der den langweiligen Quatsch zum Regimentsfest verbrochen hatte! —
Weiß der Himmel — er begrüßt sie wie ein Kavalier ... sie plaudert mit ihm ... und nun zieht der Einjährige ein Notizbuch aus der Tasche ... nimmt eine beschriebene Meldekarte heraus ... reicht sie der Dame ... Die errötet tief ... legt sie sorgsam zusammen und steckt sie in die innere Tasche ihres Regenpaletots ...
Warte, Bürschchen ... dich wollen wir mal auf deinen Standpunkt zurückbringen ...!
»Nun, gnädiges Fräulein ... wollen Sie sich nicht Ihrem Fräulein Schwester anschließen? Die Damen begeben sich bereits zum Auto zurück ... Bitte übrigens einen Moment um Verzeihung! — Sie, Einjähriger, hier haben Sie zwanzig Pfennige ... gehen Sie doch mal zum Marketender an den Kantinenwagen und holen Sie mir ein Schinkenbutterbrot ... Sie können's mir ans Offizierzelt bringen ...!«
Hans Friesen war einen Augenblick starr ... dann faßte er sich, wandte sich kurz herum, spähte in die Gruppe der Füsiliere hinein, die ums Lagerfeuer saß: »Makowiak!«
[S. 213]
Der Angeredete, ein hübscher, polnischer Rekrut, stand sofort in strammer Haltung neben dem Unteroffizier: »Zur Stelle!«
»Herr Leutnant Quincke wünscht ein Schinkenbutterbrot vom Marketender ans Offizierzelt. Hier ist das Geld!«
»Einjähriger, ich habe Sie selber beauftragt, wie Sie gehört haben! — Ist das vielleicht unter Ihrer Würde, was?!«
»Jawohl, Herr Leutnant —!«
Quincke biß sich auf die schmalen Lippen: »Na — dann erteile ich Ihnen also hiermit den dienstlichen Befehl, mir das Butterbrot zu holen!«
Hans Friesen stand stramm ... regungslos ...
»Wollen Sie sich vielleicht der Gehorsamsverweigerung vor versammelter Mannschaft schuldig machen —?!«
Hans Friesens Lippen bebten ...
Er erinnerte sich der Strenge der militärischen Gesetze: der Vorgesetzte hat in dem Augenblick, in dem er befiehlt, immer recht — — Er nahm dem Füsilier das Geld wieder ab, machte stramm kehrt und stapfte ins Dunkel, dorthin, wo die Laternen des Marketenderwagens gelblich aufleuchteten — — —
Dafür sollte der Frechling ihm Rede stehen — in vierzehn Tagen, wenn der bunte Rock abgestreift war ... Warte, du Affe! — Wollen sehen, wer am besten schießt von uns zweien! —
— Tränen der Wut und Empörung in den Augen, sprachlos hatte Molly dem Auftritt zugeschaut: »Das ist abscheulich, Herr Quincke!«
[S. 214]
»Wieso?« näselte der Leutnant, »is doch höchstens 'ne Ehre für den Unteroffizier, wenn er seinem Zugführer einen Gefallen tun kann!«
»Ich sag' es meinem Vater — verlassen Sie sich drauf!«
Das Auto war von dannen gerattert ... und jählings sank die Nacht ... sank die Stille über das nebelumsponnene Feldlager ...
Schweigend, fest in ihre Mäntel gehüllt, saßen Brandeis und Flamberg auf den umgestürzten Wein- und Menagekisten vor dem niedern Zelt — —
Der kleine Carstanjen und der Fahnenjunker schnarchten bereits drinnen im Stroh — —
Beider Männer Blicke hingen an dem phantastischen Schauspiel der mählich verglimmenden Lagerfeuer, deren rötliches Glosten allein noch die Schwärze der Nebelnacht durchdrang — —
Und beide Männer träumten von Frau Cäcilie — —
»Sagen Sie, lieber Flamberg ... mögen Sie mich ein bißchen leiden?« fragte der Hauptmann auf einmal mit verschleierter Stimme.
»Wie meinen Herr Hauptmann —?!«
»Ob Sie mir ein bißchen gut sind, möcht' ich gern wissen?!«
»Herr Hauptmann, ich ... ich möchte unter Ihnen in den Krieg ziehen ... mit Ihnen zusammen fechten und bluten ... dann wollt ich's Ihnen beweisen ...«
»Das freut mich zu hören,« sagte der Hauptmann, »das freut mich zu hören ...«
[S. 215]
Einen Augenblick Stille — tiefe Stille —
Martin hatte verstanden ...
Nein ... er durfte ganz ruhig sein, der brave, ehrenfeste Mensch da neben ihm ... er, Martin, würde sich künftig noch mehr zusammennehmen ... beim nächsten Wiedersehen ... seine Augen, seine Stimme noch mehr im Zaum halten ... noch mehr als heute ...
»Na ... nun kommen Sie —«
Freundschaftlich und vertrauensvoll klopfte der Kapitän dem Kameraden auf die Schulter — —
»Es ist Zeit ... morgen früh um vier wird abgebaut ... wollen ins Stroh kriechen ...!«
[S. 216]
Frau Cäcilie hatte einen bangen Traum.
Ein Geläut klang ihr ins Ohr ... ein tiefes, volltöniges Geläut ... unregelmäßig, oft wie vom Winde verweht, doch stark und mächtig ...
Und auf einmal wußte sie es ... das waren ja die Hochzeitsglocken ... heute machte sie Hochzeit mit Martin Flamberg ...
Das Glück war gekommen ... das große Glück ... die Lebensliebe, von der sie einst als Mädchen geträumt ... die Erfüllung, herrlicher, als kühnste Dichterphantasie sie schilderte.
Bim, bam, läuteten feierlich die Glocken ... die Glocken des Kölner Doms ... und sie beide, sie schritten mitten über den weiten Domplatz ... auf das weitgeöffnete Portal des ragenden Gotteshauses zu ...
Neben ihr ging der Maler ... in Paradeuniform, den schwarzen wehenden Roßhaarbusch auf dem Helm ...
War sie nicht schon einmal neben einem Manne hingeschritten, der diese Gewandung trug ...?!
Ach ... das war lange her ... das war gar nicht mehr wahr ...
Rechts und links staute sich das Volk, und sie hörte das Flüstern der Menge: Das ist Martin Flamberg, der[S. 217] große Maler, und seine glückliche Braut, die schöne Frau Cäcilie ...
Einen Blick warf sie dem Verlobten zu, und er erwiderte ihren Blick mit einem jähen verlangenden Aufleuchten seiner braunen durstigen Künstleraugen ...
Und immerfort ... tief und gewaltig ... summten dazu die Glocken aus der Höhe ...
Nun schritten sie Hand in Hand die hohe, breite Domtreppe hinan ... weit offen stand die metallene Pforte ... dem Blick erschloß sich das geheimnisdunkle, weihrauchdurchduftete Innere des Heiligtums ... von rechts her, magisch bunt gefärbt, fiel durch die Glasgemälde der Spitzbogenfenster ein breiter Strahl gedämpften Sonnengoldes hinein ...
Da — als das Paar die Pforte durchschreiten wollte ... plötzlich stand da eine gräßlich entstellte, bleiche Gestalt in der Wölbung — — Fritz —!
Er stand im kotbespritzten Manöveranzug ... die Feldmütze tief ins blasse Gesicht gezogen ... die braunbehandschuhte Linke hatte er fest aufs Herz gedrückt ... und unhemmbar floß ein Strom zähen, dunkeln Blutes zwischen seinen Fingern hindurch ... sickerte auf die Steinfliesen ...
Da schrie sie auf ... und brach in den Armen des Geliebten zusammen ...
Und erwachte — —
Erwachte in dem hellen, freundlichen Schlafgemach des Schlößchens Hettstein ... in dem messingfunkelnden englischen Bett unterm duftig lichten Gardinenhimmel ...
Und neben ihr harrte eine andere, unberührte Lagerstatt, von schimmernder Spitzenspreite bedeckt ...
[S. 218]
Aber die Glocken ... die Glocken läuteten immer noch ...
Doch nein — das waren ja die Kanonen ... die Kanonen des Korpsmanövers ringsum auf den Hunsrückhöhen ...
Und heute, heute würden sie kommen ... ihre Gäste ... der Regimentsstab der Niederländer Füsiliere!
Und kommen würden auch die beiden Männer, deren einer in ihrem Traum an ihrer Seite gegangen war, bis der andere ihnen entgegentrat mit der blutdurchsickerten Linken auf der Brust und dem fahlen, starren Totenantlitz ...
Gott sei gedankt, er lebte ... Fritz lebte ...!
Frau Cäcilie richtete sich auf ... ihre Schläfen brannten ... die Augen flimmerten, als habe sie die ganze Nacht schlummerlos durchwacht ... und ihre Wangen waren kalt von nassen, bangen Tränen ...
Sie würden kommen ... würden sie anschauen ... beide ... und in beider Augen würde sie mit wirrem Streite der Gefühle das Bekenntnis lesen müssen: Ich gehöre dir ... meines Lebens Schicksal ruht in deiner Hand ...!
Das war ein grauenvolles Bewußtsein, also zweier Männer Seele zu beherrschen — und doch von einer geheimen, wilden Süßigkeit ... dieses Machtgefühl ... dieses Herrschergefühl ...
Sie sprang aus dem Bette ... ging zum Spiegel ... schaute lange in ihre Züge ...
Was ist denn eigentlich so Besonderes dran an dir, du weiße Larve mit den brennenden Augen drin, daß du immerfort durch einen Wall, durch einen Schwall von Huldigungen hinschweben mußt —?!
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Bum, bum — läuteten droben auf den Bergen ringsum im Kreise die Kanonen, deren Sang ihren Traum wie Hochzeitsglocken durchwandelt ...
Dort oben stand das ganze rheinische Armeekorps, in zwei Parteien geteilt, in lustiger Friedensschlacht ... mehr denn zwanzigtausend rüstige Männer ... die Jugendblüte der schönsten und reichsten Provinz des Vaterlandes ...
Und in ihrer Schar gab es zwei, von denen sie wußte, daß sie mitten im Drang ihrer Pflicht ... im sengenden Sonnenbrande ... beim Marsch auf staubüberwölkter Landstraße ... und beim Ansprung wider den Feind über den Sturzacker — die Stunden zählten, die sie noch vom Wiedersehen trennten — vom Wiedersehen mit ihr ...
Dies Wissen war beseligend und fürchterlich.
Was würde werden? Ihre Seele war schwer und glühend von der Ahnung eines Schicksals, einer nahen Entscheidung, einer Entscheidung, der sie wehrlos gegenüberstand, einer Entscheidung, die sie über sich ergehen lassen würde wie ein unabwendbares Elementarereignis, wie einen Wirbelsturm, wie ein erlösendes und zerschmetterndes Gewitter.
Ja, machtlos — willenlos fühlte sie sich gegenüber dem Geschick.
Die beiden andern waren ja die Männer ... die mochten handeln, die mußten entscheiden, was werden sollte.
Sie war das Weib ...! Ihrer harrte nur die äußere Pflicht, die Pflicht der Hausfrau und Gastgeberin — die würde sie erfüllen, korrekt und anmutig ... von ihrer Erziehung, ihrem Instinkt unfehlbar geleitet ... ohne daß an[S. 220] Willen und Entschluß irgendwelche Anforderungen gestellt wurden.
Das andere ... das würde kommen von draußen her, unhemmbar, unabwendbar ...
Und droben im Turmkämmerchen träumten zwei andere Herzen einem Wiedersehen ... träumten ihrem Schicksal entgegen ... ein Kinderherzchen, so willenlos wie die reife Frau im Banne dumpfer, triebhafter Gefühle — und ein fester straffer Mädchenwille, der während schlummerloser Nacht in Frische und Resignation über sein Leben beschlossen hatte.
Ja, Nelly Sassenbach wußte, was sie wollte ...!
Heut abend freilich würden die Herren erst spät ins Quartier kommen — es war beschlossen, sie in Ruhe zu lassen. Nur der Regimentsstab, der ohnehin dem Schlosse bestimmt war, würde zur Tafel erscheinen, und natürlich der neue Schloßherr, obwohl er offiziell mit seiner Kompagnie drunten im Dörfchen lag.
Die Herren der ersten und zweiten Kompagnie würden sich ausschlafen beim Ortsvorsteher und bei den andern wohlhabenden Bauern, deren Höfen sie zugewiesen waren, würden mit aller Bequemlichkeit gegen Abend in der Schankwirtschaft ihre Mahlzeit einnehmen und um neun zu Bette gehen.
Morgen aber ist Rasttag — da werden die Herren gründlich ausgeruht als Gäste der Schloßherrin auf Hettstein erscheinen — man wird festlich und fröhlich zusammen dinieren — wird im Park spazieren gehen.
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Und dann — dann wird es geschehen — dann soll es geschehen!
Dann wird sie die Braut des hagern Gelehrten werden, des Schulmeistersohnes vom Westerwald, des miserabeln Reiters und Tänzers, des Mannes aus dem Froschtümpel, des Entgleisten vom Kasinoparkett.
Es war beschlossen — es würde sich vollziehen — sie wollte es. Und daß er die gleiche Sehnsucht hatte, das wußte sie, seit er ihr von seiner Mutter erzählt, im Regenbiwak unter der »Marscheider Burr«.
Ja, viel — gar viel Resignation steckte in diesem Entschluß.
Ganz, ganz anders sah ihr Erwählter aus als die Gestalten, die einst durch ihre Mädchenträume geschwebt waren.
Aber wenn sie seiner gedachte, dann kam ein so tiefes Ruhegefühl ... ein so freudiges Geborgensein über sie ...
Ja ... er war doch der Rechte ... der, für den das Schicksal sie aufgespart hatte, das in ihrer Mutter Gestalt so manchen glänzenden, stattlichen Bewerber aus ihrer eigenen Welt von ihrer Seite gescheucht hatte ...
Ich danke dir, Mutter — es ist gut gewesen, daß ich den schwarzen Baron Höningen nicht bekommen hab, der jetzt in Amerika Pferde hütet ... und nicht den riesigen Bettingen, der nun drunten in Südwestafrika im Wüstensande liegt ...
Es ist gut so, Mutter ...!
Was morgen kommt, das ist fürs ganze Leben ... kein stürmisches Backfischglück wie das, von dem gewiß das blonde Schwesterchen jetzt träumt, das so eigenwillig sein Köpfchen der rosaroten Tapete zukehrt ... aber eine frohe Ruhe ... eine festlich stille Gewißheit ... eine Heimstatt für freudiges[S. 222] Wirken und Hineinwachsen in eine helle, lichte Welt, in ein höheres, geistigeres Dasein, als meine Jugend es je geahnt ...
Wilhelm Frobenius, du Prachtkerl! — Du sollst es gut haben bei deiner Nelly — hol mich der Teufel!
Bum, bum, drohten die Geschütze ringsum auf den Bergen ohn' Unterlaß ...
»Nun, gnädige Frau, wen bekomm' ich ...?«
Die drei Freundinnen standen im feierlich halbdunkeln, getäfelten Speisesaal des einstmals kurtrierschen Schlößchens, das ein Kölner Bankier vor acht Jahren aus einer ziemlich wohlerhaltenen Ruine in einen behaglichen weltfernen Herrensitz zurückverwandelt hatte ... und Frau Cäcilie legte die Tischkarten ...
»Abwarten, Kleine! — Also: Ans Kopfende komme selbstverständlich ich — leider, leider zwischen die beiden Herren Kommandeure ... den Oberst zu meiner Linken, Ihren lieben Brummbär Papa zu meiner Rechten!«
»Donnerwetter, fabelhafter Dusel für Papa! — Na, der wird schmunzeln ... gut, daß Mama nichts davon ahnt ... das gäb' ein paar schlaflose Nächte!«
»Schäm dich, Nelly!« zürnte das jugendliche Ebenbild der Entfernten.
»Na, und nun gehen wir mal zunächst hier links hinunter, damit die kleine Neugier auch lange genug auf die Folter gespannt wird! Also neben den Herrn Regimentskommandeur natürlich Sie, Nelly!«
»Um Gottes Willen! — läßt sich das nicht vermeiden?«
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»Unmöglich, Kind! — Die Tischordnung versteht sich sozusagen von selbst ... es geht gar nicht anders, als ich's aufgesetzt habe! Aber nun kommt die Entschädigung: zu Ihrer Linken sitzt — Herr Oberleutnant von Schoenawa!«
Ernsthaft hatte die Wirtin das gesagt ... aber ihre Augen blitzten schelmisch prüfend zu der schlanken Freundin hinüber.
