*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 76588 *** ====================================================================== Anmerkungen zur Transkription. Das Original ist in Fraktur gesetzt. Schreibweise und Interpunktion des Originaltextes wurden übernommen; lediglich offensichtliche Druckfehler sind stillschweigend korrigiert worden. Das Inhaltsverzeichnis ist an den Anfang des Textes verschoben worden. Worte in Antiqua sind so +gekennzeichnet+; gesperrte so: ~gesperrt~ ======================================================================= Der deutsche Roman seit Goethe [Illustration] Skizzen und Streiflichter von Dr. M. Schian [Illustration] Görlitz 1904 Rudolf Dülfer Inhaltsverzeichnis. Seite Vorwort 3 Die Bedeutung des Romans 5 Aus der Vorgeschichte des modernen Romans   10 Goethe der Schöpfer des modernen deutschen Romans 16 Roman und Novelle der Romantik 32 Die Volkserzählung 53 Der tendenziöse Zeitroman 75 Der objektivere Zeitroman 99 Der historische Roman 121 Die Stimmungsdichtung 143 Der naturalistische Roman 167 Der Problem- und Gesellschaftsroman 188 Dekadence. Symbolismus. Tendenzroman 211 Rückblick 224 Register 232 Vorwort. Die folgenden Blätter geben eine Reihe von Vorträgen wieder, welche ich im eben vergangenen Winter im Damenlyzeum zu Görlitz und -- in kürzerer Gestalt -- vor einer aus Damen und Herren gebildeten Zuhörerschaft in Lauban gehalten habe. Der Wunsch, die Vorträge gedruckt zu sehen, wurde mir aus beiden großen Zuhörerkreisen so häufig und so dringend nahe gebracht, daß ich, wennschon nicht ohne Bedenken, doch nicht umhin konnte, ihm zu entsprechen. Die Form der Vorträge ist belassen; nirgends habe ich wesentlich geändert. Nur was ich der drängenden Zeit wegen beim mündlichen Vortrag hier und da auslassen mußte, ist jetzt wieder eingefügt. So werden namentlich die Hörer aus Lauban erheblich mehr finden, als ich ihnen mündlich bieten konnte. Der Zweck, welchem diese Veröffentlichung dient, braucht hiernach kaum näher dargelegt zu werden. Ich maße mir nicht entfernt an, die Wissenschaft der Literaturgeschichte irgend bereichern zu wollen. Meine Absicht war nur die, ihre Ergebnisse für ein wichtiges Einzelgebiet in leichterer Form, als das für gewöhnlich geschieht, einem weiteren Kreis von Gebildeten zu vermitteln. Daß ich dabei überall dankbar und freudig von den wissenschaftlichen literaturgeschichtlichen Darstellungen gelernt habe, ist ganz selbstverständlich. Aber ebenso selbstverständlich war mir, daß ich auf ein eigenes Urteil nicht verzichten konnte. Aus dem Zweck der Vorträge ergab sich nicht nur die Form der Darstellung, sondern auch die Begrenzung und die Auswahl des Stoffs. Auf jeden Versuch der Vollständigkeit mußte ich von vornherein verzichten; es schien mir viel besser, Einzelnes gründlich zu behandeln als eine Fülle von Namen und Titeln zu nennen. Nur vom deutschen Roman wollte ich reden; es blieb kein Raum, um Verbindungslinien nach anderen Literaturgebieten zu ziehen und die Einwirkung fremder Einflüsse deutlich zu machen. Die Vorträge wollen lediglich auf die Entwickelung des deutschen Romans seit Goethe ein paar Streiflichter werfen und vor allem auf das hinweisen, was in dieser Zeit Bleibend-Wertvolles geschaffen ist, um so zugleich den Kreisen der Romanleser ein bequemes Hilfsmittel für richtige Wahl und richtige Schätzung ihrer Lektüre zu sein. Es wäre mir eine Freude, wenn das Buch sich in dieser Richtung als praktisch und brauchbar erweisen sollte. ~Görlitz~, den 28. März 1904. +Martin Schian.+ Die Bedeutung des Romans. Wer läse heutzutage nicht Romane? Gewiß, es gibt Romanverächter. Aber sie sind weiße Raben. Jeder Gebildete liest sie, Mann wie Frau. Leihbibliotheken, Romanzeitungen, Familienblätter aller Arten und Richtungen machen den Roman leichter zugänglich als irgend eine andere Literaturgattung. Und zu der Masse der minder Gebildeten findet der Roman seinen Weg durch die Riesenauflagen der Tageszeitungen und der Gegenstände der Kolportageliteratur. Man liest Romane, aber -- man studiert nicht den Roman. Ich rede nicht von den Fachmännern der Literaturgeschichte. Den gebildeten Romanleser klage ich an. Wer beschäftigt sich mit der Geschichte des Romans? Das Wichtigste aus der Geschichte des Liedes und des Dramas gehört zum eisernen Bestand des Wissens-Inventars eines gebildeten Menschen; und schon die Schule legt den Grund dazu. Aber wie viele haben ein geschultes Urteil über die Bedeutung der wesentlichen Romanerscheinungen? Wir forschen nach der Ursache dieses merkwürdigen Kontrastes zwischen der ungeheuren Nachfrage nach dem Roman selbst und der geringen Neigung, sich wissenschaftlich mit ihm zu befassen. Es gibt nur eine Erklärung: ~man unterschätzt den Roman~. Das ist ja psychologisch zu verstehen. Für unendlich viele ist er nichts als ein Mittel zur Vertreibung der Langeweile. Sie verlangen nichts anderes von ihm, als daß er sie unterhalte. Sie wählen daher aus dem Leichten das Leichteste. Unreife Geister suchen in ihm ein Mittel pikanten Genusses. Stunden, die für harte Pflichten bestimmt sind, werden der Lektüre geopfert. So verbindet sich für nicht wenige Leser mit dem Begriff Roman so etwas wie schlechtes Gewissen. Und das beeinflußt wieder das Urteil über den Roman selbst. Aber was hat der Roman als Literaturgattung damit zu schaffen, wenn ihn Unreife als Weg zum falschen Zweck gebrauchen? Wenn sie das Seichte aus seinen Schätzen heraussuchen und das Gehaltvolle liegen lassen? Schon um des unermeßlichen Einflusses willen, den er auf breite Schichten übt, ist der Roman aller Beachtung wert. Aber auch nach seinem Eigenwert steht er nicht zurück. Er ist anerkannt als ~vollberechtigtes Glied der epischen Dichtung~. Man streitet darüber, ob die Prosaform zu seinem Wesen gehöre oder nicht. Nun, es gibt Romane in Versform. Was sind jene Gedichte der höfischen Zeit