Die bewahrte Haltung. Was lag an dem Diner? ... Sie wußte ja doch, was sie wollte ...
»Zu Befehl, gnädige Frau!«
»Also wirklich — vollkommen einverstanden?!«
»Vollkommen!«
»Aber ich nicht! — Der gestrenge Herr Regimentsadjutant ist mir zu feierlich und offiziell für Sie ... Außerdem ist ein Herr da, der zwar eine Charge unter ihm steht, aber an Jahren der nächste nach den beiden Herren Kandillenträgern ist!«
Und nach der Melodie des Lockens zum Parademarsch trällerte die schöne Frau:
Da errötete Nelly denn doch ein wenig und verstummte.
»Na, ich seh schon, ich hab's getroffen ... da, Kindchen, legen Sie selber den Zettel hin! — Also, neben Herrn Frobenius setzen wir Herrn Oberleutnant Menshausen und neben den: Herrn Flamberg ... Herr Menshausen kann die Herren vom Beurlaubtenstande nicht leiden — ich kann Herrn Menshausen nicht leiden — Rache ist süß, krächzte der Habicht!«
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Außerdem kann es nicht schaden, dachte sie, daß ich Flamberg recht weit von mir entfernt auf einen schlechten Platz setze ... Fritz machte neulich im Biwak einmal so merkwürdige Augen ...
»Ans Fußende kommt natürlich das grüne Gemüse — unten meines Mannes Fahnenjunker, der kaum geborene Erichsen — zwischen ihn und den Herrn von der Reserve setze ich Herrn Quincke!«
Den Herrn von der Reserve! dachte Nelly — diese Heuchlerin!
»— dem gegenüber Herrn Carstanjen ... dann kommt mein Mann ... neben den kommen Sie, kleine Molly!«
»Sehr einverstanden! — Himmlisch!«
Der Backfisch hatte ein wenig für Fritz von Brandeis geschwärmt, ehe dieser anderweitig vergeben worden war.
»— an Ihre andere Seite der Adjutant des ersten Bataillons!«
Molly rümpfte das Näschen: »Der ist so entsetzlich brav!«
»Ja, ich hab niemand andern mehr ... nur noch Herr von Schoenawa ist übrig!«
»Ne, danke ... dann immer noch lieber Herrn Blowitz!«
»Gut — dann also Herrn von Schoenawa zwischen Blowitz und Ihren Vater! Na, ist das nicht tadellos, Kinder?«
»Ausgezeichnet — ganz vorzüglich, gnädige Frau!«
»Ach was — ihr immer mit eurer langweiligen gnädigen Frau —! Machen wir's uns doch endlich mal gemütlich: sagen wir du zueinander!«
Tief erglühend vor Seligkeit boten die Mädchen der vergötterten Wirtin ihre Lippen.
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Und über alle drei kam's wie ein Festrausch. So herrlich strahlte draußen die Spätsommersonne ... die eben leise sich bräunenden Bergwälder schlossen sich so traulich um das Schlößchen wie ernste, fromme Hüter eines geheiligten Asyls ...
Und immer näher ... immer drängender scholl draußen das mächtige Geläute der Kanonen auf den Höhen ringsum ...
»Ach, Kinder, das Leben ist doch schön!«
»Das weiß der Himmel!« sagte Nelly aus tiefer, dankbar hoffender Brust.
»Ja wahrhaftig, das weiß der Himmel!« echote auch die Neunzehnjährige ... und sie träumte von einem, der morgen abend zwar nicht hier mit an der Tafel sitzen würde ... den sie aber doch sehen wollte ... heimlich, verstohlen sehen — und küssen ... draußen irgendwo in den verschwiegenen Bosketten, die sich über den Trümmern der alten, nicht wieder hergestellten Bastionen buschten ...
Sie mußte ihn ja trösten ... mußte ihn entschädigen für die Unbill, die der widerwärtige Quincke ihm zugefügt ... offenbar mit Absicht in ihrer Gegenwart ... um ihn zu blamieren vor ihr ...!
Zu blamieren vor ihr ... haha ... als ob das möglich gewesen wäre ...!
Aber er durfte sich's um Gottes willen nicht zu sehr zu Herzen nehmen ... ihr süßer Junge ... ihr Dichter ... dessen himmlische Verse, rasch mit Bleistift auf einer Meldekarte niedergekritzelt, unter der Bluse an ihrem Herzchen knisterten ...
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Und darum mußte sie ihn trösten — unbedingt ... damit er keine Dummheiten machte! — Na, das würde ihr schon gelingen. — —
Bum, bum, bum, läuteten draußen die Kanonen ...
»Sie kommen! sie kommen!«
Die aufgeregt harrenden Mägde drunten am Schloßtor schrien's zuerst ...
Der Gärtner, der Chauffeur gaben's weiter ...
Das Hausfräulein stürzte zu den Damen hinein, die eben im Herrenzimmer die kleinere Tafel für den heutigen Abend mit Blumen schmückten.
»Wer kommt?« fragte die Hausfrau.
»Soldaten! Soldaten wie Sand am Meer!«
Von den tiefen Nischen der Fenster des Schloßturms aus konnte man den Weg überschauen, der durch die buschigen Abhänge nördlich des Beierbachs empor sich schlängelte nach Hettenrodt zu ...
Von dort stieg jetzt, ein Pferd hinter dem andern, vorsichtig ein endlose Linie von Reitern in hellblauen Waffenröcken hernieder — Saarbrücker Siebente Dragoner. —
»Die sind nicht von den Unsern!« erklärte Nelly sachverständig, »seht, sie tragen Helmbezüge ... das ist der böse Feind; der ist jedenfalls geschlagen und muß sich zurückziehen ...«
»Geschieht ihm recht!« rief Molly mit blitzenden Augen.
Nun sprengte auf der Chaussee, die an der andern Seite des Schlößchens von Mackenrodt her in langen Zickzackwendungen ins Tal hinunterkroch, ein Trupp Artillerieoffiziere,[S. 227] gleichfalls in Helmbezügen, hart am Schloß vorüber, bergab ins Tal ... verschwand drunten zwischen den Häusern des Dörfchens und tauchte an der andern Berglehne wieder auf, galoppierte jenseits in das Seitentälchen hinein, das sich gen Vollmersbach hinaufzog. Sie schwenkten rechts ab, erschienen, klein wie Bleisoldaten, droben auf der kahlen Höhe ...
Und durch die Gläser konnten die Damen deutlich erkennen, daß sie droben Halt machten und mit ihren Feldstechern übers Schlößchen hinweg Ausschau hielten.
»Sie suchen eine Stellung für die zurückgehende feindliche Artillerie aus; die soll den Rückzug des gegnerischen Detachements decken!« wußte Nelly wiederum zu erläutern.
»Da werden wir ja das Kanonenkonzert aus allernächster Nähe zu genießen bekommen!«
Und richtig! — Nach wenigen Minuten rasselte eine schier endlose Artilleriekolonne die Chaussee hinunter, so schnell als der abschüssige Weg mit seinen zahllosen, scharfen Krümmungen es nur irgend gestattete.
Die Kanoniere saßen mit rauchgeschwärzten, staubbekrusteten Gesichtern auf den Protzkästen und hielten sich krampfhaft fest, um nicht beim Rumpeln der federlosen Gestelle abgeschleudert zu werden ...
Das Sitzfleisch tat einem weh vom bloßen Ansehen ...!
Drüben den steilen Talweg ging's hinan ... da mußten die Kanoniere absitzen und die Geschütze bergan schieben helfen ... Die armen Kerle!
Ganz deutlich war's zu verfolgen, wie nun drüben die Mündungen der Geschütze über dem hohen Kamm auftauchten ...
[S. 228]
Bum — da krachte auch schon der erste Schuß, bum — der zweite ...
Dicke weiße Wolken stiegen auf, doch verflogen sie in der blauen Nachmittagsluft wie der Rauch einer Zigarre ...
Die Damen hielten sich die Ohren zu, so heftig knallten die Schüsse ... widerhallend kam das Echo zurück von all den dunkelbelaubten Berghängen ringsum ...
Eine Viertelstunde später begann der Abstieg der geschlagenen feindlichen Infanterie ... eine dunkelblaue Schlange mit grau und silbern schillernden Schuppen, so wälzte sich der Zug des Fußvolks nieder ins Tal ... Kompagnie hinter Kompagnie ... Bataillon hinter Bataillon ...
Ganz dicht unter den Schloßfenstern wogte der endlose Schwall vorüber ...
Gott, sahen die wackern Jungen aus! —
Spätsommermittagsglut und der Staub vielstundenlanger Märsche hatten ihr Werk getan ... schmutzige Rinnen hatte der Schweiß in die tiefgebräunten, graubepuderten Gesichter gezeichnet ... die Rockkragen waren geöffnet ... die Gewehre pendelten schwer auf den müden Schultern ...
Aber die gesenkten Nacken richteten sich straffer auf, als plötzlich bei der Wegwende vor ihrem Blick das schmucke Schlößchen mit seinen altersgrauen Mauern und der blinkenden Zier seiner Erneuerungsbauten, den roten Ziegeldächern, den blitzend weißen Fensterkreuzen auftauchte, von dunkelgrünen Efeupolstern und leuchtendrotem Rankengeriesel wilden Weins umwuchert ...
Und über den Rand der Gartenanlage beugten sich frische Mädchenköpfe ... das Hausfräulein und die beiden Mägde ...
[S. 229]
Hei — wie das elektrisierte, wie Jugend da plötzlich die Jugend erschaute ... da reckten sich die matten Gestalten der Marschierenden empor, da flog ein endloser Schwall von Neckereien und derben Späßen zur Mauer hinan in allen Mundarten der rheinischen Gaue ...
Aber Glied um Glied wurde rasch von dannen gerissen im rastlosen Rückmarsch.
Mochten auch die Vorbeimarschierenden die Köpfe noch so sehnsüchtig umwenden — die Blicke der strammen Holden droben waren schon wieder weitergewandert, neuen Kömmlingsscharen entgegen.
Die Herren Offiziere aber hoben ihre Blicke noch etwas höher als bis zur Mauer der Gartenbastion ... sie strebten zum Balkon empor, wo in lichten Gewändern drei Frauengestalten aus ihrer eigenen Kaste sich zeigten ...
Hei — wie flogen da feurig kecke Blicke empor ... dorthin, wo die Damen standen ... die Damen ...
Aber auch sie mußten von hinnen, die stattlichen Stabsoffiziere und Hauptleute hoch zu Roß, die schlanken, in Staub und Schweiß noch eleganten und aufrechten Leutnants mit den häßlichen Wachstuchtornisterchen auf dem Rücken — dem »Schandfleck der Ritterlichkeit« — —
Und von dem vorüberrollenden Strom kriegerischen Lebens stieg ein Dunst zu der schönen, schlanken Herrin, den winkenden Mädchen und Mägden empor ... ein heißer, schwüler Dunst hochblühender, waffendienstgestählter, jugendprangender Männlichkeit, der ihnen den Sinn verwirrte ... einen Schwall weckte von unbewußten, unbegriffenen Sehnsuchtgefühlen ...
Doch endlich war der Strom vorübergerauscht.
[S. 230]
Schräger flimmerte die Spätnachmittagssonne auf der Chaussee, die sich wie ein fahlgelbes Band durch das Braungrün der Waldhänge zog.
Die Damen waren verstummt.
Nun müssen bald die Unsern kommen, dachte eine jede ... die Unsern ...
Und dann ... dann kommt auch er, der eine ... der meine, dachten die jungen Mädchen ...
Frau Cäcilien aber bebte das Herz ...
Der meine ... wer war das, der meine? — —
Ach, sie wußte es selber nicht zu sagen ... nur bang ... grenzenlos bang und ahnungstrüb zitterte nun auf einmal ihre einsame Seele, die sich niemandem — niemandem anvertrauen konnte in der Qual ihrer Zerrissenheit.
[S. 231]
»Ja, lieber Sassenbach — Sie können sagen, was Sie wollen, es war ein direkter Blödsinn vom General von Ketteler — ein direkter Blödsinn! Statt sich einfach auf der Höhe zwischen Mackenrodt und Hettenrodt mit seiner ganzen Division aufzubauen und unsern Angriff abzuwarten, geht er über das Aubachtal hinüber bis Nockental uns entgegen —«
»Aber — Verzeihung, Herr Oberst! — die Stellung bei Nockental war wesentlich besser als die bei Mackenrodt — namentlich seine Artillerie hatte er hinter den flachen Höhen hier beim R von Rötzweiler ganz glänzend placiert —«
»Zugegeben!« sagte der Oberst und neigte sich tiefer über die Karte, die mitten zwischen den zartgeschliffenen Weingläsern, den über die ganze Tafel verstreuten, nun schon halbverwelkten Astern auf der Damastdecke lag, dicht neben dem Teller der Hausherrin, die müde und gelangweilt sich fruchtlos Mühe gab, an dem endlosen Streit ihrer beiden Tischnachbarn über den Verlauf der gestrigen Übung pflichtschuldigen Anteil zu heucheln. — »Zugegeben! — aber bei der Wahl einer Verteidigungsstellung kommt's doch vor allem darauf an, daß man sich anständig aus dem Staube machen kann! Na ... und nun sehen Sie sich mal diese[S. 232] Rückzugslinie hier an ... zwischen seiner Stellung und dem Punkt, den er zu decken hatte, der Stadt Idar nämlich, liegen zwei — sage zwei! — Talsenkungen ... zweimal hat er mit seinem ganzen Schwamm im vollen Bereich unseres Feuers dreihundert Meter über kahle Höhenzüge hinauf und wieder herunter gemußt! — und wie sich die Infanterie massierte auf dem Rückmarsch — so etwas von einem Wurschtkessel ist ja überhaupt noch gar nicht dagewesen! Erinnern Sie sich ... unter dem Berg — wie hieß er doch —?«
»Der Galgenberg!« lachte der Major.
»Ja, ja ... und wissen Sie auch, wer an dem Galgen baumelt —?«
»Na — nach der Kritik versteht sich das wohl am Rande!«
»Allerdings,« erklärte der Oberst, »der Zylinder für Herrn von Ketteler dürfte fällig sein —!«
»— und die Brigade frei werden!« lächelte geschmeidig und beziehungsvoll der Major, der, wenn er wollte, in seiner rauhen Form ein richtiger Höfling sein konnte.
»Aber nun Schluß mit der Kommißsimpelei, lieber Sassenbach — unsre verehrte Frau Gastgeberin wird sonst bereuen, daß sie sich zu uns alten Knaben gesetzt hat, statt zur Jugend, wohin sie von Gottes und Rechts wegen gehört —!«
»Oh, bitte recht sehr, Herr Oberst, es hat mich natürlich ganz außerordentlich interessiert,« log Frau Cäcilie, »nun kann ich mir bei alle dem, was ich gestern gehört und gesehen hab, auch etwas denken — dieser heitre Vorbeimarsch gestern abend, das war in Wirklichkeit die zügellose Flucht eines geschlagenen, fast vernichteten Heeres — wie mir übrigens Ihre Nelly, Herr Major, ganz richtig erklärt hat!«
[S. 233]
»Ja, die Nelly — die hat Ahnung!« schmunzelte der Vater.
»Ganz gewiß, meine gnädigste Frau«, sagte der Oberst. »Und gerade über Ihr niedliches Schlößchen hinweg tobte der Endkampf der beiden Artillerien ... im Ernstfalle würde von diesem entzückenden Nestchen wohl nicht mehr viel übrig geblieben sein!«
»Gott ja ... das sieht alles so lustig ... so frisch und freudig aus, und man vergißt gar zu leicht, was für ein schauerlicher Ernst dahintersteckt —«
»Ja, ja — gut wär's, wenn sich unsre jungen Dächse da unten das auch manchmal ein bißchen mehr zu Gemüte führen wollten — wir Alten, wir wissen's ja freilich und werden's nie vergessen! — was meinen Sie, Sassenbach?!«
Zärtlich schielten die beiden alten Kämpfer nach dem Bande des Eisernen Kreuzes im Knopfloch ihrer Überröcke ... zu gleicher Zeit hoben beide die Gläser und tranken auf das Gedächtnis der großen Zeit vor neununddreißig Jahren, die sie beide als blutjunge Leutnants mit durchlebt und mit durchfochten ...
Cäcilie aber hatte nur mit dem Aufgebot ihrer ganzen Haltung dem Gespräch der beiden alten Herren folgen können ... in ihr schrie die unverbrauchte Glückssehnsucht ... schrie all das Verlangen, das Fritz von Brandeis nicht hatte stillen können ...