des 12. Jahrhunderts mit ihren Heldenpaaren Floris und Blancheflur, Tristan und Isolde, dazu jene Erzählung vom Grafen Rudolf, der in den Kreuzzug geht, anderes, als Liebesromane nach französischem Muster? Aber trotzdem wird freilich festzuhalten sein, daß die Prosaform die für den Roman normale, ja für den ausgebildeten Roman einzig mögliche ist. In seinem Werte verliert er dadurch nicht; denn die Prosa ist Kunstform, gerade so gut wie der Vers. Was aber dem Roman seine ganz besondere Bedeutung verleiht, das ist gerade ~seine Eigenart innerhalb des Gebietes der epischen Dichtung~. Haben Sie schon einmal versucht, mit kurzen Worten das Wesen des Romans zu bestimmen? Nun, jedenfalls schwebt uns allen eine Art Definition des Romans vor: wir denken ihn als ~komplizierte Erzählung~. Kompliziert ist er nach Form und Inhalt: das scheidet ihn von der einfachen, schlichten ~Erzählung~, von der kunstvollen, aber knappen, nur einem Faden der Entwickelung folgenden ~Novelle~. Komplizierte Erzählung muß er sein, nicht etwa um der erhöhten Spannung willen, sondern weil er nur so seiner Aufgabe genügen kann. ~Diese Aufgabe aber ist, ein Stück Weltbild zu geben~, sei es in engerem oder in weiterem Rahmen. +Nil humani a me alienum puto+, sagt der Roman. Nichts Menschliches ist ihm fremd. Was das Getriebe der Welt ausmacht, was der Zeit ihr Gepräge gibt, die geschichtlichen Verhältnisse, die Kulturzustände, die gesellschaftliche Gliederung, die inneren bewegenden Fragen, die gesamte Weltanschauung, vor allem die Menschen, die in all diesen Verhältnissen mitten darin stehen, sie bestimmend und doch wieder durch sie bestimmt, -- das alles gehört zum Apparat des Romans. Ein Weltbild gibt der Roman; darum kann er nie zeitlos sein, wie denn auch die Menschen nie zeitlos sind. Darum steht er in so engem Verhältnis zur Wirklichkeit; Roman einerseits -- Märchen, Sage, Phantasie andererseits sind Gegensätze wie Feuer und Wasser. Er kann aus dem Weltbild, das er zeichnet, je nach Absicht recht verschiedene Züge vorzugsweise herausarbeiten -- entweder mehr die innere Entwickelung der handelnden Personen oder mehr das Milieu, in dem die Menschen stehen. Er kann mehr Geschichte oder mehr Kultur oder mehr Weltanschauung geben -- je nachdem. Aber er muß immer konkret sein in der Gestaltung, klar und scharf in der psychologischen Erfassung, fein und wahr in der Verknüpfung aller in sein Gebiet gehörenden Elemente. Er kann ein Weltbild der Vergangenheit darzustellen suchen, dann wird er zum historischen Roman. Oder er kann der Gegenwart den Puls fühlen. Ja, wenn er will, kann er tastend in die Zukunft greifen; freilich nicht ohne die akute Gefahr einer Grenzüberschreitung. Denn über das, was einst wirklich sein wird, haben wir im besten Fall begründete Vermutungen. Ob er in Vergangenheit oder Gegenwart weilt, -- es steht ihm jedesmal frei, auf das äußere oder das innere Leben den Hauptakzent zu legen. Nur wird der historische Roman immer auch die äußeren Konturen der Zeitverhältnisse breiter schildern müssen als der moderne Roman, der vieles als bekannt voraussetzen kann. Auch nach der Methode, wie der Dichter seinen Gegenstand behandelt, müssen wir Unterschiede machen. Der eine schließt in zartem Empfinden von der Erzählung manches aus, was auch im Leben mit einem Schleier bedeckt zu werden pflegt; der andere steigt in die Tiefe und malt schonungslos und rücksichtslos Häßliches so gut wie Schönes, ja das Häßliche vielleicht mit noch größerer Liebe. Und wiederum: während mancher Roman nichts will als schildern, nichts als photographieren, legen andere in ihr Bild der Wirklichkeit Gedanken und Tendenzen hinein -- politische, religiöse, sittliche. Sie zeichnen im Ausschnitt ein Stück Welt, auf dem sich gerade ein Problem zusammenballt, das seiner Lösung harrt; und sie geben solche Lösung oder predigen resignierten Verzicht auf solche Lösung. In all diesem aber gilt, welcher Art der Roman auch sei, ob welthistorisch, kulturhistorisch oder modern durch und durch, -- ob idealistisch oder naturalistisch, -- ob er mehr äußeres oder mehr inneres Erleben bringe, -- ob er den Knoten im äußeren Laufe der Dinge sich schürzen läßt oder ob er Probleme der Weltanschauung wälzt, -- in alledem gilt, daß der Roman ~von der wirklichen Welt nicht loskommen kann und nicht loskommen darf~. Ein wirkliches Weltbild zu geben ist seine Aufgabe. Und diese Aufgabe gibt ihm einen hohen Wert. Nicht ~allein~ nach dem Grad, in welchem er dieser Aufgabe genügt, bestimmt sich seine Qualität; denn auch die künstlerische oder unkünstlerische Form hat da mitzusprechen. Aber vornehmlich ist es der Maßstab der Wirklichkeit, der an den Roman anzulegen ist. Der Wert aber, den er so gewinnt, besteht in der Kraft, mit der er den Blick schärft, in der weiten Umschau, die er über den eigenen engen Gesichtskreis hinaus dem Leser ermöglicht, in der Energie, mit welcher er zwingt, Fragen zu durchdenken, die sonst undurchdacht bleiben würden, endlich in der feinen, festhaltenden Form, in welcher er all dies vermittelt. Ich brauche nicht erst zu erklären, daß es auch wertlose Romane gibt. Aus der Charakteristik des Romans, die ich zu bieten versuchte, erhellt das ganz von selbst. Ein Roman, der seiner ganzen Art nach nichts anderes kann, als Spannung der Nerven erzielen, ist wertlos. Aber man pflegt ja auch den Wert des lyrischen Gedichts nicht nach den Ergüssen der Friderike Kempner zu beurteilen. Also schätze man den Roman nicht ein nach dem platten Liebesroman, in dem sie sich schließlich aus alle Fälle kriegen, auch nicht nach dem pikant-lüsternen oder naturalistisch-frivolen Unterhaltungsroman und erst recht nicht nach dem haarsträubenden Hintertreppenroman! ~Der wirkliche Roman, der sich zur Aufgabe setzt, in möglichst vollendeter Darstellung ein Weltbild zu geben, ist jedenfalls als ein Bildungsmittel ersten Ranges zu werten.~ Aus der Vorgeschichte des modernen Romans. Man hat dem 19. Jahrhundert tausend Titel gegeben, um seine neuen Errungenschaften anzudeuten. Es ist das Jahrhundert der Technik, das Jahrhundert der Naturwissenschaften. Aber es ist auch das Jahrhundert des Romans, dieses so beschriebenen Romans. Freilich die Anfänge des Romans, ja eine Art Vorblüte desselben sind schon älteren Datums. Was ists, das in mittelalterlicher Zeit Singen und Sagen des deutschen Volkes regiert? Ritterliches Wesen, kraftvolles Heldentum, ruhmreiche Taten beherrschen die Phantasie. Wer wagt es, von Bürgerleben oder harter Bauernarbeit viel zu reden? Rittertum, etwa noch mit Weisheit verbunden, füllt mit seinem Glanze die Welt. Dies Weltbild reflektiert sich in jenem ältesten poetischen Roman unserer Literatur, den ein Mönch, dessen Namen wir nicht kennen, etwa um die Mitte des 11. Jahrhunderts im bayrischen Kloster Tegernsee geschrieben hat. Noch kleidet sich seine Dichtung in das fremdländische Gewand lateinischer Hexameter. Aber der Held ~Ruodlieb~ ist ein deutscher Ritter. Ein König, in dessen Heer er große Taten getan, gibt ihm zwölf Weisheitslehren; und Ruodlieb hat sie im Lauf der Erzählung wahrscheinlich alle zwölf selbst erprobt; -- sicher ist es nicht, weil nur Bruchstücke des Werkes auf uns gekommen sind. Lange bleibt Ruodlieb in seiner Art allein; aber als dann ähnliche Schöpfungen zahlreicher erwachsen, ist es noch immer das Rittertum, welches die Situation beherrscht. Freilich nicht mehr allein das ritterliche Heldentum, sondern zugleich die ritterliche Liebe. Kreuzzugsabenteuer spiegeln sich wieder in den deutschen Versen von ~Floris und Blancheflur~. Der heidnische Königssohn Floris entbrennt in Liebe zu Blancheflur, der Tochter eines christlichen Kriegsgefangenen. Blancheflur wird in ein anderes Land verkauft; Floris sucht und findet sie bei einem Fürsten der Sarazenen. Er weiß in den Turm zu gelangen, in dem sie gefangen gehalten wird, und erfreut sich ihrer Liebe bis -- zum Tag der Entdeckung. Ihre treue Liebe siegt auch über den Grimm des Fürsten, der sie vereint zur Heimat ziehen läßt. Dies Liebespaar, in deutschen Versen besungen, ist typisch für jene Zeit und für zahlreiche andere ähnlich gefeierte Paare. ~Tristan und Isolde~ werden von Eilhart von Oberge, in vollendeter Gestalt von Gottfried von Straßburg besungen. Was für ein Bild jener suchenden und fragenden, religiös-ernsten und zugleich naiv-heldenmäßigen Ritterzeit gibt Wolfram von Eschenbachs berühmter ~Parzival~! Die Wandlung der Zeiten läßt sich trefflich in den Wandlungen der romanartigen Dichtung verfolgen. Das Rittertum tritt zurück; aber die naive Freude am Äußerlich-Großen und Wunderbaren nicht. Freilich, man zehrt im 14. und 15. Jahrhundert von der Vergangenheit; noch ist das Neue nicht in klarem Werden. Diese Epoche ist die Zeit der sogenannten »~Volksbücher~«. Die Stoffe der höfischen Epen verarbeiten sie in ungebundener Rede, aber auch andere Gegenstände ziehen sie herbei, -- freilich mehr neue Namen als neue Gedanken. Sie greifen, um ihre Helden zu wählen, in die fernste Vergangenheit zurück, bis in die Zeiten des trojanischen Kriegs oder Alexanders des Großen. Aber sie verschmähen zum gleichen Zweck auch nicht die Gestalten der Karolingerzeit; und schließlich fehlen Helden wie Fortunatus mit seinem Glückssäckel nicht. Wunderbare Taten gewaltiger Männer, traurige und fröhliche Schicksale tugendhafter Frauen werden immer wieder behandelt. Alles in allem kein Fortschritt, vor allem nicht in der Schärfe der Zeichnung des gegenwärtigen Weltbildes; eher verflacht der Roman, weil die Neigung zum Abenteuerlichen die zum Wirklichen überwiegt. Das Bürgertum tritt mit dem ausgehenden Mittelalter viel stärker hervor als je zuvor. Erst fühlt es sich noch in der Notwendigkeit, den eigenen Wert und die eigene Geltung gegenüber den Ritterbürtigen zu erzwingen. Aber bald wird es zum ausschlaggebenden Faktor. So lassen denn die Romane des Reformationszeitalters -- genannt seien vor allem die des ~Jörg Wickram~ -- jene Kluft zwischen Rittertum und Bürgertum noch hervortreten; aber die Liebenden pflegen, wenn Standesunterschiede sie trennen, eben diese Kluft glücklich zu überwinden. Und in manchem Roman dieser Zeit hat das Bürgertum allein die führende Rolle! Neue Gegenstände gewinnt so die Dichtung: bürgerliches Familienleben, Schule und Beamtenlaufbahn, des Kaufmannsstandes Leiden und Freuden. Eine neue Betrachtungsweise beherrscht sie: diejenige der gutbürgerlichen Moral, deren höchste Kleinodien eine glückliche Ehe, sorgsame Kindererziehung und gute Nachbarschaft sind. Auch diese Art hat mannigfache Spielarten: neben Jörg Wickram steht der Straßburger ~Johann Fischart~ mit seiner humoristisch-satirischen Kraft, seinem deutsch-patriotischen Sinn und seiner urwüchsig originalen Art, fremdländische, namentlich französische Stoffe selbständig zu verarbeiten. Von seinen Schöpfungen sei wenigstens das humoristische Prosawerk genannt, welches Rabelais' Gargantua und Pantagruel zum Vorbild hat. Das leidvolle 17. Jahrhundert weist wohl auch eine Romandichtung auf, die ernst und klar in die schweren Zeiten hineinschaut: der ~Simplizissimus~ von Grimmelshausen ist zugleich ein Kind und ein Bild jener Zeit. Aber sonst gewinnt es den Anschein, als wolle die Dichtkunst die lastentragenden Zeitgenossen vor allem aus ihrer eigenen harten Zeit herausführen. Die ungeheuerlichen Fabelgeschichten, welche das Gerippe der erzählenden Prosaschöpfungen bilden, das sich breitmachende und im Roman an den Mann gebrachte ethnographische Wissen, die gelehrte Umständlichkeit, mit der französische Galanterie sich merkwürdig paart, -- das alles zeigt dem forschenden Leser freilich doch das Wesen der Zeit, in der jene Romanschreiber lebten. Und wie prägt sich erst die ganz besondere Art des Jahrhunderts der