Gott, wie wunderlich ... wie verrückt ... wie unheimlich rätselschwer das Leben ... Wie wirbelte es die Schicksale, die Herzen der Menschen durcheinander ...
Da unten bei lautem Gelächter und Geplauder saßen sie nun einander gegenüber, die beiden Männer ... saßen[S. 234] inmitten der Kameraden, schwatzten, tranken, tauschten hundert harmlose, lustige und tragikomische Manövererlebnisse aus ...
Und wenn dann einmal einer von ihnen beiden in einer unbewachten Sekunde sich vergaß ... dann sank urplötzlich die glatte Maske ... und der eine jetzt, der andere nun, starrte tief versonnen in sein Sektglas ... und auf eines jeden Gesicht lag dann plötzlich Spannung, Kampf und Qual ...
Und das alles ging um sie.
Martin Flamberg hatte einmal in einem solchen Moment der Versunkenheit rasch und heimlich ein Briefchen aus der Tasche des Überrocks gezogen und es unterm Tisch mit hastigen Blicken überflogen ...
Cäcilie wußte: ein Brief seiner Braut ... ein Brief des fernen, bang und selig harrenden Mädchens, dem in wenigen Tagen in Wirklichkeit die Hochzeitsglocken läuten sollten ...
Gewiß ... das Briefchen sprach von heißer Sehnsucht ... von kaum stillbarer Erwartung ... von einer süßen Ungeduld, welche die Tage und Stunden zählte, die sie noch von der Erfüllung trennten ...
Heute war Sonntag, morgen und übermorgen die beiden letzten Manövertage ... und schon Mittwoch sollte Martin Flambergs, des Heimgekehrten, Hochzeitstag sein ...
Über-übermorgen ... dann war er ihr verloren ... verloren für alle Zeit —
Aber ... während er das Briefchen überflog, hatte da auf seinem Gesicht auch nur ein leises, flüchtiges Leuchten des Glücks, der Hoffnung geflammt —? nein — quälendes Bangen ... herbe Gewissensnot ... finsterer Zwiespalt der Gefühle ...
[S. 235]
Sie hatte es gesehen und hatte nicht hindern können, daß ihr Herz aufjubelte vor schamvoller Lust ... vor sündig grausendem Triumph ...
Ja, er sehnte sich nicht nach ... über-übermorgen ... er sehnte sich — — nach einem Tage, der niemals kommen würde — niemals — — oder nur, wenn wilde, schreckliche Dinge geschehen wären ... lange Monde des Kampfes überstanden ... Monde der Finsternis ... der Einsamkeit ... des Elends ...
Und ringsherum in dem kleinen Kreise der lachenden schmausenden Menschen, der festlich weiß geputzten beiden Mädchen, der sonnengebräunten wettergestählten Männer konnte ihr heimlich und ruhelos beobachtender Blick überall den Widerschein innern Erlebens verfolgen — —
Finster lauernd wanderten die eiskalten Augen des Regimentsadjutanten, hämisch funkelnd die des fatalen Oberleutnants Menshausen die Reihe der Tafelnden entlang ...
Mit zärtlichem Bangen hingen des Backfischleins Blicke an der stattlichen Gestalt der Schwester, die mit ihrem Tischnachbarn, dem rotbärtigen, bebrillten Gelehrten im verjährten Landwehrrock, so versunken und weltvergessen über große und ferne Dinge sprach, als säßen die beiden zwei einsam auf einer weitentlegenen seligen Insel und nicht inmitten eines Kreises, in dem jeder jeden kontrollierte, in dem jede Bewegung, jeder Blick überwacht wurde, ob er auch der strengen Satzung der Kaste entspreche ...
Ja, selbst unten, wo die ganz jungen Herren saßen, schossen aus dem fahlen Gesichte des monokeltragenden Herrn Quincke gehässig lauernde Blicke hinüber ... herüber ...
[S. 236]
Nur der blutjunge Avantageur und der kindlich harmlose Carstanjen freuten sich ohne Hinterhalt der Gunst der Stunde ... futterten mit Knabenappetit von all den guten, langentbehrten Sachen ... kosteten mit glänzenden Augen die edeln Weine ... stopften, genäschig wie Pensionsmädel, Konfekt und Obst ...
Und mit der unerschütterlichen Gemütsruhe einer wohlgeordneten Daseinsführung, die keine Leidenschaft, keine Herzensstürme kannte, nichts als brave Pflichterfüllung und maßvoll harmlosen Lebensgenuß — selbstgenügsam und selbstzufrieden saß der Leutnant Blowitz inmitten der Tafelrunde, auch er wachsam, beobachtend, doch innerlich unbeteiligt ... nichts als Soldat ... nichts als eine Uniform mit einem Etwas darin, dessen ganzer Ehrgeiz nur war, Ehre zu machen dem Rock, in dem es steckte ...
Ach, wie beneidenswert ein solches Temperament ... ein solch unsträflicher, Gott und Menschen wohlgefälliger Wandel ...
War nicht ihr Fritz auch so einer gewesen? — war das nicht eigentlich seine Natur ... und die bittern Zweifel ... die jähe Wirrnis, in die das Schicksal ihn gestürzt — waren sie nicht über seine Kraft?
Frau Cäcilie sah gar wohl, wie tief er litt ... welch unfaßbare Anstrengung es ihn kostete, die lächelnde Miene des vornehmen Gastgebers, des allerwärts liebenswürdigen Wirtes zu bewahren, während er sein Glück, sein Leben wanken — wanken fühlte — —
Wie er ihr so leid tat, ihr guter prächtiger Fritz ... sie litt mit ihm ... in seine Seele hinein ... so mußte eine[S. 237] sorgende Schwester mit einem herzlich geliebten Bruder leiden ... und konnte sie ihm helfen ... konnte sie —?
Ein Blick in Martin Flambergs Gesicht — und sie wußte — der da war der Herr ihres Lebens ... was er erwählen würde, war ihre Wahl ... was er von ihr fordern würde, das würde sie tun.
Die Hausfrau hatte die Tafel aufgehoben, und der kleine Kreis der Gäste schwärmte nun in den Schloßgarten, um den Kaffee zu nehmen.
In tiefem Frieden verglomm der Spätsommertag ... sein letzter Abglanz lag auf den jenseitigen Höhen ... Dunkelheit umschleierte schon das Dickicht des Schloßparks, der von den gartenartig angelegten Terrassen der alten Bastionen her sich an den Abhängen des Beiertales, rechts und links des Baches, hinzog ...
Vorn, wo zwischen den üppig wuchernden Bosketten heimliche Lauben winkten, deren weißlackierte Stakete fast völlig unterm dicken Gerank des Jelängerjelieber, des Pfeifenkrauts, des wilden Weins verschwanden, erhellten bunte Lampions mit mattem Glimmen die Dämmerung ...
Weiter rückwärts, am Berghang lagerten schon tiefe, schwarze Schatten über den Wegen, die sich ins Dunkel der Parkgehege verloren.
»Kommen Sie, Herr Frobenius,« sagte Nelly, »ich muß Ihnen jetzt den Aussichtspunkt zeigen, von dem ich Ihnen bei Tisch erzählte ... er liegt ganz oben am Parkrand ... wir müssen das letzte bißchen Tageslicht benutzen, sonst wird[S. 238] es ganz finster, und wir kommen überhaupt nicht mehr hin ... Ihren Kaffee kriegen Sie später, wenn wir zurückkommen!«
Ihre Stimme hatte leise gezittert bei den hastigen Worten — und Wilhelm Frobenius fühlte sein Herz hoch klopfen, genau unter dem Fleck, wo auf seinem dunkelblauen Waffenrock die Landwehrdienstauszeichnung zweiter Klasse sich breit machte, diese geschmackvolle Dekoration, deren Form die Offiziere des Beurlaubtenstandes mit den altgedienten Unteroffizieren gemein hatten ...
In einer längst nicht mehr gekannten Erregung folgte er der schlanken Führerin in die Dunkelheit ...
Ja — nun kam es, das Unabwendbare ... nun würde er die Frage wagen, die ihm längst das Herz abpreßte! — Und natürlich würde sie ihn auslachen ... schneidend und grimmig auslachen, wenn er überhaupt so weit kam — wenn nicht schon vorher irgendeine neue unerhörte Lächerlichkeit ihm das Wort abschnitt — —
Herrgott, wenn's nur nicht so finster gewesen wäre! — Kaum wie einen matten Nebelfleck konnte er noch das weiße Kleid seiner Führerin erkennen ...
»Nehmen Sie sich in acht!« klang Nellys Stimme aus der Finsternis, »die Wege sind sehr schmal ... folgen Sie mir nur, ich weiß genau Bescheid!«
Da — ein dumpfer Krach! — Feuer und Funken sprühten dem Gelehrten durch den Schädel —
»Meine Brille — um Gottes willen, gnädiges Fräulein, meine Brille!«
»Himmel ... was ist denn passiert?!«
»Ich muß gegen einen Baum gelaufen sein ... meine[S. 239] Brille, meine Brille ist mir abgefallen ... ich wette, sie ist zerbrochen!«
»Nein — das ist doch aber auch zu arg — — so ein Unglücksmensch, wie Sie sind ... warten Sie, ich werde suchen!«
Tiefe Finsternis zwischen den Gehegen ...
Nelly tastete sich zurück: »Wo stecken Sie denn eigentlich?!«
»Hier!« klang es kläglich dicht neben ihr.
»So geben Sie mir doch mal Ihre Hand, damit ich überhaupt weiß, wo Sie sind!«
Frobenius tappte mit der Rechten in die Finsternis und bekam etwas wunderbar Weiches und Festes zu fassen ... einen elastischen, lebenswarmen Mädchenarm ... der glitt ihm rasch durch die Finger, und er fühlte nun die kräftige, leise bebende Hand. — —
»So, nun warten Sie — ich werde mich bücken und die Brille suchen!« sagte Nelly zu Frobenius.
Himmel, wie seine Stirn brannte — sicherlich hatte es eine tüchtige Beule gegeben über der Nase ...
»Da, wahrhaftig! Ich hab sie — aber, o weh: ein Glas fehlt — und das andere scheint zerbrochen zu sein!«
»Geben Sie nur her — ein zerbrochenes Glas ist besser als gar keins!«
»So — und nun ... nun kommen Sie weiter!«
Sie zog ihn vorwärts an ihrer Hand ... an ihrer lieben, festen Hand ... o Gott, wie gut das tat, so sicher geführt werden ...
Auf einmal blinkte vor ihnen ein Lichtschein —
»Sieh da — im Aussichtstempelchen oben hängt ein Lampion, das ist ja famos!« sagte die Führerin.
[S. 240]
Der Achtunddreißigjährige fieberte wie ein Schulknabe.
»So, nun schauen Sie hinaus!«
Da lag das Schlößchen hart unter den zweien, schützend umfangen vom tiefen Schwarz der ragenden Bergketten hüben und drüben ... wie eine Märchenfeste schimmernd mit den hellerleuchteten Fenstern, den flimmernden Lichtschnüren der Lampions zwischen den Gartengehegen ... Lachen und Gläserklingen scholl herauf ...
Und hier droben die beiden Menschen ... entrückt, entronnen den lauernden Blicken der Gesellschaft, den hämischen Glossen, dem liebevoll forschenden Vaterblick ...
So, dachte Nelly, nun sprich du ... nun sprich!
Aber Wilhelm Frobenius sprach nicht.
Der Mund, der so beredt vom Katheder hernieder die Herrlichkeiten der Dichtung lauschenden Hörerscharen zu erschließen wußte, der noch vor wenigen Minuten drunten bei Tafel nicht müde geworden war des feinsinnigen Geplauders über allerhand schöne und gute Dinge, ernste Fragen des Lebens, der Wissenschaft, der Kunst ... der Mund war verstummt.
Die haarige Rechte rieb mechanisch, unbeholfen die dick aufquellende Beule an Stirn und Nasenrücken —
»Haben Sie sich weh getan?«
»Ich sehe nicht das mindeste ... ich bin reinweg wie blind!«
So jämmerlich hatte das geklungen — Nelly mußte laut auflachen —
Du großer tapriger, hilfloser Junge du ... nun, wenn du nicht sehen kannst, sollst du wenigstens fühlen! — Jedenfalls unverlobt geh ich nicht wieder hinunter ...!
[S. 241]
Und mit einer raschen, wie besitzergreifenden Bewegung schob sie ihre Hand in des Mannes Arm, lehnte sich fest an seine Schulter.
Da warf es den langen Gesellen auf einmal um ... Wie ein schmachtender, stammelnder Knabe neigte er sich tief, tief hernieder, drückte seine Lippen auf den festen Arm. »Gott ... Fräulein Nelly ... Nelly ...!«
Da nahm das Mädchen des Mannes stoppelbärtige Wangen in beide Hände, beugte sich nieder und küßte ihn, wohin ihre Lippen zuerst trafen ... auf seine kahle Platte.
Molly hatte gewußt, daß er auf sie wartete.
Sie hatte sich sofort nach Aufhebung der Tafel für einen Augenblick bei der Hausherrin entschuldigt und war in ihr Turmkämmerchen hinaufgeschlüpft.
Von dort aus konnte man die Chaussee überblicken ... die erhellten Schloßfenster zeichneten scharfumrissene Lichtplakate auf den staubigen Straßendamm, und von drüben tauchten die regungslosen Fächeräste der Buchen in den Glast hinein ...
Schau — blinkte da nicht in den Büschen des Straßensaumes, halb versteckt, eine senkrechte Reihe flimmernder gelber Punkte aus dem Dunkel —? Und konnte dies Phänomen von etwas anderm herrühren denn von einer blankgeputzten Knopfreihe ...?
Wenn das nicht Hans Friesen war —!
Wie nur aus dem Schloß kommen, ohne gesehen zu werden? Zwar ... die Dinergesellschaft würde nichts merken, wenn Molly durchs Schloßportal huschte ... denn die[S. 242] war an der andern Seite im Garten versammelt — aber die Dienstboten —? Was würden sie denken, wenn das gnädige Fräulein aus der Schloßpforte spazierte, um sich auf der Chaussee ein Rendezvous mit einem Unteroffizier zu geben?
Aber es mußte gewagt werden ... es mußte einfach! — Der gute Junge mußte getröstet werden, sonst grämte er sich gar zu sehr über die Flegelei von diesem Leutnant Quincke ... redete sich am Ende gar ein, sie wolle nichts mehr von ihm wissen, seit er die erbärmliche Vergewaltigung seines Vorgesetzten in ihrer Gegenwart hatte hinunterwürgen müssen ... jedenfalls wollte sie ihm gleich ein Zeichen geben ...
Sie zündete eine Kerze an, bog sich weit aus dem Turmfensterchen, indem sie den vollen Schein des Lichtes auf ihr Gesichtchen fallen ließ, und winkte zugleich mit ihrem Taschentuch — das flatterte lustig im Abendhauch, der kühl vom Berge niederschwebte.
Schau — da löste sich die Knopfreihe drunten aus der Dunkelheit ... ein grauer Unteroffizierdrillichrock schob sich für einen Augenblick aus dem Gebüsch in den Bereich der Lichtgevierte ... eine Feldmütze wurde mit raschem Winken geschwenkt ...
Ach ... du Goldiger!
Nun schnell hinunter! — Auf dem ersten Treppenabsatz machte sie einen Augenblick halt, spähte durch ein schmales, schießschartenähnliches Fensterchen auf die Landstraße hinaus und lauschte, ob drunten die Luft rein sei.
Schwatzend schäkerten die Mägde in der Küche mit den Burschen, welche zu ihrer Unterstützung kommandiert waren.
[S. 243]
Himmel — an denen mußte sie vorüber! Na ... vielleicht machten sie einmal die Küchentür zu ...
Auf einmal hörte sie von der Chaussee her scharfe Worte: »Halt, was da im Busch steckt! Kommen Sie gefälligst mal sofort 'raus!«
Leutnant Quinckes Stimme! Gott im Himmel — der mußte spioniert haben!
»Ich befehle Ihnen 'rauszukommen! — Zum Donnerwetter, komm 'raus, Kerl, sonst ruf ich die ganzen Burschen zusammen und lasse eine Razzia nach dir veranstalten!«
In atemlosen Entsetzen spähte Molly auf die Chaussee.
Wahrhaftig — da stand der Leutnant hart am jenseitigen Chausseerand und versuchte, ins dichte Gestrüpp des Berghanges einzudringen ... er griff mit den langen Armen ins Dickicht hinein ...
»Aha, Bursche — jetzt hab ich dich!«
»Ich bitte Herrn Leutnant, mich loszulassen — ich komme gutwillig!«
O Gott — mit einem raschen Schritt trat Hans Friesen aus dem Dickicht ... stand stramm im hellen Fensterlicht ... in Drillichanzug, Feldmütze, gelben Schnürschuhen ... ohne Seitengewehr ...