Aufklärung in der weitverästeten Romanliteratur desselben aus! Der Blick weitet sich; neue soziale und kulturelle Probleme tun sich auf. Robinson Krusoe kommt diesem Ausbreitungstrieb entgegen; der ~Reiseroman~ fängt an, das Feld zu beherrschen. Aber mit wieviel moralischer Lehrhaftigkeit und kleinkrämerischem Wissensdünkel verbindet sich in dem philosophischen Jahrhundert das Ahnen der neuen Zeit! Wie sehr verdrängt die Künstelei die einfache, klare Nüchternheit, die Reflexion die Natur, die Empfindelei das schlichte Gefühl! Es war ein Jahrhundert, das in Empfindungen und Gefühlen, in Gedanken und Philosophemen, in Theorien und Plänen schwelgte. Der Roman bildet ein Ragout aus allen diesen Zutaten; und die Moral ist die keineswegs immer schmackhafte Sauce, mit der er angerührt ist. Wir sind kaum imstande, von diesem Roman aus eine gerade Verbindungslinie nach dem modernen Roman des 19. Jahrhunderts zu ziehen. Zum mindesten gilt das vom Durchschnittsroman der Aufklärungszeit. Aber es gilt doch zu einem großen Teile auch noch von den Romanen des gefeierten ~Wieland~. Den Pulsschlag der neuen Zeit spüren wir frisch und lebenskräftig erst bei Goethe. Allerdings, ein Literaturhistoriker wie Max Koch läßt den neueren deutschen Roman von Wieland ausgehen. Ein solches Urteil respektieren wir, zumal wenn es sich mit Lessing verbündet, der Wielands Roman »Agathon« als »den ersten und einzigen deutschen Roman für den denkenden Kopf von klassischem Geschmacke« bezeichnet hat. In ~einer~ Hinsicht fällt es auch dem Modernen nicht schwer, dies Urteil zu unterschreiben. Der »Agathon« ist wirklich ein Roman für den ~denkenden~ Kopf. Das dritte Buch gibt ja eine vollkommene »Darstellung der Philosophie des Hippias.« Es ist die Philosophie des »echten Materialisten«, die Lehre vom skrupellosen Genuß, die hier in nicht weniger als fünf Kapiteln ausführlich dargelegt wird. Und diese Theorie des Materialismus bildet nicht etwa einen Fremdkörper in dem Roman; im Gegenteil, sie dient als notwendiges Glied dem einen Zweck, der Erziehung des Agathon durch alle Lebenslagen hindurch, bis er zu der gefestigten Erkenntnis kommt, daß »wahre Aufklärung zu moralischer Besserung das einzige ist, woraus sich die Hoffnung besserer Zeiten, das ist, besserer Menschen, gründet.« Zu denken also ist hier genug; es fragt sich nur, ob die Philosophie nicht in zu reichlicher Dosis gegeben ist, -- reichlicher, als es sich für den Romancharakter schicken will. In der Tat liegt in der ziemlich äußerlichen Verbindung von Handlung und Lehre der Hauptfehler des »Agathon«. Er ist eine lange und breite moralische Erzählung, aber kein Roman. Eine Anhäufung einzelner moralischer Geschichten und Lebensläufe (des Agathon, der Danae) bringt noch keine in sich geschlossene Handlung heraus. Und schließlich leidet Handlung wie Moral unter der Einkleidung ins Gewand des griechischen Altertums. Da mögen sich sehr feine Parallelen ergeben, und mancher Vergleich reizt den geistreichen Schriftsteller. Aber durch die Vermischung moderner Abzweckung und antiker Einkleidung fällt doch auch die Möglichkeit dahin, mit der Wirklichkeit Ernst zu machen. Es kommt nicht zu tiefgreifender psychologischer Erfassung; die Erzählung bleibt im oberflächlichen moralischen Schema, das ein paar unmoralische Zwischenstadien übrigens nicht ausschließt. Das Ganze wird schemenhaft, aber nicht lebensvoll. Wieland verstand es nicht, volles Menschenleben zu greifen; er blieb in philosophischen Kategorien stecken. Und darum geht der neuere deutsche Roman trotz allem nicht von Wieland aus. Sein Schöpfer ist Goethe. [Illustration] Goethe der Schöpfer des modernen deutschen Romans. Wodurch ist Goethe der Schöpfer des modernen deutschen Romans geworden? Durch »Werthers Leiden«, durch »Wilhelm Meisters Lehrjahre« und durch desselben »Wanderjahre« oder durch die »Wahlverwandtschaften«? -- Durch keins dieser Werke allein, aber durch sie alle zusammen. Merkwürdig, wie verschieden unter sich diese Prosadichtungen des Meisters sind! Da ist keine Schablone und kein Schema. Da ist jedesmal aufs neue frisches Leben. Da ist lebendige Entwickelung von Werk zu Werk, Entwicklung in Sprache und Gedanken. Die »~Leiden des jungen Werthers~« sind der einzige Roman des 18. Jahrhunderts, der heute noch gelesen wird. Das Neue in ihm hat das Alte vergessen lassen. Auch aus dem Werther redet ja der empfindsame Geist der Aufklärungsepoche. Der »Held«, dieser leidende Werther, hat eigentlich unendlich wenig Männliches. Es geht ihm wie den Schiffen im Märchen vom Magnetberg, dessen er selbst sich entsinnt. »Die Schiffe, die zu nahe kamen, wurden auf einmal alles Eisenwerks beraubt, die Nägel flogen dem Berge zu, und die armen Elenden scheiterten zwischen den übereinander stürzenden Brettern.« Lotte ist der Magnet, der das letzte Bischen Kraft aus dem liebenden Werther zieht. Der Freund rät: »Suche einer elenden Empfindung los zu werden, die alle deine Kräfte verzehren muß!« Aber das Übel hat ihm die Kräfte schon verzehrt. Was für ein haltloses Klagen und Zagen! Wieviel Tränen und Kniefälle! Wie lang gesponnene Ergüsse! Die Leidenschaft ist als schwere Krankheit geschildert: »Die menschliche Natur ... hat ihre Grenzen; sie kann Freude, Leid, Schmerzen bis auf einen gewissen Grad ertragen und geht zugrunde, sobald ~der~ überstiegen ist. Hier ist also nicht die Frage, ob einer schwach oder stark ist? sondern ob er das Maß seines Leidens ausdauern kann.« Und diese Krankheitsgeschichte ist noch dazu breit erzählt; Gespräche, Reflexionen, Schilderungen, die nur lose zur Sache selber gehören, sind eingestreut. Vor allem aber: es ist fast nichts als eben Krankheitsgeschichte. Wie wenig plastisch treten die Menschen hervor, die neben dem Helden ein bischen mithandeln! Jene Hofgesellschaft wird freilich beschrieben, die Menschen, deren ganze Seele auf dem Zeremoniell ruht, deren Dichten und Trachten jahrelang dahin geht, »wie sie um einen Stuhl weiter hinauf bei Tische sich einschieben wollen.« Jener Graf wird gezeichnet, -- der edle, feingebildete Mann der wirklich großen Welt. Aber das sind Beigaben; die Welt des Romans ist eng; sie beschränkt sich im letzten Grund auf das Herz des Liebeskranken. Aber all dies Alte tritt in den Hintergrund gegenüber dem Neuen. Und dies Neue ist die trotz alledem ~packende und einheitlich klare Zeichnung des Innenlebens eines Liebenden~. Wir mögen im einzelnen hunderterlei einzuwenden haben, mancher Leser wird sicher ganze Seiten überschlagen; -- das Ganze faßt uns immer wieder an. Und nicht bloß, weil es den Sentimentalen genugtut und die Seele mit üppigem Mitleid füllt. Nicht bloß, weil der schaurige Ausgang, wunderbar knapp, wie er beschrieben ist, uns mit Grausen erfüllt. Sondern den Ausschlag gibt etwas anderes. Goethe hat es selber später gesagt: »Gehindertes Glück, gehemmte Tätigkeit, unbefriedigte Wünsche sind nicht Gebrechen einer besonderen Zeit, sondern jedes einzelnen Menschen, und es müßte schlimm sein, wenn nicht ~jeder einmal in seinem Leben eine Epoche haben sollte, wo ihm der Werther vorkäme, als wäre er bloß für ihn geschrieben~.« Ich glaube ja, daß es nicht die Schilderung von gehemmtem Glück und unbefriedigten Wünschen im allgemeinen ist, welche immer wieder neue Leser im Werther sich selber finden läßt. Im Roman sind diese unbefriedigten Wünsche doch sehr konkret in einen einzigen zusammengefaßt: in das leidenschaftliche Begehren des Mannes nach dem Weib seiner Liebe. Freilich seufzt Werther, nachdem der Anlauf zu amtlicher Tätigkeit fehlgeschlagen: »Damals sehnte ich mich in glücklicher Unwissenheit hinaus in die unbekannte Welt, wo ich für mein Herz so viele Nahrung, so vielen Genuß hoffte, meinen strebenden, sehnenden Busen auszufüllen und zu befriedigen. Jetzt komme ich zurück aus der weiten Welt -- o mein Freund! mit wie viel fehlgeschlagenen Hoffnungen, mit wie viel zerstörten Plänen!« Aber auch dies Intermezzo der amtlichen Tätigkeit wirkt erst dadurch, daß es die große Leidenschaft zum Hintergrund hat. Im übrigen trifft es gewiß zu: es hat mancher seine Zeit im Leben, wo es ihm vorkommt, als sei der Werther nur für ihn geschrieben. Gerade die unglückliche, aussichtslose Leidenschaft mit ihren feinen Konsequenzen, mit ihren unsinnigen und doch von dem einen Mittelpunkt her völlig verständlichen Äußerungen ist aus der Seele nicht ~eines~ Menschen, sondern der Menschheit heraus geschildert. Wer aber auch jene Zutaten mitwägt, jene uns fremd anmutenden Besonderheiten, der muß zugeben, daß dies ~Allgemein-Menschliche zugleich mit den charakteristischen Farben einer bestimmten Zeit geschildert~ ist. Und unter diesem Gesichtspunkt wird auch das wertvoll, was sonst beiseite bliebe: jene Neigung, den herrschenden Begriffen über Sitte und Recht den Krieg zu erklären, die Sünden in Schutz zu nehmen, welche die herkömmliche Moral verurteilt. In der Empörung der Leidenschaft gegen die nüchterne Urteilsweise der »vernünftigen Leute« nimmt Werther in Schutz, was sonst überall verurteilt wird: den Dieb, welcher stiehlt, um sich und die Seinigen vom Hungertod zu erretten, den Ehemann, der im gerechten Zorn sein untreues Weib und deren Verführer aufopfert, den Unglücklichen, der sich entschließt, die sonst angenehme Bürde des Lebens abzuwerfen. Mit dieser leidenschaftlichen Auflehnung gegen die geltende Moral verbindet sich eine herbe Kritik der »fatalen bürgerlichen Verhältnisse«, der Art, wie der Unterschied der Stände betont wird, der Hohlheit und Umständlichkeit des Amtsverkehrs und der Regierungsmaschinerie. Nicht bloß die unbändige Leidenschaft spricht, sondern zugleich die revolutionäre neue Zeit. Ist der »Werther« alles in allem die Geschichte einer Leidenschaft, so sind »~Wilhelm Meisters Lehrjahre~« die Geschichte der Bildung ihres Helden, -- Bildung im weitesten Sinne genommen. Im Werther alles Gefühl, alles Empfindung, alles Leidenschaft; im Wilhelm Meister alles Überlegung, alles Gedanke, alles Berechnung. Grundverschieden sind beide Schöpfungen; aber jede traf eine Saite in dem Herzen der Menschheit des 18. Jahrhunderts. Denn die Erziehung durch das Leben, wie die Fragen der Erziehung überhaupt, gehörte zum eisernen Bestand des Nachdenkens der damaligen aufgeklärten Welt. Haben Sie Wilhelm Meister auch nur in den Lehrjahren einmal ganz gelesen? Es ist das nicht jedermanns Sache. Es verlangt Energie und Beharrlichkeit. Und das liegt nicht bloß an der Wucht der Gedanken. Seitenweise sind Sentenzen zusammengestellt, deren jede einzelne angespanntestes Nachdenken fordert. Es liegt aber auch an der Form und der Einkleidung des Romans. Gestehen wir es uns doch offen, daß die geringfügige, magere Handlung unter den unzähligen eingeschobenen Reflexionen fast erstickt. Da finden sich ausgesponnene Selbstschilderungen wie die »Bekenntnisse einer schönen Seele«, da breit wiedergegebene Unterhaltungen, die lediglich eine bestimmte Ansicht entwickeln sollen, ob sie auch für den Gang des Ganzen wenig oder nichts bedeute, da jene Sammlungen tiefsinniger Aussprüche, die so ziemlich alle Lebensfragen in ihren Bereich ziehen. Das Bischen Handlung, das wir herausschälen, ist wieder noch unendlich verzettelt, dazu manchmal mehr als zufällig aufgereiht, ganz ohne notwendigen äußeren Zusammenhang. Wilhelm Meister, eines Kaufmanns Sohn, geht auf Geschäftsreisen aus, verliert aber den eigentlichen Zweck seiner Sendung ganz aus dem Auge und läßt sich erst fast willenlos, nachher halb absichtlich, von Erlebnis zu Erlebnis, von Abenteuer zu Abenteuer, von Bekanntschaft zu Bekanntschaft, von Ort zu Ort treiben. Erst bildet seine Umgebung eine Schauspielertruppe mit mannigfachen und wechselnden Gestalten; dazu die geheimnisvollen Erscheinungen Mignons und des alten