»Sieh da, der Herr Einjährige! — Haben Sie Urlaub, die Ortsunterkunft zu verlassen?!«
»Nein, Herr Leutnant!«
»So —?! Na, dann scheren Sie sich gefälligst mal augenblicklich ins Dorf und kriechen Sie in Ihr Quartier! — Verstanden? — Ich werde Sie dem Herrn Kompagnieführer melden — das weitere findet sich! Ihre Offizierqualifikation[S. 244] können Sie sich aber einsalzen ... das kann ich Ihnen schon jetzt sagen! — Also: kehrt marsch! na wird's bald?!!«
Hans Friesen machte eine stramme Wendung und ging zu Tal ... seine Schritte verhallten in der Dunkelheit.
Mit zufriedenem Grinsen sah der Leutnant einen Augenblick ihm nach, dann trat er ins Tor zurück.
Wie der Blitz war Molly die Treppe hinunter ... trat dem Offizier im Korridor entgegen: »Herr Leutnant — Sie werden den Unteroffizier Friesen nicht melden!«
»Ah — gnädiges Fräulein haben gehört ... das ist ja ein merkwürdiges Zusammentreffen!«
»Nein, das ist gar nicht merkwürdig ... Herr Friesen hat nämlich auf mich da unten gewartet, daß Sie's wissen ... und darum werden Sie ihn nicht melden ... verstehen Sie mich ...?!«
»Ich bitte tausendmal um Verzeihung, mein gnädiges Fräulein — aber Dienst ist Dienst ... der Einjährige hat sich einer Urlaubsüberschreitung schuldig gemacht ... und somit ist es einfach meine verdammte Pflicht und Schuldigkeit —«
»Dann erlauben Sie mir vielleicht die Frage, Herr Leutnant, wie Sie auf die Chaussee gekommen sind — auch in Ausübung Ihrer verdammten Pflicht und Schuldigkeit?!«
»Darüber bin ich Ihnen wohl schwerlich Rechenschaft schuldig, mein verehrtes gnädiges Fräulein! — Bei allem Respekt glaube ich das denn doch aussprechen zu müssen —«
»Nun, dann will ich's Ihnen sagen: Sie haben gelauert ... geschnüffelt haben Sie — wie ein ganz elender Spion —! Sie haben sich gedacht, daß ich mich irgendwo mit dem Einjährigen treffen wollte, und haben uns aufgepaßt! — Na, stimmt's?!«
[S. 245]
»Ich — ich bewundere Ihre Kombinationsgabe, meine Gnädigste — —«
»So — nun wissen Sie also, daß ich Sie durchschaut habe, Herr Leutnant! — und nun will ich Ihnen mal was sagen: Wenn Sie Herrn Friesen melden, dann mache ich Ihnen einen Krach, wie Sie noch nie einen erlebt haben — so wahr ich Molly Sassenbach heiße —!!«
Wie eine Königin raschelte sie von dannen.
Quincke aber machte das dümmste Gesicht seines Lebens — und das wollte was heißen.
[S. 246]
Fritz von Brandeis stand an der Treppe, die von der Veranda in den Garten hinunterführte. Hinter ihm harrten die fünf Burschen, sein eigener und die vier seiner Gäste, kriegsgemäß in Drillichzeug und Schnürschuhen, nur durch die Serviette über ihrem linken Arm als herrschaftliche Leibdiener gekennzeichnet, der Befehle des Hausherrn gewärtig.
Scharfen Blicks überflog der Hauptmann das lustige Bild des Gartens, der festlich schimmerte im mattbunten Glanz der Lampions, im gelben Flimmer der Kerzen auf den Bowlentischen.
Na, alles gut versorgt? — Jawohl, alles klappte!
Ein alter dicker, runder Mauerturm sprang an der nördlichen Ecke des Gartens weit ins Gebüsch hinein, das aus dem ehemaligen Burggraben aufgewuchert. Wilder Wein überrankte hier das weiße Staketengezäun einer Laube: darinnen saßen die wichtigsten der Gäste bei der Pfirsichbowle, der Oberst und der Major.
Schau, schau — auch nach Tisch hatten die alten Herren sich anscheinend nicht von ihrer Tischnachbarin trennen können!
Und sie, seine Cäcilie — sie schien ja auch vollkommen zufrieden in der Gesellschaft der Herren Stabsoffiziere — hatte heut abend noch kaum ein Wort mit dem Maler gesprochen.
[S. 247]
Na also — hätten wir uns ja wohl unnötige Unruhe gemacht!
Schoenawa, des Obersten Adjutant, und Menshausen, sein Manöver-Ordonnanzoffizier, hockten pflichtschuldigst bei ihrem Kommandeur — aber wo steckte denn Leutnant Blowitz? — ah — er war des trockenen Tons wohl satt, des beständigen »Schusterns« bei den hohen Stäben, hatte sich zur Jugend geflüchtet —
Aus der Nachbarlaube, in der auf rundem Tisch gleichfalls eine mächtige Pfirsichbowle aufgebaut war, klang schmetterndes Gelächter. Dort saß der Adjutant des ersten Bataillons mit den Offizieren der ersten Kompagnie, mit Flamberg und Carstanjen. Selbstverständlich war hier auch der Fahnenjunker von Erichsen zu finden, der immer wieder die Gläser füllen mußte. Nur die jungen Damen fehlten in der Runde der Jugend ... wo mochten die bloß stecken ...? und es fehlte auch die Landwehr ...
Aha — ach so —!!
Ja, Nellychen, über'n Geschmack ist nicht zu streiten ... aber Sie sind Manns genug, um selber zu wissen, was Ihrem Besten dient ...
Und das Schwesterchen? — Auch verschwunden? — Sieh da!
Und der Leutnant Quincke fehlte ebenfalls — hm, hm — — den Geschmack hätte man der Kleinen nun gerade nicht zugetraut —
Aber in Gottes Namen!
Heute mochten die zwei losgelassenen Füllen herumspringen, mit wem sie wollten ... Daß nichts Ernstes aus ihren Flirts wurde, dafür würde im geeigneten Augenblick[S. 248] die Frau Mama daheim schon sorgen, wie bisher noch immer ... auf Schloß Hettstein sollten sie jedenfalls machen dürfen, was sie mochten.
Also alles in schönster Ordnung!
Vergnügt schmunzelnd wandte sich der Hausherr zu der regungslos harrenden Phalanx der Burschen zurück:
»Na, Jungens, nun könnt ihr euch gegenseitig ablösen! Zwei von euch haben immer hier auf der Veranda zu warten, die andern drei in die Küche zum Bierempfang! — zunächst bleiben Kempges und Schnettelker hier! — Die andern drei — abschwirren!«
Er fühlte sich in Laune kommen.
Zu dumm, sich überhaupt Gedanken gemacht zu haben Cäciliens wegen! Pah — seine Cäcilie —!
Seine Lippen pfiffen leise das Avanciersignal, während er die Treppe hinuntersprang und quer durch den Garten auf die Jugendlaube zuschritt: »Tut mir leid, meine Herren, Ihre Hebe muß ich Ihnen für ein halbes Stündchen ausspannen! — Sie, kleiner Erichsen, und Sie, etwas größerer Carstanjen, kommen Sie mal einen Moment her!«
Die Angeredeten schossen in die Höhe.
»Also kommt 'mal raus, Kinder,« sagte der Kompagniechef, »ihr müßt mir eine Überraschung deichseln helfen. Die Burschen würden mir die Sache jedenfalls verderben: Ich habe also drüben auf der Wiese jenseits der Chaussee ein kleines Feuerwerk aufbauen lassen, das müssen Sie beide mir abbrennen. Kommen Sie mit, ich werde Sie instruieren!«
Blowitz und Flamberg blieben allein bei der riesigen Bowle zurück. Der Maler trank hastig und sprach wenig.[S. 249] Der Adjutant war auch kein Mann von vielen Worten. Es wurde still am Jugendtisch.
Und immer wieder zog es Martins Blicke dorthin, wo im matten Lichte der Lampions ein weißes Frauenantlitz zwischen den gebräunten, verwitterten, weinerregten Gesichtern der Stabsoffiziere, den frostigen, lauernden der beiden Oberleutnants stand.
Auf einmal erhob sich dorten die ganze Gruppe und kam die niedrige Stiege hinunter in den Garten, schritt der hellerleuchteten Veranda zu, die dem Speisesaal vorgelagert war.
Major von Sassenbach warf einen Blick zur Jugendlaube hinüber: »Ah, da sitzt ja auch unser Malermeister — unser Pinselheld! — Sie, Flamberg, die gnädige Frau will uns das Bild zeigen, das Sie von ihr gemalt haben — kommen Sie doch mal mit! Oder haben Sie's schon auf seinem neuen Platz gesehen?«
Flamberg sprang auf: »Nein, Herr Major!«
»Also los — gehen Sie mit uns!«
»Wenn die gnädige Frau gestattet —?«
»Ich bitte darum, Herr Flamberg!«
Blowitz schloß sich ungeladen an.
Zwischen dem Oberst und dem Major schritt Frau Cäcilie voran — schweigsam, mit verschlossenen Gesichtern folgten die beiden Oberleutnants — die beiden Leutnants machten den Beschluß.
Frau von Brandeis führte die Herren durch den Speisesaal, in welchem die Mägde mit den drei beurlaubten Burschen die Tafel abräumten, und in die behagliche, ganz als Wohnraum eingerichtete Diele hinüber. Dort lief die[S. 250] bequeme, breite Treppe zum Obergeschoß hinan, das einen gleich großen Dielenraum enthielt. Hirschgeweihe, tief nachgedunkelte Ölgemälde schmückten da die Wände.
Im Emporsteigen drehte die Hausfrau die elektrische Beleuchtung auf, und man gewahrte, daß von der obern Diele aus mehrere Türen nach den innern Gemächern führten. Durch eine dieser Türen betraten die Gäste das Herrenzimmer, das nun ebenfalls auf einen Druck von Frau Cäciliens Fingern in Lichtfülle erglänzte.
Und sieh! — Da hing über einem wuchtigen Diplomatenschreibtisch die Schöpfung Martin Flambergs.
»Ah!« riefen der Major und sein Adjutant.
Die Herren des Regimentsstabes hatten das Bild bereits gestern zu sehen bekommen, sie waren nicht mehr zur Bewunderung verpflichtet.
Frau Cäcilie tat ein paar rasche Schritte zur Seite. Da stand die Tür zu einem Nachbarzimmer halb offen. Die gelben Messingstangen zweier englischen Bettstellen, das lichte Weiß eines Spitzenhimmels leuchtete aus der Dunkelheit. Ruhig schloß die Hausfrau die Tür.
Stumm hingen aller Blicke an dem Gemälde.
»Aha,« sagte Sassenbach, »das ist also das berühmte Bild!«
»Das berühmte — wieso?« fragte Frau Cäcilie.
»Nun — Sie können sich wohl denken, verehrte gnädige Frau, daß das ganze Regiment von dem Bilde spricht — ich meine — ich will sagen — wenn eine Dame des Regiments von einem so vielgefeierten Maler wie unserm Herrn Leutnant der Reserve gemalt wird — das ist doch natürlich ein Ereignis!«
[S. 251]
Alles schwieg und starrte regungslos zu dem Frauenbildnis hinan.
Das schaute leuchtend herab auf die Herren im Waffenkleid — leuchtend in einer Hoheit, um die es seltsam wob wie ein Hauch von Unvergänglichkeit — von zeitloser Verklärung.
»Fabelhaft,« sagte der Oberst, »ich gratuliere Ihnen, lieber Flamberg! Ich verstehe nicht allzu viel von Kunst — aber das da, das imponiert mir — ohne Scherz, das imponiert mir —«
»Ja,« sagte Menshausen halblaut, »man möchte sagen: mit Liebe gemalt!«
Der Major warf dem Oberleutnant einen wütenden Blick zu, und jeder fühlte: taktlos — unverschämt.
»Nun, Herr Flamberg,« fragte die Hausfrau, ohne den Maler anzusehen, »sind Sie einverstanden? — mit dem Platze, meine ich!«
»Dazu müßte ich das Bild erst mal bei Tageslicht sehn! — So, bei dieser künstlichen Beleuchtung, allerdings einwandfrei!«
»Sie würden auch am Tage mit dem Platze zufrieden sein — schade, daß Sie es so bald nicht in natürlicher Beleuchtung zu sehen bekommen werden!«
»Schwerlich!« sagte Flamberg.
»Na, lieber Sassenbach, Sie sagen ja gar nichts,« bemerkte der Oberst.
»Tja, wie der Herr Oberst bereits gesagt haben: ich verstehe ebenfalls nichts von der Kunst!«
»Dann sagen Sie uns doch wenigstens, wie es Ihnen gefällt!«
[S. 252]
»Gefallen? — Tja, Flamberg, Sie dürfen mir's aber nicht übel nehmen —«
»Aber ich bitte ganz gehorsamst, Herr Major!«
»Ich ... ich finde es eigentlich nicht so recht ähnlich!« sagte der Major. »Ich finde ... es ist was drin ... etwas, was ich wenigstens nicht kenne an unserer hochverehrten Frau Wirtin —!«
»Und das wäre?« fragte Frau Cäcilie.
»Ja, wie soll ich das ausdrücken — so was Fremdartiges ... so was Unheimliches, möchte ich sagen!«
Cäcilie warf dem Maler einen verstohlenen Blick zu. »Ja, sehn Sie, Herr Major,« sagte sie, »vielleicht hat Herr Flamberg etwas hinzugetan, etwas von seinem Eigenen, etwas, das wirklich mehr ist als ich, als mein Leben — aber das tun große, starke Künstler wohl immer, meine ich!«
»Das ist mir zu hoch,« sagte Sassenbach. »Ich kann mir nicht helfen — ich finde es nicht ähnlich! Es ist was dran, was mir bisher an Ihnen wenigstens niemals aufgefallen ist!«
»Was Ihnen vielleicht nicht aufgefallen ist, Herr von Sassenbach,« sagte langsam mit sinnendem Lächeln Frau Cäcilie, »darum ist aber noch nicht gesagt, daß es etwas Falsches ist ... vielleicht ist's auch doch nicht was Hinzugetanes ... vielleicht ist's doch etwas, was nur Sie nicht bemerkt haben, weil Sie mich nicht kennen ...«
»So, und Herr Flamberg, der ... der kennt Sie also besser, meine verehrte gnädige Frau?!«
Wiederum eine eisige Stille. Regungslos stand der ganze Kreis. Jeder fühlte: der gute Major hatte da in aller Harmlosigkeit etwas ausgesprochen, etwas, das — —
[S. 253]
Der Oberst fühlte sich verpflichtet, einzurenken.
»Na, das ist doch selbstverständlich, lieber Sassenbach, daß ein Maler an ... an den Menschen, die er malt ... daß er da allerlei entdeckt ... was ... was wir gewöhnlichen Sterblichen nicht zu sehen bekommen ...«
Abermals befangenes Schweigen. Der Oberst bekam einen roten Kopf.
Cäciliens Lippen bebten. Sie litt bis ins Herz.
Gott, all diese plumpen Hände ... die höchste und zarteste Dinge berührten wie tappige Knabenpfoten holden Schmetterlingsschmelz ...
Wenn nur er selber nicht dabei gewesen wäre ... sie war ihn ja gewohnt, diesen ungeschlachten Ton ... Diese geraden, einfachen Männer ... was sie zu verschleiern suchten, trat ungewollt zutage.
Medisance, Bosheit, verständnislose Verketzerung hatten bereits ein dichtes, trübes Gespinst gewirkt um dies Werk ... um seine Entstehungsgeschichte ... sein Modell ... seinen Schöpfer ...
Da scholl in das peinliche Schweigen hinein von draußen ein lustiges Krachen, Knattern, Prasseln.
Frau Cäcilie atmete auf.
Wie der Blitz waren die Adjutanten am Fenster.
Eine Garbe roter Leuchtkugeln schwebte soeben ruhigen Falles aus der Höhe nieder und goß einen Märchenglast über das schmale, schweigende Tal, die heitern Linien des friedumschirmten Schlößchens ...
»Hurra, Feuerwerk!« rief Blowitz.