Harfners. Neben seiner ersten Angebeteten, Marianne, und neben der leichtfertigen Philine lernt er in Aurelie eine leidvoll-ernste Frau kennen; und die ganz ohne äußeren Zusammenhang eingeschalteten »Bekenntnisse einer schönen Seele« lassen ihn in ein innig frommes, fast skrupulös gewissenhaftes Herz blicken. Allerhand sonderbare Geschicke führen ihn in ein gräfliches Haus und später für länger in adlige Kreise, zugleich zu einer großen Zahl neuer, für ihn bedeutungsvoller Persönlichkeiten. In dieser Umgebung gewinnt er endlich eine Lebensgefährtin in der zu diesen Kreisen gehörigen Natalie. Es ist nicht leicht, das Wirrwarr all dieser Erlebnisse zu sichten. Das Ergebnis ist ja auch kein befriedigendes: äußerlich genommen ists ein Labyrinth, durch das Goethe uns führt. Keine klare Entwickelung, kein straffer Gang der Erzählung. Allerdings soll nach des Dichters Absicht dies alles doch nicht wie zufällig sein. Vielmehr ist eine geheimnisvolle Macht mit im Spiele, die sogenannte Gesellschaft des Turms, die an dem Helden Interesse genommen hat und deren Glieder je und je in bedeutungsvollen Augenblicken, meist als Größe X, in sein Leben eingegriffen haben. Ihr Zweck war seine Bildung. Sie haben ihre Absicht aber so verfolgt, wie der Grundsatz es eingab: »Nicht vor Irrtum zu bewahren ist die Pflicht des Menschenerziehers, sondern den Irrenden zu leiten, ja ihn seinen Irrtum aus vollen Bechern ausschlürfen zu lassen, das ist Weisheit der Lehrer. Wer seinen Irrtum nur kostet, hält lange damit Haus, er freuet sich dessen als eines seltenen Glücks; aber wer ihn ganz erschöpft, der muß ihn kennen lernen, wenn er nicht wahnsinnig ist.« Uns Heutigen kommt, wenn wir Wilhelm Meisters Irrwege betrachten, nicht bloß die Frage, die ihm selber sich auf die Lippen drängt: »Wenn so viele Menschen an dir teilnahmen, deinen Lebensweg kannten und wußten, was darauf zu tun sei, warum führten sie dich nicht strenger? warum nicht ernster? warum begünstigten sie deine Spiele, anstatt dich davon wegzuführen?«, sondern uns erscheint dieses ganze geheimnisvolle Walten der Gesellschaft vom Turm als in hohem Grade sonderbar. Goethe hat damit eine Einkleidung des Romans gewählt, die seiner Zeit nahe lag und vertraut war, die aber zu dem Gut seiner Zeit gehörte, das am schnellsten veralten mußte. Jedenfalls bringt uns diese die Vorsehung spielende Gesellschaft den Roman nicht näher. Wenn Wilhelm Meisters Lehrjahre trotzdem einen hohen Wert als Fundamentstein für den Bau des modernen deutschen Romans beanspruchen können, so danken sie das dem tiefen und reichen Gedankenmaterial, welches sie bergen. Wilhelm Meisters ~Bildungsgang~ ist ihr Thema. Alles Einzelne, was er erlebt, auch jeder Irrtum, den er begeht, dient seiner Bildung. In der Schauspielerzeit lernt er: »Man soll sich vor einem Talente hüten, das man in Vollkommenheit auszuüben nicht Hoffnung hat.« Aber er trägt auch anderen Gewinn davon. Er hat gelernt die Menschen kennen, zu denen man Zutrauen haben kann. Auch äußerlich hat er sich ausgebildet: er hat »viel von seiner gewöhnlichen Verlegenheit abgelegt«, seine Sprache und Stimme ausgebildet. Aber sein Bildungstrieb geht weiter. Ihm schwebt jene »harmonische Ausbildung« vor, die ihm seine Geburt versagt zu haben scheint, weil sie nach der herrschenden Verfassung der Gesellschaft nur dem Edelmann, nicht dem Bürger zukommt. »Ein Bürger kann sich Verdienst erwerben und zur höchsten Not seinen Geist ausbilden; seine Persönlichkeit geht aber verloren, er mag sich stellen wie er will.« Dem Edelmann dagegen ist eine gewisse allgemeine, personelle Ausbildung möglich; »er darf überall vorwärts dringen, anstatt daß dem Bürger nichts besser ansteht, als das reine, stille Gefühl der Grenzlinie, die ihm gezogen ist.« Goethe läßt seinen Helden durch den Umgang mit jenen Adelskreisen, schließlich durch die Heirat mit einer Adligen in dieses Sperrgebiet harmonischer Ausbildung eindringen. So gewinnt der Roman zugleich soziale Bedeutung; der dritte Stand, der sich in der französischen Revolution so nachdrücklich in die Weltgeschichte eingeführt hatte, pocht mit starker Hand an die ihm bisher verschlossenen Pforten. Goethe öffnet ihm das Paradies der Bildung; und in der schließlichen engen Verbindung des Bürgers- und des Adelsstandes, einer Verbindung, die noch durch zwei andere Ehebündnisse dokumentiert wird, läßt er in prophetischer Voraussicht Schranken fallen, die vielen dazumal noch als unüberwindlich galten. Neben diesen Grundgedanken ist in dem breiten Gedankenstrom der Lehrjahre noch manches Tiefe und Wertvolle auf uns gekommen, teils in engerem, teils in loserem Zusammenhang mit der Hauptidee. Ich schätze diesen Reichtum des Werkes höher als etwa die Art seiner Charakterschilderung. So sehr die bunte Reihe kaleidoskopartig auftauchender und wieder verschwindender Figuren benützt wird, um Wilhelm Meister zu bilden, -- klar und scharf herausgearbeitet sind die wenigsten von ihnen. Ja es zeigt sich gerade in diesen Gestalten ein ganz eigentümlicher Mangel an konkreter Darstellung. Mehr als eine von ihnen ist sozusagen ohne Zusammenhang mit der umgebenden Welt. Ihr Wesen wird nur in ein paar wichtigen Zügen der inneren Art gezeichnet; alles andere bleibt im Dunkel. Der Mensch kann aber nicht ortlos, zeitlos, geschichtslos geschildert werden. Infolgedessen bleiben manche der Goetheschen Personen geradezu Gerüste, die mit ein paar gerade erforderlichen Eigenschaften behängt sind. Die Methode der Namengebung paßt ganz zu diesem Verfahren. Da kommt der Graf, der Prinz, der Marchese; wo aber wirklich ein bestimmter Name einem bestimmten Träger gegeben wird, bleibt es für gewöhnlich beim Vornamen: Lothario, Friedrich, Marianne, Philine, Natalie usw. All dies hängt aufs engste mit der Art zusammen, wie Goethe im Wilhelm Meister bestimmte geschichtliche Einzeichnung in eine klar erkennbare Zeit vermeidet. Seine Zeit ist natürlich die Zeit des Romans. Manche Einzelheiten lassen das erkennen. Der prinzliche Heerführer ist z. B. Prinz Heinrich von Preußen. Aber das sind Einzelheiten; und auch sie geben nur zufällige Winke. Rings um die handelnden -- oder vielmehr meist nicht handelnden -- Personen brauen wallende Nebel, wogt ungewisses Dämmerlicht. Allenfalls die Theaterverhältnisse sind klarer beschrieben; aber auch hier ist die Zeichnung nicht scharf. Nur in Einem ist das Wesen der Zeit klar wiedergegeben: in Stimmungen und Gedanken über die innersten Fragen menschlicher Charakterentwickelung, wie das oben zu schildern versucht wurde. -- Ich darf »~Wilhelm Meisters Wanderjahre~« hierfüglich übergehen. Sie sind nichts als eine Folge von Novellen; der einheitliche Romancharakter fehlt ganz. Sie stehen noch viel mehr wie die Lehrjahre im Banne des reinen, abstrakten Gedankens; und noch viel stärker als in diesen verblaßt in den Wanderjahren alles Persönliche, alles Konkret-Zeitliche, alles Individuelle. Liebhaber tiefer und feiner Gedanken, die sich nicht scheuen, solche unter schwerverständlicher Symbolik mühsam zu ergründen, finden selbstverständlich auch hier ihre Rechnung. Aber ein Roman sind die Wanderjahre nicht. Dagegen muß an dritter Stelle hier die Rede sein von den Wahlverwandtschaften, -- ob man dies Werk nun als Novelle oder, wozu seine umfassende Anlage doch wohl berechtigt, als Roman bezeichnet. Auch die »~Wahlverwandtschaften~« zeigen, wieviel Goethe für die erzählende Prosadichtung der ~Gedanke~ bedeutete. Auch hier wieder die langen Unterhaltungen über allerhand allgemeine Gegenstände. Auch hier die eingestreuten Sentenzen, in Bündel gesammelt in den Abschnitten aus Ottiliens Tagebuche. Man hat den Eindruck, daß Goethe vielmehr daran lag, diese wertvollen Gedanken und feinen Aperçus unterzubringen, als eine bestimmte Handlung einheitlich und geschlossen durchzuführen. Auch hier wieder jene undeutliche Umzeichnung des Erzählungsgebiets, jene Zeit- und Geschichtslosigkeit des Ganzen. Eduard ist ein reicher Baron. Aber wann? Und wo? Eduard zieht in den Krieg. Aber in welchen? Endlich auch hier jene Unpersönlichkeit mancher Persönlichkeiten, z. B. des lediglich nach seiner Vermittelungsleidenschaft benannten Mittler, aber auch anderer: des Grafen, der Baronesse, ja bis zu einem gewissen Grade selbst der Hauptpersonen. Auf der anderen Seite aber stehen für den Roman doch nicht bloß eine große Zahl feiner Einzelgedanken und tiefsinniger Gespräche, auch nicht allein die viel stärker hervortretende Kunst in der Charakterisierung der wichtigsten Personen. Äußerlich genommen, fehlt, wie angedeutet, manches, um sie zu klar umrissenen Persönlichkeiten zu machen; aber ihr Inneres ist mit ganz anderer Kraft und Liebe gezeichnet, als das von den Personen im Wilhelm Meister gelten konnte. Genannt sei nur Ottilie, die mit feinster Seelenkunde und mit wunderbarer Liebe geschildert ist. Wichtiger aber noch ist mir an den »Wahlverwandtschaften«, wie in ihnen ~Gedanke und Handlung zu einem Ganzen verschmolzen sind~. Die Handlung ist nicht mehr die Gelegenheit, eine Reihe von Gedanken, die man sonst nicht gut plazieren kann, auf gute Manier loszuwerden; sondern sie ist die Durchführung des Gedankens selbst. Die Gedanken gehen nicht mehr neben der Entwickelung her, sondern sie prägen sich in ihr aus. ~Die Handlung ist der Ausdruck des Gedankens, der Gedanke die Seele der Handlung.~ Damit ist der gewaltigste Schritt in der Entwickelung des Romans getan. Eduard und Charlotte, die sich erst in reiferem Alter, aber durchaus infolge von Neigung und Liebe zur Ehe verbunden, leben auf stattlichem Schlosse, beide mit der Absicht, allein für einander zu leben. Aber sie gewähren bald noch zwei Nahestehenden die Teilnahme an ihrer Häuslichkeit, dem Hauptmann und Ottilien. Charlotte hat dieser Gewährung nicht ohne Bedenken zugestimmt. Und in der Tat: es kommt hier mit den vier auf engem Raum vereinigten Menschen, wie es in der Chemie mit verwandten Substanzen zu geschehen pflegt. Da sind diejenigen Fälle des gegenseitigen Sichanziehens und Sichscheidens die merkwürdigsten, wo man das Anziehen, das Verwandtsein, dieses Verlassen, dieses Vereinigen gleichsam übers Kreuz wirklich darstellen kann, wo vier, bisher je zwei zu zwei verbundene Wesen, in Berührung gebracht, ihre bisherige Vereinigung verlassen und sich aufs neue verbinden. In diesem Fahrenlassen und Ergreifen, in diesem Fliehen und Suchen glaubt man wirklich eine höhere Bestimmung zu sehen; man traut solchen Wesen eine Art von Wollen und Wählen zu, und hält das Kunstwort Wahlverwandtschaften für vollkommen gerechtfertigt. Es kommt mir hier nicht darauf an, den Gang der Erzählung wiederzugeben; dazu sind Goethes Dichtungen zu allgemein bekannt. Nur das Problem, das der Roman behandelt, soll herausgestellt werden. Es geschieht, was in dieser Beschreibung des chemischen Prozesses angedeutet ist: Eduard faßt eine tiefe und erwiderte Neigung zu Ottilie; und Charlotte und der Hauptmann finden sich gleichfalls in gegenseitiger Liebe. Die weitere Entwickelung verläuft nicht ohne Berücksichtigung der Eigenart jeder in Betracht kommenden Person. Der Hauptmann und Charlotte wissen sich zu beherrschen; nicht ebenso Eduard und Ottilie. Eduard entbrennt zu heftiger, auch durch lange Entfernung nicht gemilderter Leidenschaft. Ottilie ihrerseits verzichtet erst, nachdem Eduards und Charlottes ihr anvertrautes Kind nicht ohne ihre Schuld den Tod gefunden hat, das Kind, das durch seine Gesichtszüge der Zeuge der Liebe ist, die jedes der Eltern, die ihm sein Leben gegeben, für einen andern als den Ehegatten gefühlt. Eduard, völlig haltlos seiner Leidenschaft hingegeben, geht an ihr zugrunde. Das Problem hat seine Lösung gefunden. Die Menschen haben Wahlverwandtschaft gefühlt, wie jene chemischen