»Feuerwerk — bravo, bravo, bravissimo!« applaudierte der Oberst geräuschvoll. »Nein, meine gnädige Frau, so[S. 254] etwas von einer Bewirtung ist ja überhaupt noch gar nicht dagewesen! — Zauberfest mit allen Schikanen!«
»Wollen wir nicht in den Garten?« meinte der Major, »für den ist doch jedenfalls der ganze Apparat berechnet — hier geht uns ja die Hälfte von der Herrlichkeit verloren!«
»Selbstverständlich, meine Herren,« sagte die Hausfrau, »nur schnell hinunter — sonst ist alles vorbei, ehe wir am Platze sind!«
Niemand nahm auch nur mit einem Blick Abschied von dem Bilde, das da droben hing wie ein Gast aus heiligen Fernen ...
Mit kindlicher Eile stürmten die Herren hinunter, um nur ja nicht eine Rakete, nicht ein Feuerrad zu verlieren — oder war's die Hast, von dem Werk hinwegzukommen, das sie alle unheimlich, übergewaltig hatte ahnen lassen, daß ein Fremdling aus einer unbekannten, hoheitleuchtenden Welt in ihrer Mitte weilte, aus einer Welt, deren Lebensgesetze wirkten jenseits ihres Begreifens —? Und auch Frau Cäcilie war gegangen, hastig, ohne Abschied ...
Langsam, als letzter, schritt der Maler die Treppenstufen hinunter ...
Nun machte er plötzlich kehrt ... stieg langsam wieder empor ...
Er wollte einsamen Abschied nehmen ... Abschied von seinem Werk ... Abschied von der Sphäre, der es nun angehören sollte wie sein Urbild ... Abschied von der unerhofften süßschaurigen Schickung dieser acht Wochen ...
Er trat in das Herrenzimmer zurück, warf einen langen Blick in dem Raum umher.
[S. 255]
Der Schwiegervater des Hauptmanns hatte das Schlößchen mit der ganzen Einrichtung gekauft. Das Zimmer trug noch nicht den Wesensstempel seines jetzigen Besitzers.
Inmitten des behaglichen, doch konventionellen Prunks war Cäciliens Bild das einzige besondere Stück, verlieh dem ganzen Raum sein Gepräge, beherrschte ihn.
Links von der Tür war eine Erkernische, dort ließ sich Martin in einen unergründlichen Ledersessel fallen. Sein ringsum forschendes Auge blieb an der Tür haften, die vorhin beim Eintreten offen gestanden ... die Frau Cäcilie ruhig geschlossen hatte ...
Ja, ja — da war das Allerheiligste der Gottheit, in deren Vorhof er hatte weilen dürfen —
Künstlerlos —
Weg, weg, ihr Träume ... nieder, nieder, ihr heißen Dränge ... du wildanklagender Schrei unstillbaren Begehrens — nieder, nieder ...
Es galt ja, Abschied zu nehmen ... Abschied für ewig ... Abschied auf Nimmerwiedersehn ...
Und Martin hob den Blick.
Ja — das da oben ... das würde fernen Geschlechtern erzählen von einer Schönheit, die wie ein unbegreifliches, undeutbares Märchen durch eine nüchterne, seelenlose Welt geschritten war ...
Das würde bleiben von der Schickung dieser acht Wochen ... bleiben von den hundert bangen Stunden, der Wirrnis schlummerloser Nächte, dem lautlos grimmigen Ringen zweier Menschen um Fassung und Entsagungsstärke ...
Das war »der Zweck der Übung« — hahaha!
[S. 256]
— — Einer aber hatte aufgepaßt.
Aha, der Herr Malermeister bleibt also zurück, da im Zimmer des Hausherrn!
Na ja, nun würde wohl alsbald auch die schöne Frau plötzlich verschwinden, wie sich die beiden andern Damen bereits verflüchtigt hatten — niedlich — sehr niedlich!
So, schöne Frau, heute werden wir quitt, wir zwei! Ich paß dir auf ... du kommst mir nicht unbemerkt vom Fleck ... das Rendezvous da oben, das werd' ich dir versalzen ...!
Mit der Hast einer Schar großer Kinder, unter Lachen und Witzen waren die Herren die Treppe hinuntergestürzt, die Stabsoffiziere voran, hatten mit Halloh wie ein Schwarm losgelassener wilder Buben den Speisesaal, die Veranda, den Garten durchtollt und standen nun an der Brüstungsmauer der Gartenbastion ...
Ah! ah! aaah! —
Auf dem dunkeln Wiesengrunde, jenseits der Chaussee, irrten ein paar suchende, zitternde Irrlichtflämmchen hin und her in der schwarzen Finsternis. Von Zeit zu Zeit machten sie Halt, tasteten noch ein Weilchen auf dem Fleck umher und — surr! schoß plötzlich eine schlanke Feuergarbe in die Höhe, zog einen langen, gelbrötlichen Funkenschweif hinter sich her, zerplatzte hoch droben zwischen dem Sternengewimmel des schmalen Himmelstreifs, der die schwarzen Mauern des Waldtals überwölbte, und ein Regen farbig strahlender Lichtballen sank herab ... die heitern Konturen des Schlößchens, die ruhig träumenden Buchenhänge, die rankenübersponnenen Laubenstakete, die erhitzten Wangen und blitzenden Augen der Gäste tauchten jählings in magisch buntem Glanz aus der Finsternis ...
[S. 257]
Jede Rakete, die aufzischte, wurde mit stürmischem Jubel begrüßt, die schnurrenden Feuerräder, die zischenden und funkensprühenden Kaskaden mit tosendem Applaus ...
Und inmitten der überschäumend lustigen, von Ruhetagsbehagen mehr noch, denn von Sekt und Bowle erregten Kriegsleute stand Cäcilie ... fremd ... verwaist ... in einem grenzenlosen Gefühl hilfloser Einsamkeit ...
Sie suchte den Blick des einen, dem sie sich wesenseins fühlte ... und fand ihn nicht ...
Martin Flamberg war nicht unter der Schar der großen Kinder, die das sinnlose Zickzackspiel der Funkenlinien und Feuergarben da droben begeistert bejauchzten ...
Wo war er ...?
Unablässig beschäftigte dieser Gedanke die schöne Frau ... nicht ein einziges vertrauliches Wort hatte sie heut abend mit ihm sprechen können, nicht ein einziges! — Sie hatte sich vor ihres Mannes bang und schmerzlich beobachtenden Blicken gefürchtet ...
Und auch Flamberg hatte ja nicht den leisesten Versuch gemacht, sich ihr zu nähern über die Schranken pflichtmäßiger Liebenswürdigkeit des geladenen Gastes hinaus ...
Das Feuerwerk bedeutete den Schluß des Abends — das war ja klar.
Noch eine halbe Stunde würden die Gäste beim Bier verweilen ... dann war's zu Ende ... dann würden die Herren aus dem Dorf sich in ihre Quartiere zurückbegeben; denn morgen stand ein heißer Tag in Aussicht: das ganze Armeekorps gegen den markierten Feind, morgen abend Biwak des ganzen Korps ...
[S. 258]
Morgen abend im Biwak würden die Herren sehr ermüdet und schonungsbedürftig sein ... Fritz hatte sich den Besuch der Damen ausdrücklich verbeten ...
Und übermorgen Manöverschluß, Entlassung der Reserveoffiziere auf dem Übungsfeld, Rückfahrt in die Heimat auf dem kürzesten Wege ...
Also — es war wirklich zu Ende in einer halben Stunde ... unwiderruflich zu Ende ...
Ihr grauste — — —
Und ihre Freundinnen ... wo steckten die? — Seit einer halben Stunde verschwunden! — natürlich beim Flirt —!
Glückliche Kinder, die noch wählen durften ... die noch eine Zukunft hatten ... noch hoffen konnten auf ein Leben zu zweien, in dem man zusammenwachsen würde zu immer tieferem Durchdringen ... immer innigerem Verstehen ...
Cäcilie fror —
Sie schauerte plötzlich zusammen, so heftig, daß der Oberst der neben ihr stand, sich überrascht zu ihr neigte.
»Gnädige Frau, Sie sollten sich in acht nehmen — es ist nicht mehr Sommer! Sie sind zu leicht gekleidet! Es kommt verdammt kühl von den Bergen herunter!«
Die Leutnants drängten sich heran, bereit, der Hausfrau eine wärmende Umhüllung zu holen.
»Danke Ihnen tausendmal, meine Herren, Sie würden doch nicht finden, was ich brauche! — Übrigens muß ich mich ohnehin mal um die Damen bekümmern — ich weiß gar nicht, wo die eigentlich stecken! Verzeihen Sie einen Moment, meine Herren!«
Gott sei Dank, daß sich ein Anlaß fand, einen Augenblick zu verschwinden! — Nur ein paar Minuten allein sein ...[S. 259] nur rasch einmal die schmerzende Stirn, die brennenden Lider mit einem feuchten Tuch kühlen ... nur ein paar Minuten still im Dunkeln sitzen und die Augen schließen ... allein sein ... ganz allein ...
Cäcilie schritt durch den Speisesaal, wo die drei dienstfreien Burschen leise mit den beiden Mädchen schwatzten, befahl, daß Bier herumgereicht werden solle, und stieg langsam, schleppenden Schritts, zum Oberstock empor.
Es trieb sie, sich langhin aufs Bett zu werfen und den Kopf tief, tief in die Kissen hineinzuwühlen.
Mit müdem Griff öffnete sie die Klinke zu ihres Mannes Zimmer und fuhr nervös zusammen, als statt der erwarteten Dunkelheit der volle Glanz des elektrischen Lüsters ihr entgegenströmte, der sie für einen Augenblick blendete.
Natürlich hab' ich vergessen, das Licht auszudrehen vorhin, dachte sie und griff mechanisch nach dem Schalter rechts von der Tür —
Auf einmal fuhr zur Linken aus der Tiefe des Klubsessels in der Nische die Gestalt eines Mannes empor ...
Martin und Cäcilie standen einander gegenüber ...
Starr standen sie beide ... beider Augen schlossen sich einen Augenblick lang ...
»Noch hier — Herr Flamberg?« sagte Cäcilie matt und heiser.
»Wie Sie sehn, gnädige Frau ...!«
»Sie ... legen keinen Wert auf das Feuerwerk —?«
Nur ein zuckendes Lächeln, eine entschuldigende Handbewegung brachte Martin zustande.
»Und Sie, gnädige Frau —?«
[S. 260]
»Ich ... ich wollte mich einen Augenblick ausruhn —!«
»Ich gehe!«
»Nein ... nicht ... ich hab' Sie heut ja noch gar nicht recht begrüßt ... Sie sind mir ja ... förmlich ausgewichen ...«
»Sie mir nicht, gnädige Frau —?«
Cäcilie senkte die Augen und schwieg.
Durch die halbe Zimmerbreite getrennt, standen die beiden Menschen regungslos ...
Das Knattern des Feuerwerks draußen schwieg ... magisch leuchtete das ruhige Licht bengalischer Flammen auf in den Gartenbosketts und zeigte das Ende des bunten Schauspiels an.
In unverwelklicher Glorie thronte droben Martin Flambergs Bild ... unergründlich tief und ruhevoll schauten die Augen des gemalten Weibes da droben hernieder auf die zitternde Hand, die schweratmende Brust seines lebenden Urbilds drunten, auf die zusammengepreßten Lippen, die straff angespannte Gestalt seines Schöpfers ...
»Leben Sie wohl, Martin Flamberg —« flüsterte Cäcilie.
Tief gesenkten Hauptes wandte sie sich zur Tür des Ehegemachs.
»Cäcilie —!« schrie Martin auf.
Da zuckte sie jäh zusammen ... stand mit hängenden Armen abgewandt einen Augenblick ...
Dann kam der Sturm, warf ihre Leiber zusammen, stieß ihre Lippen zusammen ...
Und wie sie sich küßten, da hatte jedes von ihnen die Vision eines bleichen, todesstarren Menschenangesichts.
[S. 261]
Cäcilie sah Fritz, wie sie ihn gesehen hatte im Traum der vorletzten Nacht, im Manöveranzug, die Linke auf die Brust gepreßt, ein zähes Naß rieselnd zwischen den braunbehandschuhten Fingern hindurch ...
Und Martin war's, als hielte er Agathe im Arm wie beim letzten Wiedersehn daheim, als sie sich leise stöhnend an seine Brust geworfen hatte ... jetzt aber erstarrte, erkaltete sie an seinem Herzen ... schwand hin ... sank in sich zusammen ... eine jählings welkende bleiche Rose ...
Mit einem wilden Schluchzen befreite sich Cäcilie aus Martins Arm.
»Leb wohl, Martin ... leb wohl —«
Sie hastete zur Tür, ihre Röcke raschelten ... aus dem Dunkel des Nebenzimmers blinkten die gelben Messingstangen und der weiße Spitzenhimmel ...
Die Tür fiel ins Schloß.
Und Martin strich mit dem Handrücken über die Stirn ... kalte Tropfen standen darauf ...
Dann wandte er sich bewußtlos der Korridortür zu ... seine Schritte wurden Flucht ... er riß die Tür auf und prallte im Rahmen mit Fritz von Brandeis zusammen.
Aha — grinste Oberleutnant Menshausen in sich hinein, als die Gastgeberin sich plötzlich aus der Schar der Zuschauer des Feuerwerks zurückzog — aha, also wirklich!
Er gönnte ihr einen kleinen Vorsprung, zog sich dann gleichfalls langsam aus der Gruppe heraus, die am Rande der Gartenbastion stand, und schob sich am Saum der Bosketts entlang hinter Frau Cäcilie her ...
[S. 262]
Er stockte, als in diesem Augenblick von der Treppe her, die aus dem Schloßgarten zu den dunkeln Gehegen des Parks hinanführte, ein Paar herniederstieg ...
Schau, schau ... der Landwehrfritze — und das ältere Majorsmädel — und — — zog sich nicht in diesem Augenblick langsam ihr Arm aus dem seinen ...? Sah sie nicht empor zu ihm mit einem Blick, ordentlich butterweich?
Und sieh — aus der Tür, die zum Seitenflügel führte, schlich sich da zu gleicher Zeit das jüngere Fräulein heraus und gesellte sich ganz harmlos zu den Zuschauern des Feuerwerks — woher kam denn die —?! Na, selbstverständlich auch von einem Rendezvous! —
War denn das ganze Schloß des Teufels —?!
Keine Zeit, weiter zu beobachten ... er durfte die Fährte nicht verlieren ... er trat in die Veranda, ging zu dem Tisch, auf dem Zigarren und Zigaretten aufgestapelt waren, zündete auch wirklich ein Papyros an ... beobachtete, wie Frau Cäcilie drinnen Befehle erteilte ...
Im Augenblick, als sie auf die Diele hinaustrat, schlenderte er harmlos, nachlässigen Ganges durch den Speisesaal, gab seinem Burschen, der eben mit einem Brett voll Biergläser aus der Küche kam, einen Auftrag wegen des Sattelns für andern Morgen ... und folgte der Hausfrau ...
Er hörte ihre müden, unsichern Schritte sich die Treppe hinaufschleppen ... horchte, wie sie eine Tür öffnete und schloß ... und wollte eben hinterhersteigen, als plötzlich mit hastigen Schritten der Leutnant Quincke aus dem Küchenflur schoß. Er erblickte den Kameraden und stürzte auf ihn zu:
»Menshausen, Sie müssen mir einen Rat geben —!«
[S. 263]
»Gern — nachher! Erst müssen Sie mich einen Augenblick entschuldigen ... ich muß schleunigst auf mein Zimmer ... der Oberst, wissen Sie ... ich soll ... ich soll die Brigadebefehle für morgen früh holen ... bin im Moment wieder da!«
»Aber so hören Sie doch nur eine Sekunde — ich hab' eben einen schauderhaften Auftritt mit der kleinen Molly Sassenbach gehabt! — Bitte, sagen Sie mir doch bloß, wie ich mich verhalten soll ... Sie haben mich doch in diese Schweinerei hineingebracht, haben mir doch den Auftrag gegeben, die Damen ein wenig zu beobachten ...!«
Teufel — dachte Menshausen ... sollte der dämliche Geselle eine Taperei gemacht haben und nun die Verantwortung auf mich selber abwälzen wollen —?!
»Na — so erzählen Sie schon schnell!«
Quincke berichtete.
Menshausen platzte hell heraus: »Sie sind eine Kraft, Quincke — allerhand Hochachtung! Sie verdienen, Obereunuch beim Padischah zu werden! — Ich hatte Sie gebeten, ein wenig zu beobachten — und Sie platzen dazwischen, ehe überhaupt was passiert ist! Na, weiter kein Unglück —!«
»Aber die Kleine hat mich tödlich beleidigt! Ich werde mich bei ihrem Vater beschweren!«
»Sie sind komplett wahnsinnig, Herr! — Danken Sie Ihrem Schöpfer, wenn die Kleine nicht anfängt! — Sich beschweren — hahaha! Das Gesicht von Sassenbach!! Ne, mein Lieber, die kleine Gardinenpredigt, die stecken Sie man ruhig ein! Die haben Sie rechts und links 'rum verdient! — Und nun lassen Sie mich nach oben! — — Donnerwetter, da ist der Hauptmann!«
[S. 264]
Munter summend kam Herr von Brandeis aus dem Küchenkorridor: »Na meine Herren, wie hat Ihnen das Feuerwerk gefallen? — pompöse Sache, was?«
»Glänzend, Herr Hauptmann — ganz pyramidal!«
»So — und Sie stehn hier auf der Diele 'rum und machen offizielle Gesichter? — Marsch in den Garten — jetzt gibt's Münchener! — Übrigens — weiß einer von Ihnen, wo meine Frau steckt?«
So, schöne Frau —! Jetzt kommt die Rache des Negers!
»Die gnädige Frau ist soeben die Treppe hinaufgegangen — ich glaube, sie äußerte, sie wolle sich etwas wärmer anziehn!«
»Oho — wärmer anziehn? — werde mal nach ihr schauen!«
Der Hauptmann schritt die Treppe hinauf. Mit angehaltenem Atem lauschte Menshausen.
Jetzt also platzte droben die Bombe ...!
»Was horchen Sie denn so gespannt?« flüsterte Quincke.
»Halten Sie den Mund!«
In dem Augenblick, als der Hauptmann die Tür öffnete, war's, als würde diese von drinnen aufgerissen ...
Ein Ton klang ... ein dumpfer Naturlaut, wie ein Knurren der Überraschung und des Schreckens ...
Dann hörten die Lauscher, wie der Hauptmann eintrat. Die Tür fiel ins Schloß. Nichts weiter vernehmbar.
Menshausen fühlte, wie seine Hände flogen vor Erregung ... in dieser Sekunde überfiel ihn auf einmal eine jähe Scham ... ein angstvolles Grausen ...
Herrgott — was geschah jetzt da droben —? Morgen früh würde Blut fließen!
[S. 265]
Und er — er hatte die Sache zum Klappen gebracht.
Pah — was ging's ihn schließlich an? Einmal wäre der Krach ja doch gekommen!
Aber ekelhaft war's doch, zu wissen, daß man selber — —
Äh ... nichts mehr zu machen!
Vielleicht war ja überhaupt gar nichts passiert? Und die drei saßen da oben ganz friedlich und vergnügt zusammen —!
Horch — da ging die Tür wieder auf ... Schritte kamen die Treppe herunter ... hastige Schritte — Flamberg — —
Gesenkten Hauptes, unsichern Ganges tappte der Maler die Stiege hinab, ohne die beiden Herren zu bemerken, die sich unwillkürlich jeder in einen Stuhl fallen lassen und Stellungen harmloser Zwiesprache angenommen hatten.
Er schritt geradeswegs in den Garderobenraum, der vorn neben der Eingangspforte lag ... kam gleich darauf wieder heraus ... den Helm schief auf den Kopf gestülpt ... im Begriff, den Säbel umzugürten ... Kaum konnten die fliegenden Finger die Zunge des Koppelriemens in die Schnalle bringen ...
Aufschauend bemerkte er die beiden Herren.
Er zwang sein tief erblaßtes, finster verzerrtes Gesicht zu einem verbindlichen Lächeln: »Nun, Quincke, gehn Sie noch nicht mit ins Dorf hinunter? — Wir müssen uns morgen um drei wecken lassen, außerdem fünfundvierzig Kilometer in Aussicht!«
»Haben Sie sich denn schon von den Stäben verabschiedet?«
»Ne ... ich bin müde, drücke mich französisch! ... Na, woll'n Sie mit ...? Der Weg ist verdammt dunkel!«
[S. 266]
»Ich habe Blowitz versprechen müssen, auf ihn zu warten —!«
»So —? Na, dann muß ich also in Gottes Namen allein —! Guten Abend, meine Herren! — Wohl bekomm's!«
Säbelrasselnd, beherrschten Ganges schritt er von dannen.
»Donnerwetter! — sah der aus!« sagte Quincke, »was ist dem denn passiert?!«
»Was soll ihm passiert sein?« grinste Menshausen. »Kommen Sie — ich hab' einen scheußlichen Brand in der Kehle von dem verdammten süßen Zeug, der Pfirsichbowle! Ein Schoppen Münchener wäre nicht zu verachten!«
Als die Herren durch den Speisesaal schlenderten, kam mit raschen, festen Schritten der Hausherr hinter ihnen her: »Na, jungen Leute, wie schaut's draußen aus? — Hat alles zu trinken?!«
Ein rauher, rostiger, geborstener Klang in seiner Stimme ...
Menshausen wagte nicht, ihn anzuschauen ...
Eine fressende Scham, ein Ekel vor sich selber würgte ihm in der Kehle ... Zweifellos — morgen ... morgen ... morgen floß Blut ... irgendwo ... im Wald ... ein paar hundert Schritt vom Biwak des ganzen rheinischen Armeekorps. Blut ... Menschenblut ... Kameradenblut ...
Und er ... pfui Deubel ... pfui Deubel ... Er hätte ausspucken mögen vor sich selber.
In zechenden, plaudernden Gruppen standen die Gäste draußen im Garten beisammen ...
Als der Hausherr auftauchte, empfing ihn ein rasender Beifallssturm.
[S. 267]
Der Oberst rief: »Meine Herrschaften — unser ritterlicher, glänzender Gastgeber — hurra, hurra, hurra — —!«
Schmetternd widerhallte der Ruf an den Felswänden ... rollte weithin das dunkel träumende Waldtal entlang ...
»Aber — wo ist die Königin unseres Festes, unsere schöne verehrte Hausfrau?!«
»Meine Frau ist leider nicht ganz wohl,« sagte Brandeis im Ton ruhigen Bedauerns, »sie hat sich gelegt und bittet die Herrschaften, sie entschuldigen zu wollen! — Übrigens hat es nicht das Geringste zu sagen ...«
Allgemeines höfliches Beileid.
Die Mädchen drängten sich an den Hauptmann heran: »Dürfen wir nicht mal zu ihr hinauf?!«
»Sehr liebenswürdig, meine Damen! Haben Sie schönsten Dank! — Aber es ist wohl besser, man läßt sie ganz in Ruhe! Es hat wirklich gar nichts zu sagen ... nur ein bißchen Übermüdung! — Bitte, bitte, meine Herrschaften, lassen Sie sich ja nicht stören!«
»Aber nein, lieber Brandeis, die Herren von drunten waren ohnehin im Begriff, aufzubrechen! — Übrigens wird's auch allmählich höchste Zeit ... elf Uhr vorbei — heiliges Kanonenrohr!«
»Gewiß,« bestätigte der Major, »wir haben mehr Pfirsichbowle intus, als wir vor Gott und Seiner Exzellenz dem Herrn Korpskommandeur verantworten können! — Wenn das noch eine halbe Stunde so weiter geht, brechen wir uns auf dem Heimweg Hals und Beine!«
»Ich gebe den Herren selbstverständlich einen Burschen mit einer Laterne mit! — Aber bitte wirklich dringend, meine Herren — setzen wir uns wieder zu Biere! — Meine[S. 268] Frau würde untröstlich sein, wenn sie wüßte, die Herren ließen sich nicht halten ...«
Gott sei Dank ... sie gingen ... die von drunten ...!
»Aber wenigstens die Schloßbesatzung wird doch noch ein wenig beisammen bleiben —! Das verlange ich einfach, Herr Oberst!«
»Lieber Brandeis, Ihr Wunsch ist mir heute Befehl — aber jetzt wird's wirklich Zeit für uns alle! — Also — gute Nacht, mein Verehrtester ...! es war einfach feenhaft ... direkt chimborassomäßig war's ... verstehn Sie mich ...? Aber nun Schluß! — Und meine Herren Adjutanten werden sich auch schlafen legen, sonst werden morgen meine sämtlichen Befehle falsch ausgerichtet!«
Gott sei Dank ... nun wurde Ruhe ... nun konnte man denken ... Entschlüsse fassen ... die unvermeidlichen Entschlüsse ...
Leise ... ganz leise klinkte Fritz von Brandeis die Tür zum Schlafzimmer auf ... lauschte angespannt in das dunkle Gemach hinein ... lauschte auf Cäciliens Atemzüge ...
Vielleicht schlief sie wirklich ... vielleicht hatte es sie übermannt ... es wäre das Beste gewesen ... er fühlte sich so todesmatt ... so widerstandsunfähig ...
Jetzt nicht mehr fragen ... jetzt nicht mehr Antwort hören ... und wägen müssen ...!
Gott, wenn sie doch schliefe! — Dann würde er sich in seinem Zimmer auf das kühle Bismarcksofa werfen ... sich in eine Decke wickeln ... und schlafen ... schlafen ... schlafen ...
Wozu noch lange fragen?! — Was er wissen mußte, wußte er ja doch ... Er wußte, daß Raub verübt worden[S. 269] war an seinem Allerheiligsten ... wußte, daß er morgen Rechenschaft fordern würde für diesen Raub ... morgen, wenn es Tag war ... blutige Rechenschaft ... Rechenschaft fordern mit Einsetzung seines eigenen Lebens ... Und vielleicht war's am besten für ihn, wenn's ihn dann traf ... Sein Leben war ja doch besudelt ... verspielt ... verloren ...
Kein Laut war vernehmbar ... nicht der leiseste Laut ...
Herrgott — plötzlich — ein Gedanke — — Nein ... das nicht ... das um Himmels willen nicht ...!!
Mit raschen, leisen Schritten trat Brandeis zu seinem Nachttischchen, drehte die Birne des rotumschirmten Stehlämpchens auf ...
Da richtete sich vom Nachbarbette die Gestalt seines Weibes halbleibs empor. Noch völlig bekleidet, hatte sich Cäcilie auf die Überdecke gelegt. Glasig stierten ihre Augen .. wirr hingen die rostfarbenen Strähnen um ihr blasses Gesicht ... das stand im roten Licht irr und verzerrt ...
Fritz stand regungslos ... ein trockenes, kurzes Schluchzen durchrüttelte seine aufrechte Gestalt ...
»Willst du dich nicht auskleiden ... und dich ordentlich hinlegen, Cäcilie ...? Ich lege mich nebenan aufs Sofa ...« Wie eine gütige, sorgsame Bitte hatte das geklungen.
»Fritz ... was ... was willst du tun —?!«
»Darüber ... hat der Ehrenrat ... zu entscheiden ...«
»Du hast — dem Major schon Meldung gemacht —?«
»Ich tu's morgen früh!«
Cäcilie schlug die Hände vors Gesicht. Der einzige Kuß ... der Abschiedskuß ... nein, das war ja doch nicht möglich ... das durfte ja doch nicht sein ...
[S. 270]
»Mach dir keine Sorge, Cäcilie ... ich ... schieß ihn dir nicht tot ... ich ... schieß ihn ... dir ... nicht tot ...«
Da fielen Cäciliens Hände mit einem Ruck in ihren Schoß ... die starren Augen ruhten auf dem Antlitz des Gatten mit einem langen, seltsam prüfenden, suchenden Blick ... Ein Staunen glomm in diesem Blick auf ... ein großes Sichwundern ...
Plötzlich ein zages Pochen an der Tür. Fritz fuhr zusammen: »Was gibt's —?«
»Verzeihen Herr Hauptmann, wenn ich störe!«
»Was haben Sie denn, Fräulein?«
»Der Bursche vom Herrn Major ist draußen mit einem dringlichen Befehl — von der Brigade, sagt er!«
»Ich komme —!«
Das Fräulein stand draußen mit einem Meldekartenbriefumschlag: »An Hauptmann von Brandeis.«
Mit Bleistift von der Hand des Majors gekritzelt, drei Kreuze dabei. Sehr dringlich also. Der Hauptmann riß den Umschlag auf:
»Bataillonsbefehl!
Auf Befehl der Brigade: Hauptmann von Brandeis meldet sich morgen früh 4,30 beim Herrn Brigadekommandeur als Adjutant für den Rest der Herbstübungen an Stelle des durch Sturz mit dem Pferde heute morgen zu Tode gekommenen Hauptmanns Goettig. Die erste Kompagnie führt Leutnant der Reserve Flamberg.
v. Sassenbach.«
Ruhig zog Brandeis die Uhr, notierte die Zeit des Eingangs, elf Uhr fünfundvierzig, auf den Umschlag der[S. 271] Meldekarte und gab die Hülle zurück: »Das bekommt der Bursche! — Wilhelm soll mich bereits um halb drei wecken! Frühstück um drei! — Gute Nacht, Fräulein!«
»Gute Nacht, Herr Hauptmann!«
Einen Augenblick stand Fritz von Brandeis in tiefem Sinnen.
Hauptmann Goettig durch Sturz mit dem Pferde zu Tode gekommen ... schauerlich ... Eine glänzende Laufbahn jählings mitten durchgerissen ... eine Frau und vier Kinder des Ernährers, des Beschützers beraubt ...
Und er also der präsumtive Nachfolger ... mutmaßlich für die Dauer ... Also Brigadeadjutant in spe ... das bedeutete —
Pah — ein bitteres Lächeln spielte um des Hauptmanns Lippen. Morgen ... spätestens übermorgen stand er mit der Waffe in der Hand dem Manne gegenüber, der seines Weibes Mund geküßt ... ihm seines Weibes Herz entrissen ...
Auf den Trümmern eines solchen Glücks baut man keine — — Karriere auf ...
Der andere ... der war der Sieger ... war der Stärkere ... wenn einer von ihnen bleiben sollte ... dann mußte natürlich er selber es sein ... er, der meritenlose Soldat ... der unbedeutende Mann seiner reichen Frau, die nun auch ihr Herz von ihm gewandt hatte ... ihr Schicksal von dem seinen trennte ...
Für einen solchen Adjutanten würde der General sich bedanken — wenn er überhaupt noch in die Lage kam ...!
Schwerfällig ging der Hauptmann zum Schlafzimmer zurück, steckte den Kopf zur Tür hinein: »Gute Nacht, Cäcilie!«
[S. 272]
»Was war's ... was hat's gegeben?« stammelte die Stimme seines Weibes aus der rötlichen Dämmerung.
»Nichts von Bedeutung ... bin für morgen abkommandiert, muß eine halbe Stunde früher fort ... Gute Nacht!«
Er schloß die Tür, wandte sich ab, hakte mechanisch den Kragen seines Waffenrocks auf.
Auf einmal klang's hinter ihm: »Fritz ...«
Brandeis fuhr herum ...
Cäcilie stand an der Tür. »Fritz ... warum kommst du denn nicht zu mir hinein ... Fritz —?«
»Ich ... schlaf auf dem Sofa ... hier draußen ... oder ist es dir lieber, wenn ich schon heut abend ... fortgeh —? hier ... das alles ... gehört ja dir ...«
»Fritz! nein — nein ... alles ist dein — dein ganz allein ... ich auch, Fritz — ich auch —!!«
[S. 273]
Das rheinische Armeekorps biwakierte gegen den markierten Feind.
Der Spätsommerabend überdeckte mit sammetnen Fittichen das gewaltige Bergplateau des Hunsrücks zwischen Idarwald und Hochwald.
Und in die Nacht hinein in endloser Reihe loderten die Lagerfeuer weithin über die endlose Ebene. Überall feierten die Mannschaften das lustige Fest des Löffelbegrabens:
Die Leute des zweiten Jahrgangs, die unmittelbar nach Manöverschluß in die Heimat entlassen werden würden, schmückten, Kompagnie für Kompagnie, einen mächtigen Baum mit Strohschleifen, und ein jeder hängte vom Inhalt seines Tornisters hinein, was nun ausgedient hatte, seinen Eßlöffel, seine abgewetzte Stiefelbürste, Putzlappen, Knopfgabeln ...
Die wunderliche Trophäe wurde unter derben Soldatenspäßen und unablässigem Absingen des Reserveliedes durch das Lager getragen und schließlich mit Hallo und Kinderjubel in die Glut des Biwakfeuers versenkt.
Heimatstimmung ... Heimkehrseligkeit überall ...
Heimkehrseligkeit —?!
Leutnant Flamberg saß mit Carstanjen und dem Fahnenjunker vorm Offizierszelt der ersten Kompagnie.
[S. 274]
Ihren Kapitän hatte die Königliche Erste heut nur von weitem zu Gesicht bekommen, wenn die kleine Kavalkade vorübersprengte, über welcher die diagonal geteilte schwarz-weiß-rote Standarte der Brigade flatterte.
Und Martin Flamberg hatte den ganzen Tag darauf geharrt, daß Major von Sassenbach, der Vorsitzende des Ehrenrats, ihn zitieren würde ...
Dabei trug er einen Brief in der Brusttasche seines Dienstrocks, einen Brief vom Samstag, der nur das eine Wort erhielt:
»Über-über-übermorgen —!!!!!«
Gott im Himmel! ... dort in der Ferne harrte seiner die sehnende Braut ... und er ... er wartete auf den Befehl, sich zu verantworten, weil er das Weib eines andern berührt ...
Wohl war es ein Abschiedskuß gewesen ... aber er würde mit seinem Leben dafür einzustehen haben ...
Das hatte an seinen Nerven gerissen den ganzen Tag ... hatte wie mit Keulen immerfort auf seinen Schädel eingedroschen, bis er ganz stumpfsinnig und apathisch geworden war ...
Nur der Soldat in ihm, der hatte funktioniert ... mechanisch ... unfehlbar sicher ...
Obwohl er zu Fuß war, hatte er seine Kompagnie ganz anständig durch die Wechselfälle des heißen Marsch-, Gefechts- und Biwaktages geführt. Und Major von Sassenbach hatte ihm mehrfach aufmunternd zugenickt: »Ich werde Ihnen eine ganz passable Konduite schreiben können, Flamberg —!«
Was hatte der Major nur heute? — Er war den ganzen Tag so merkwürdig vergnügt —?
[S. 275]
Durch Martins Herz aber zog immerfort das Erinnern jener wenigen furchtbaren Sekunden, in denen er dem Manne gegenübergestanden, dem er das tiefste Leid seines Lebens zugefügt:
»Ich stehe zu Ihrer Verfügung, Herr Hauptmann ...!«
»Sie werden morgen von mir hören!«
Keine laute Szene — kein wildes Wort der Wut — des Grimms.
Ein paar eisig korrekte, formelhafte Wendungen — und doch in jeder Silbe der unsühnbare Haß — die Feindschaft bis aufs Messer — der Racheschrei — die Todesdrohung!
Und heute — rätselhaftes Schweigen. — —
Gott — der Grund war leicht einzusehen: der Hauptmann war zur Brigade kommandiert — der Dienst ging allem andern vor — es hatte an jeder Gelegenheit gefehlt, die Meldung an den Ehrenrat zu erstatten.
Aber diese Situation war gräßlich — sie erstickte die Kraft des Widerstandes — machte stumpfsinnig und wehrlos.
Der Gedanke an Cäcilie war wie das Erinnern eines fernen, schaurig holdseligen Traumes.
Der Gedanke an Agathe folterte das Herz noch tiefer mit schmählicher Scham.
Und aus dem innersten Herzensschacht kroch die Reue herauf — die Reue um unwiderbringlich Verlorenes — um ein ganzes, großes, herrliches Leben des Schaffens, des Genießens — um ein Leben voll Liebe und Schönheit — voll freudigen Gebens und dankbaren Nehmens.
Alles war hingeworfen — vergeudet um eines Augenblicks haltloser Leidenschaft willen.
Reue — Reue —
[S. 276]
Und eines nur hatte Bestand im gestaltlos wogenden Getriebe der anklagenden, schamvoll zerrissenen Empfindung.
Dies eine Wissen: daß man einstehen werde für das eigene Tun — regungslos — eisernen Herzens — ohne Wimperzucken — bis ans Ende — bis ans Ende.
Mannesehre ... Soldatenehre ... Offiziersehre — wahrhaftig, doch kein leerer Wahn das alles — —!
Wenn es eine Sühne gab auf Erden, dann war es die: klaglos die Stirne, die Brust hinhalten der rächenden Kugel ... stumm und stolz zusammensinken ... hinabtauchen in den läuternden Tod ...
So sann Martin Flamberg. Und neben ihm in behaglichem Verdauungsschweigen hockten mit übergeschlagenen Beinen auf ihren Kisten die beiden blutjungen Knaben, der Leutnant, der Fahnenjunker ... unkund der Schrecknisse des Lebens, der Leidenschaft ...
Und ringsum jubelte die Heimatsehnsucht von zehntausend jungen Gesellen, die nach zwei Jahren in Königs Rock übermorgen in trunkener Wiederkehrwonne nach Hause flattern würden.
Nach zwei Jahren, die ihnen mehr, weit mehr gewesen waren, als sie heut ahnen konnten, als ihnen vielleicht jemals zum Bewußtsein kommen würde ...
Zwei Jahre, in denen sie Soldaten gewesen waren ... in denen ihr Leben seiner Vereinzelung, seiner Kleinlichkeit und Alltäglichkeit entrissen worden war und eingegliedert in die großen Verhältnisse, das mächtige Leben der Gesamtheit ... der Nation ... des Volkes ...
Zwei Jahre, in denen sie aus Gelsenkirchenern und Rheydtern, aus Erkelenzern und Neuwiedern zu Preußen ...[S. 277] aus Maurertagelöhnern und Bandwirkern, aus Feilenhauern und Ackerknechten zu wehrhaften, waffengeübten Soldaten geworden waren ...
Ach ja, wohl war's manchmal scharf hergegangen in den zwei Jahren — aber das alles war ja nun überstanden ...
Was bleiben würde ... was sie mit nach Hause nahmen ... war's zu verlangen, daß sie das heute schon begriffen — vielleicht überhaupt je begreifen lernten?!
Doch würde mancher vielleicht nach Jahren aus dem täglichen öden Einerlei der Berufsarbeit, aus der Enge beschränkter, kinderreicher Häuslichkeit mit Dankbarkeit und Sehnsucht zurückdenken an die zwei Jahre in Luft und Sonne, in Waffenglanz und munterm Kampfspiel »auf grüner Heid — im freien Feld«!
Heut freilich — heut hatten sie alle nur den einen Gedanken: übermorgen geht's zu Muttern!
Und unablässig, immer von neuem klangen übers weite Feld die Weisen der Reservelieder:
»Herrgott von Bentheim!« fluchte Leutnant Carstanjen, »dieses verdammte Reservistengegröhle wächst einem, weiß der Himmel, zum Halse heraus!«
[S. 278]
Flamberg lächelte: »Das wird Sie wohl Ihr ganzes militärisches Leben hindurch begleiten, lieber Freund! Und wenn Sie sich einmal die Mühe geben wollen, sich in die Gefühle der Burschen, die da singen, hineinzuversetzen, dann wird's Ihnen seltsam wohl und weh dabei werden — dann werden Sie anfangen, die Würde des hohen und herrlichen Berufs, den Sie haben, ein wenig tiefer zu begreifen! — Was da singt und jubelt, das ist das Heimatverlangen der deutschen Jugend, die euch anvertraut ist zur Erziehung in Waffenkunde und Mannhaftigkeit. — Die Gefühle, mit denen diese Leute das Reservelied singen, sind die Gradmesser für eure Berufstüchtigkeit — wenn sich in diese Heimkehrseligkeit nicht auch ein unverstandenes Gefühl von Abschiedswehmut mischt, wenn diese Leute nicht in spätern Jahren mit leuchtenden Augen und geheimem Erinnerungsschmerz am Stammtisch, im Familienkreise, in der Schar ihrer Kinder von der Zeit erzählen, da sie den bunten Rock trugen — von Ihnen erzählen, kleiner Carstanjen — ihrem muntern, liebenswürdigen kleinen Zugführer, dem es zwar zuweilen auf eine Handvoll Schweinehunde und Kamelsnasen nicht ankam ... der aber doch im Grunde seines Herzens ein todguter, lebensfreudiger und grundehrenwerter Junge war, der in seinen Rekruten und alten Kerlen etwas mehr sah als bloß die Objekte einer lästigen, stumpfsinnigen Berufstätigkeit — wenn das nicht so wäre — dann sähe es schlimm aus um unser deutsches Heer ... um unser deutsches Volk ...«
»Jesses, Jesses, er predigt — die Reserve predigt!« rief Carstanjen mit komischem Entsetzen und doch innerlich gepackt — ein wenig geschmeichelt — ein wenig ergriffen aber auch — »Junker, schnell 'ne neue Pulle! —«
[S. 279]
Da trat ein Füsilier, es war der Pferdebursche des Majors von Sassenbach, zu den Herren heran, stand stramm: »Der Herr Major läßt die Herren Offiziere bitten, ins Bataillonsstabszelt zu kommen zu einer kleinen Bowle!«
»Wir werden kommen!« sagte Flamberg. »Ja, einer von uns muß natürlich bei der Kompagnie bleiben — also zunächst mal Sie! Ich löse Sie nachher ab — also auf Wiedersehen!«
Ein siedender Schreck hatte Martin plötzlich durchzuckt, als die Ordonnanz des Majors herangekommen war ... Auf die hatte er ja den ganzen Tag gewartet ...
Und nun erging der Ruf zu einem fröhlichen Zechen —!? Also die Stunde der Abrechnung war noch immer nicht da ... der Major wußte noch von nichts ...?!
Natürlich, jetzt saß Brandeis drüben im Dorfe, wo der Brigadestab lag, mit seinem General zusammen, studierte die Korps- und Divisionsbefehle für morgen — redigierte den Brigadebefehl — —
Da blieb ihm keine Zeit, an seine eigenen Angelegenheiten zu denken — mochten sie auch noch so dringlich ... noch so unaufschieblich sein ...!
Im Hinschreiten ließ Flamberg seine Blicke über das weite Lager schweifen ... Die Dämmerung sank hernieder .... die frühe Dämmerung des Spätsommerabends ... hinter dem fernen braunen Strich des Idarwaldes verglomm der letzte Tagesglast ...
Endlos hin über Berg und Tal zog sich das Biwak des Korps ... und überall dieselbe Szene ... die lodernden Feuer mit den rastenden, schmausenden, singenden jungen Männern drum herum ... überall niedere Leinwandzelte ...[S. 280] Gewehrpyramiden ... Posten vor der Fahne ... Ein ergreifendes Bild ruhender, gesammelter Volkskraft: »Lieb Vaterland, magst ruhig sein ...«
Ach — und immer wieder fühlte er dann den jähen Ruck am Herzen ...
Was hast du getan — und was wird werden — —?!
Wie anders müßte mir nun zumute sein ... wie leicht ... wie dankbar ... wie voll Hoffnung ... voll überströmender Glückshoffnung — Und wie ist mir nun ...
Unmännlich hab ich mich hingegeben an diese Leidenschaft, die ich hätte bekämpfen müssen von Anbeginn ... ausroden wie ein holdselig blühendes, berauschend duftendes Giftgewächs ...
Ich hab sie wachsen lassen ... und eine einzige Sekunde hat mein Leben ... meine Zukunft ... mein Glück vernichtet ... Mein Glück ...
Meines nur ...?
Und sie ... Agathe ... das vertrauensvolle Mädchen, das sein Geschick in meine Hand gelegt hat ...?! Ach, Himmel, wenn sie ahnte ...
Und das, was kommen kann ... was kommen muß ...
Nein, nein — nicht dran denken ... hinwegscheuchen die grausigen Bilder alles dessen, was kommen wird —
Gespielt mit dem Heiligsten ... gedankenlos ... haltlos ... gewissenlos ...!
Im Künstlerübermut ... im Rausch des Machtgefühls hineingegriffen in die festgefügte Ordnung, welche diese Lebenssphäre beherrscht, in die der Dienst des Königs, des Vaterlandes mich, den Mann aus Kreisen leichterer, freierer Daseinsführung, hineingeführt ...
[S. 281]
Nein, das ging nicht ... das paßte nicht zusammen ... Entweder — oder! Nur zu einem Spiel ... nur zu einem Anlaß künstlerischer Sensationen war das Gewand zu gut, das er trug, der Stand, dessen Zeichen es war ...
Eine Offizierübung ist kein malerischer Motivenschatz ... die Ehe eines Fritz von Brandeis ist kein Modellbureau ... Entweder — oder! Entweder man ist Offizier — oder man ist es nicht! —
Nun ... er würde sühnen ... seine Schuld bezahlen ...
In tiefem Sinnen war Flamberg stehen geblieben am Rande des Gehölzes, welches das Biwak deckte.
Nun hörte er plötzlich seinen Namen rufen: »Flamberg! Sie, Flamberg!«
Das klang vom Bataillonszelt her ... Die Kameraden hatten ihn entdeckt.
Er trat hastig näher.
»Na Meister ... bißchen Stimmung geschunden ... bißchen photographiert für den Winter?! So, nun kommen Sie mal 'ran ... die Bowle ist prima, prima ...« so klang's durcheinander.
Der Major thronte inmitten der Tafelrunde, die sich auf Feldstühlen, Kisten und Koffern um den grauen Klapptisch gruppiert hatte, der ein Vorrecht des Bataillonsstabes war. Sein Gesicht war gerötet, die zerknitterte Manövermütze saß ihm im Genick, den Kragen des Waffenrocks hatte er aufgehakt ...
Und an seiner rechten Seite saß der Leutnant der Landwehr Frobenius ... seine Brillengläser funkelten ... seine klugen Augen leuchteten so seltsam ... die rotumbarteten Lippen zuckten wie in freudiger, festlicher Erregung ...
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»So, lieber Dormagen,« sagte der Major mit einer gewissen Feierlichkeit zu dem jüngsten der Herren des Bataillons, dem eleganten Referendar aus Koblenz, »nun füllen Sie gefälligst mal alle Gemäße —!«
Schäumend floß der Kasinosekt über die Ränder der Emaillebecher, der Bierseidel, der henkellosen Kaffeetassen ...
Und Sassenbach erhob sich: »Meine Herren — ich weiß, daß ich Ihnen allen eine Freude machen werde mit dem, was ich Ihnen jetzt mitzuteilen habe: Erstens — unser verehrter Kamerad, Herr Frobenius, bislang Privatdozent der Literaturgeschichte an der Universität Bonn — ein Herr, der in den acht Wochen, während deren er inmitten unseres Regiments geweilt hat, trotz gewisser — hm hm — — anfänglicher Schwierigkeiten ... trotz einer gewissen Vorliebe für den Aufenthalt in Froschtümpeln und auf Parkettböden ... die uns ein wenig befremdet hat ... auf die Dauer unsere größte kameradschaftliche Hochachtung und Sympathie erworben hat — dieser Ihnen wohlbekannte Herr hat soeben einen telegraphischen Ruf als ordentlicher Professor an die Universität Tübingen erhalten — —«
Das gab einen Sturm —!
Ja, wahrhaftig, sie mochten ihn alle leiden, den bescheidenen, gutmütigen, pflichtgetreuen Mann ...
»Famos ... tadellos ... bravo, bravo Frobenius ... gratuliere tausendmal ...!!«
»Halt, meine Herren!« überschrie der Major den Tumult, »ich bitte dringend um Ihre Aufmerksamkeit! — ich bin nämlich noch nicht zu Ende —: Ich habe die angenehme Pflicht, Ihnen die Verlobung meiner Tochter Nelly mit —!«
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Weiter kam er nicht — keiner verlangte, den Namen des Erkorenen zu wissen.
Es gab einen Jubel, daß an allen Lagerfeuern des ganzen Bataillons alle Köpfe dorthin sich wandten, wo bei der Fahne auf einer leichten Bodenerhebung die Herren vorm Bataillonszelt tafelten ...
»Das Brautpaar: hurra, hurra, hurra — —!«
Und vor versammeltem Kriegsvolk nahm der Major seinen Schwiegersohn beim Kragen und preßte seine langwallenden Schnurrbartzipfel auf den roten Bart des Herrn Professors.
Wenige Minuten vor neun Uhr ließen die Kompagnieführer ihre Leute bei den Gewehren antreten. Es war kühl geworden, die Mäntel hatten schon längst angezogen werden müssen ...
In langen dunkeln Reihen standen die Kompagnien ... es kam der Augenblick des Abendgebets.
Die Kompagnieführer standen vor der Front, die Zugführer am rechten Flügel ihrer Züge.
Und nun erklang von rechts her in ruhig heiterm Schreiten das Schmettern der Regimentsmusik ... sie spielte die alte stolze Weise des »Großen Zapfenstreichs« ...
Langsam marschierte das Musikkorps, die Spielleute aller drei Bataillone voran, an der Front des ganzen Regiments vorbei, dessen drei Bataillone ihre Biwaks nebeneinander aufgebaut hatten ...
Gelblich leuchteten die Instrumente auf im Widerschein der Lagerfeuer ...
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Und aus der Ferne von rechts und links kam's wie ein Widerhall ... dort, wo die andern Regimenter des Korps biwakierten, vollzog sich die gleiche Feierlichkeit ...
Nun war die Musik am linken Flügel des dritten Bataillons angekommen, sie machte kehrt, zog abermals vor den dunkeln Massen der lauschenden Truppen entlang bis in die Mitte des zweiten Bataillons, in die Mitte der ganzen Regimentsfront. Da machte sie halt.
Hier stand der Oberst mit seinem Stabe. Er gab mit weithin schallender Stimme das Kommando: »Mützen ab zum Gebet!«
Die Bataillonskommandeure, die Kompagniechefs wiederholten den Befehl.
Alle Mützen flogen von den Köpfen ... ein tiefes, andächtiges Schweigen lagerte über dem nächtigen Plan ...
Nun scholl ein dumpfer, langhinrollender Trommelwirbel ... die achtundvierzig Tambours des Regiments ließen leise rasselnd ihre Schlägel auf die entspannten Kalbfelle niederfallen ... darüber schwebte ein leiser, flehender Triller der Flöten ... und nun setzte der volle Ton der Trompeten, Tuben, Posaunen ein mit herzerschütternder Choralmelodie ...
— Das griff in jede Brust ... übergewaltig ... versöhnend ... Frieden spendend ... Himmelsfrieden ..
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Stumm ... regungslos lauschten die zwölfhundert jungen Männer im Waffenrock der Niederländer Füsiliere ... und alles weithin übers endlose Waffengefild lauschte ... sie alle, die jugendschwellenden, hochaufschauernden Kriegerherzen ...
Und keiner ... keiner war so arm ... so heimat- und friedlos, daß er nicht an ein Liebes hätte denken können, dessen Herz in weiter Ferne für ihn schlug ...
Martin Flambergs Herz aber schrie auf in wildem Gram ... in fressender Reue ...
Agathe ... Agathe ...!!
»Mützen auf — weggetreten —!«
— Als Flamberg sich umwandte, dem Kompagniezelt zu — stand plötzlich der Hauptmann von Brandeis hinter ihm: »Guten Abend, Flamberg — haben Sie einen Moment Zeit für mich?!«
»Zu Befehl, Herr Hauptmann!«
»Kommen Sie ... wir gehen ein paar Schritte in den Busch hinein ...«
Stumm folgte Martin Flamberg — in seinem Kopf und Herzen war ein brandender Schwall — er konnte nichts denken — nichts fühlen ...
Unter der vordersten Buche des Gehölzes machte der Hauptmann halt. Dicht standen die Männer einander gegenüber ... ihre Gesichter schimmerten nur schwach im Widerschein der Biwaksfeuer ...
»Wir wollen nicht viele Worte machen, Flamberg ... Sie haben mir sehr ... sehr weh getan ... wissen Sie das ...?«
»Ich weiß es, Herr Hauptmann!«
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»Was Sie sich dabei gedacht haben — Gott mag's wissen! — Ich will zu Ihren Gunsten annehmen, nicht allzuviel! — Ich will Ihnen auch nicht Moral predigen — ich wette, das haben Sie selber genügend besorgt in den Stunden seit ... seit gestern abend ... also zur Sache: es ist der Wunsch meiner Frau ... daß Sie und ich uns ... friedlich ... auseinandersetzen. Ich respektiere diesen Wunsch ... und ... ohne daß Sie erst darum zu bitten brauchen ... soll Ihnen verziehen sein.«
»Herr Hauptmann!« stammelte Martin.
»Ich versteh das alles ja sehr gut ... Sie sind — wie sagt man doch — eine glänzende Erscheinung ... ein außergewöhnlicher Mensch ... eine Berühmtheit ... Ich bin ein einfacher Soldat ... Aber ich hab diese Frau sehr lieb ... ganz gewiß lieber, als irgendein anderer Mensch sie haben kann ... und schließlich bin ich doch am Ende ihr Mann, nicht wahr?! Also kurz: Meine Frau hat mir erzählt: was zwischen euch beiden geschehen ist, gestern abend ... das ist ein Abschied gewesen ... Nun — so will ich's denn als ... Abschied ... gelten lassen. Nur eins versprechen Sie mir, Flamberg, nur das eine: halten Sie das Angedenken dieser Frau in Ehren ... in hohen Ehren, Flamberg! wollen Sie mir das versprechen ...?«
»Das — — versprech ich ... Herr Hauptmann!«
»Nun noch eins — Sie heiraten ja übermorgen ... Sie müssen Ihrer jungen Frau einmal ... erzählen ... was Sie getan haben ... nicht jetzt ... nicht im Flitterwochenrausch ... später einmal, wenn ihr euch beide kennt ... dann sollen Sie's ihr erzählen ... das wird euch zwei zusammenketten, das ... und Sie vor mancherlei bewahren, was vielleicht ... noch kommen könnte ...! Werden Sie das tun —?«
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»Ich werd's tun, Herr Hauptmann!«
»Ich danke Ihnen — und nun ... ich hab morgen Dienst beim Herrn General, und wir werden uns vor Ihrer Entlassung wohl kaum mehr sehen ... also ... leben Sie wohl ...!«
Er streckte dem Kameraden die Rechte hin. Flamberg schlug ein — er konnte nicht reden.
»Soll ich ... Cäcilie ... einen Gruß ... von Ihnen bestellen ...?«
»Ich ... bitte darum, Herr Hauptmann ...!«
»Ich werd's ausrichten! — Addio, lieber Flamberg!«
Noch einmal drückte der Hauptmann kräftig Martins Rechte ... legte die Hand an die Mütze ... schritt rasch von dannen ...
Und Flamberg ging langsam zu seiner Kompagnie.
Begnadigt! — Dem Leben ... der Heimat ... der Braut wiedergeschenkt ...
Begnadigt —!
In Martins Herzen hallte der Schluß der Gebetsweise wider ...
Die letzten Lagerfeuer erloschen.
Die letzten der Offiziere, die sich noch durch ein paar Glas Feuerbowle für den Schlummer im Stroh, die scharfe Kühle der Frühherbstnacht auf hohem Gebirgsplateau gestärkt hatten, krochen ins Stroh ...
Die Unteroffiziere, die Mannschaften schnarchten längst in den langen Zugzelten ...
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Am verglimmenden Lagerfeuer der zweiten Kompagnie lag bäuchlings hingestreckt noch ein einsamer Unteroffizier ...
Beim letzten Glosten der zuckenden Flämmchen, die den mächtigen Aschenhaufen umschwelten, las er ein Briefchen:
»— — Du sollst nicht heut und nicht morgen kommen, lieber Hans. Du sollst noch ein paar Jährchen warten, bis Du Deinen Assessor gemacht hast. Wenn Du mich dann nicht leid geworden bist, dann komm und hol mich — wenn ich dann noch da bin. Wir sind ja beide noch Kinder, und ich weiß nicht, ob nicht einem von uns beiden doch mal einer begegnen wird, der ihm lieber ist als die Erinnerung an einen heißen Kuß im Garten des Offizierkasinos — weißt Du noch, mein Hans?! Wenn das kommen sollte, dann soll keiner von uns sich an den andern gebunden halten. Ich glaub's ja nicht, daß es mir passieren wird, ich sag's auch mehr Deinetwegen als meinetwegen. —
Aber — man kann nicht wissen —!
Also — leb wohl, mein Süßer, und denk manchmal an mich!
Vielleicht einmal, vielleicht — —!
Molly v. S.«
Hans Friesen fuhr sich über die Stirn.
Sie hatte ihm die Freiheit wiedergeben wollen ... wie schön das war ... und wie klug ...
Und auch in ihm tönte die Choralweise nach ...
Jetzt in das dumpfe Zelt kriechen, wo die Kommißunteroffiziere schnarchten —? Nein ...!
Lieber hier am behaglich wärmenden, langsam verglostenden Feuerrest die paar Nachtstunden verträumen — unterm gleißenden Sternenhimmel ... in tiefem Sinnen ...[S. 289] in einem glücklichen Traum von Zukunft — Schönheit — Ruhm — Glück — in einem wundersamen Sicheinsfühlen mit dem weiten All ringsum, dem Chor der Schläfer auf der weiten Bergeshalde ... dem Gewimmel der Gestirne droben am Firmament ... mit allem Geschaffenen und seinem Schöpfer —
Langhin streckte sich der Soldat auf den harten Stoppelboden, schob Mollys Briefchen in die Brusttasche seines Waffenrocks ... und schaute nun regungslos mit glänzenden Augen zum weißleuchtenden Nebelbogen der Milchstraße empor.
Einsam, ein rüstiger Wanderer, schritt Martin Flamberg in der Morgenfrühe des 22. September talabwärts auf der Chaussee, welche von Leisel über Hettenrodt, Hettstein und Idar nach Oberstein an der Nahe führte ...
Hier würde er den Zug erreichen, der ihn heimwärts führen sollte.
Frühmorgens im Lagerstroh hatte der Feldwebel ihn geweckt: »Verzeihen Herr Leutnant, eine Ordonnanz vom Herrn Major ist da!«
»Soll ans Zelt kommen!«
»Herr Leutnant möchten so bald als möglich zum Herrn Major kommen!«
Sassenbach war just bei der Morgentoilette, als Flamberg ins Stabszelt trat: »Na, Flamberg ... Brummschädel ...?«
»Danke gehorsamst — nein, Herr Major!«
[S. 290]
»Entschuldigen Sie — muß mich eben fertig rasieren!«
Beim Schein einer Stallaterne, die der Bursche mitsamt einem winzigen Spiegelchen seinem Herrn vorhielt, saß der Bataillonskommandeur auf einem Faß, mit aufgeklapptem Waffenrock, und schabte die angegrauten Stoppeln von seinen bronzebraunen Wangen.
»Also, lieber Freund, Sie haben morgen Hochzeit ... Da scheint's mir doch besser, das Armeekorps behilft sich am letzten Übungstage ohne Sie — Sie sind also hiermit entlassen und haben möglichst schnell und geräuschlos aus dem Bereich des Kriegsgetümmels zu verschwinden!«
»Aber ich bitte ganz gehorsamst, Herr Major ...«
»Keine Fisematenten! Ich befehl's — und damit basta!«
»Und wer, befehlen Herr Major — wer soll die erste Kompagnie heute führen?«
»Ach was, die paar Stunden! Kann ja der Windhund, der Carstanjen machen! — Na, einverstanden?«
»Ich danke von ganzem Herzen, Herr Major!«
Sassenbach stand auf, und während der Bursche ihm im Stehen die kotigen Stiefel an den Beinen mit der Wichsbürste bearbeitete, streckte er dem Untergebenen die Hand hin: »Also stecken Sie sich einen grünen Zweig an als Neutralitätsabzeichen und verschwinden Sie auf dem nächsten Wege, solange es noch dunkel ist ... kommen Sie gut nach Hause, empfehlen Sie mich unbekannterweise Ihrem verehrten Fräulein Braut — und machen Sie Ihre Sache gut — na, Sie verstehn mich schon — hahaha! Haben Sie auch schönsten Dank für freundliche Unterstützung und leben Sie wohl!«
[S. 291]
»Darf ich Herrn Major meinen gehorsamsten, tiefgefühlten Dank für die gütige Aufnahme und alles Gute —«
»Schon gut, schon gut, lieber Flamberg — es war uns eine Ehre und ein Vergnügen!«
— — Und nun marschierte Martin Flamberg einsam talabwärts.
Von seinem Helm nickte ein grüner Busch. In seinem Wachstuchtornister klapperte eine halbe Flasche Kognak, die Carstanjen ihm noch als Abschiedsgabe eingepackt —
»Junger Ehemann in spe — — können eine kleine Herzstärkung gebrauchen! —«
Die Säbelscheide in der Linken, die Rechte taktmäßig pendelnd, stapfte er bergab in munterm Soldatenschritt.
Und wie ringsum die Bergsäume sich rosig erhellten, erhellte sich auch des Wanderers Herz — —
Ja, es ging heimwärts ... heimwärts ... es ging in die Arme der Liebe ... der Liebe, der nun sein ganzes Leben gehören sollte ... sein ganzes Leben ...!
Immer leuchtender stieg des fern harrenden Mädchens teures Bild vor seinem Blick empor ... nun erst, da er schon fast abgerechnet mit allem, was er besessen und erhofft hatte, lag's vor ihm in seinem ganzen süßen, holden Glanz ...
Er zog Agathens letztes Briefchen hervor, dies Briefchen, das nur das eine einzige, sehnsuchtsschwere Jubelwort enthielt: »Über-über-übermorgen —!!!«
Nun war's schon morgen — morgen würde es heute sein! —
Horch ...
Bum — bum — dröhnten von droben die ersten Kanonenschläge ...
[S. 292]
Der letzte Manövertag ... der Heimkehrtag für zehntausend junge Gesellen ... der Heimkehrtag auch für ihn ...
Den läuteten sie ein, die dumpfen, metallenen Schläge da oben.
Bum, bum, bum — — klang's da von allen Höhen in der Runde ... Diese Töne, die Mord und Grauen bedeuten sollten ... ihm waren sie selige Friedensklänge ...
Und immer tiefer senkte sich die Chaussee ... das war das Dörfchen Hettenrodt, das er nun durchschritt ... Noch lag es schlummernd ... kaum, daß ein schläfriger Ackerknecht schwerfällig die Haustür aufstieß und über den Hof zum Stall humpelte, wo das erwachte Vieh nach seiner Morgenration brüllte ...
Nun senkte sich der Weg gen Hettstein.
In einer Viertelstunde würde er am Schlößchen vorbeikommen.
Dort hing das Bild der schönen Frau, dort harrte sie selber der Heimkehr des herrlichen Mannes entgegen, der sie sein eigen nennen durfte — um an seiner Seite ein neues, ein tieferes Leben zu beginnen.
War es nicht doch gut so ... wie alles gekommen war, gut — — auch für die beiden?
Wenn der Sturm durch die Menschenherzen fährt, dann reißt er vielleicht einmal ein Glück in Trümmer — aber gibt es nicht auch Stürme, die segnen? die Luft klären, das Morsche hinwegfegen, auf daß das Gesunde um so kräftiger blühe?
Bum, bum, bum — läuteten die Glocken ringsum — die Hochzeitsglocken!
Nun wand die Chaussee sich um eine Waldecke herum ...
[S. 293]
Schau! vom ersten Morgenstrahl beglänzt, schimmerten die blitzenden Fenster, die schmucken Türme, die grünumrankten Zinnen des Schlößchens Hettstein.
Dort schlummerte sie, die schöne, schöne, schöne Frau ...
Einen Gruß dir, einen Herzensgruß, du wunderliebliches, du märchenhaftes Geschöpf — und — Segen, Segen, Segen auf dein Leben!
Himmel — war's möglich? — Auf dem Balkon im ersten Stock stand einsam eine weiße Gestalt — lauschte dem volltönigen Geläute der Kanonen ringsum auf den Hunsrückbergen ...
Jählings strömte das Blut zu Martins Herzen — ein Weh, das ihn schier übermannen wollte, durchrüttelte ihn so heftig, daß sein Fuß einen Augenblick stockte ...
Nein! weiter ... rüstig weiter ... rüstig weiter ...
Und nun ... nun wandte die Lauscherin langsam ihr Haupt bergaufwärts ... und nun gewahrte sie den einsam wandernden Kriegersmann ... und nun ... erkannte sie ihn ...
Einen Augenblick stand sie starr, schien fliehen zu wollen ...
Doch nein — sie blieb —
Ein weißes Tüchlein ließ sie flattern durch die goldene Morgenluft ... ein weißes Tüchlein ... ein Abschiedszeichen ... ein Friedenszeichen ...
Und Martin riß den Helm vom Kopf ... den Helm mit dem grünen Zweige ... dem Ölzweige daran ... er schwenkte ihn nach droben zum hohen Balkon ... zu der weißen Gestalt mit dem flatternden Tüchlein ...
Aber wehren konnte er nicht, daß ein paar helle Tropfen über seine verbrannten Wangen niederrannen und zerblitzten auf dem staubigen Waffenrock ...
[S. 294]
Ade, ade, ade ... vorüber, vorüber, vorüber ...
Vor dem Rückschauenden zerfloß das Bild des Schlößchens ... zerfloß in blinkende Nebel das Bild der weißen Frauengestalt mit dem flatternden Tüchlein ...
Ade, ade, ade ...
— — Und nun geradeaus den Blick ... der Heimat, der harrenden Liebe ... der Zukunft entgegen ...
Agathe ... Agathe ...
Umbrandet vom tosenden Schwall der Kanonen schritt Martin zu Tal.
Heimkehrgeläut ... Hochzeitsgeläut ...
Er schritt zu Tal ... schritt nieder in jenes Land, wo das Leben selbst Poesie wird ... heiligste Poesie.