Substanzen sie haben. Aber sie haben sich nicht willenlos wie diese verhalten. Wenn auch durch unendlich viel Weh hindurch, -- die ursprüngliche, durch die Ehe gegebene Gemeinschaft ist aufrecht erhalten. Das ist die völlig einheitliche, in allen Verwickelungen klar durchgeführte Absicht: die Heiligkeit, die Unlösbarkeit der geschlossenen Ehe soll gezeigt werden. Und -- vom Wert dieser These hier gar nicht zu reden -- die Konsequenz, mit welcher dieses eine Thema behandelt wird, und zwar nicht nur disputatorisch und abstrakt, sondern wie die Geschehnisse selbst es behandeln, -- diese Art macht die Wahlverwandtschaften zum ersten Roman, der -- obschon mit manchen Schwächen -- der Idee des Romans voll entspricht. Sie gestaltet ihn zu einem einheitlichen, in der Handlung selbst und nach den scharf erfaßten Gesetzen seelischer Anlagen das Leben abbildenden und die Gedanken des Lebens wiedergebenden Kunstwerk. -- Lassen Sie mich, nachdem ich die drei Hauptwerke Goethes auf dem Gebiete der erzählenden Dichtung in Kürze gewürdigt habe, mit ein paar Sätzen zusammenfassend die ~Bedeutung Goethes für den modernen deutschen Roman~ skizzieren! Diese Bedeutung beruht ~zunächst~ auf der tiefen ~psychologischen Kraft~, mit welcher Goethe Menschen seiner Zeit erfaßt und dargestellt hat. Was seinen Romanen auch auf dem Gebiete der Psychologie Unbefriedigendes anhaftet, ist genügend erwähnt. Aber die Tatsache wird davon nicht berührt, daß ~er der Erste war, der es verstand, Menschen bis in die Tiefe der Seele zu schauen~. Was ist hier Wieland gegen Goethe? Ein Stümper gegenüber dem Meister. Wie bleibt bei Wieland, auch in seinem Agathon, jeder psychologische Ansatz auf der allerobersten Oberfläche! Und wie tief greift der Werther! Wie tief auch die Wahlverwandtschaften, ja in vielem auch Wilhelm Meister! Es bleibt ja dabei, daß wir auch von ihm keine allseitig ausgeführten, nach den mannigfachen Verzweigungen menschlicher Interessen hin weitergeführten Charakterbilder erhalten. Die psychologische Kraft konzentriert sich stets nur auf ein enges Gebiet: im »Werther« auf die wahnsinnige Leidenschaft des Mannes zum Weibe, im »Meister« auf das Streben eines glücklich beanlagten Bürgerlichen nach der harmonischen Ausbildung seiner ganzen Persönlichkeit, in den »Wahlverwandtschaften« auf die gegenseitigen Beziehungen der durch Ehe oder Wahlverwandtschaft mit einander verbundenen Personen. Aber in dieser Beschränkung bewundern wir den ungeheuren Reichtum, die fein pointierte Einzelkraft seiner psychologischen Wiedergabe. ~Zum andern~ muß trotz aller Einwendungen, die erhoben wurden, doch gelten, daß Goethe auch in der ~Art, wie seine Romane zum Zeitbild werden~, alle Vorgänger weit hinter sich gelassen hat. Allerdings, man wird es ja so, wie geschehen, formulieren müssen. Sie ~wollen~ kaum ein Zeitbild sein; sie ~werden~ es nur. Hätten sie es gewollt, sie würden den Leser ganz anders in die Welt Goethes eingeführt haben, als sie es tun. Goethe hat diese Aufgabe dem Roman nicht klar gestellt. Trotzdem hat er dieselbe wenigstens angefaßt. Wir sahen, wie der »Werther« in die sozialen und in die moralischen Stimmungen der Zeit hineinleuchtet. Wir sahen, wie »Wilhelm Meister« nicht etwa bloß die Theaterverhältnisse beschreibt, sondern wie er die gesamte aufstrebende Bildungssehnsucht des deutschen Bürgers samt den ihn begegnenden Hindernissen versinnbildlichte. Und auch die »Wahlverwandtschaften« lösen ein Zeitproblem: die Ehe und den Ehebruch. Und daß so nicht irgendwelche erkünstelte Altertümelei, sondern einfach das Wesen der Zeit seine Prosaschöpfungen beseelt, das hat ihnen weitreichende Wirkung verschafft. ~Endlich~ -- indem ich von der Fülle trefflicher Gedanken, welche Goethes Romane bergen, hier nicht nochmals besonders rede -- beruht Goethes Bedeutung für den modernen deutschen Roman auf der ~Kunst, mit welcher er durch die Entwickelung der Handlung selbst zu reden weiß~. Handlung ohne Gedanken hat auch der Schauerroman, Gedanken ohne Handlung bilden gar keinen Roman; und eine Handlung, in die Gedanken gesprächsweise lose eingefügt sind, schafft ein Zwitterwesen, aber kein Kunstwerk. Der »Werther« und vor allem die »Wahlverwandtschaften« haben alle diese Klippen -- im ganzen genommen -- überwunden. Hier haben die Handlungen selber Gedanken. Und indem die Handlung zugleich den Gesetzen des psychologischen Geschehens folgt, verlieren auch die Gedanken den Charakter des Zufällig-Herangebrachten. Hier, vor allem in den »Wahlverwandtschaften«, haben wir ein, wenn auch nicht vollkommenes, aber doch meisterhaftes Vorbild für die eigentliche Kunstform des modernen Romans. Wir haben von Goethe selbst einige Äußerungen theoretischer Art über das Wesen des Romans. Im »Werther« sagt Lotte: »... Der Autor ist mir der liebste, in dem ich meine Welt wiederfinde, bei dem es zugeht wie um mich, und dessen Geschichte mir doch so interessant und herzlich wird als mein eigen häuslich Leben, das freilich kein Paradies, aber doch im ganzen eine Quelle unsäglicher Glückseligkeit ist.« Und im »Wilhelm Meister« vergleicht er Roman und Drama: »Im Roman wie im Drama sehen wir menschliche Natur und Handlung. Der Unterschied beider Dichtungsarten liegt nicht bloß in der äußeren Form ... Im Roman sollen vorzüglich Gesinnungen und Begebenheiten vorgestellt werden, im Drama Charaktere und Taten. Der Roman muß langsam gehen, und die Gesinnungen der Hauptfigur müssen, es sei auf welche Weise es wolle, das Vordringen des Ganzen zur Entwickelung aufhalten. ... Der Romanheld muß leidend, wenigstens nicht in hohem Grade wirkend sein; von dem Dramatischen verlangt man Wirkung und Tat ....« Es ist deutlich, daß diese Bestimmungen wertvolle Elemente für die Erkenntnis des Wesens des Romans enthalten. Bis zu einem gewissen Grad stellt der Leser mit Recht den Anspruch, im Roman seine Welt wiederzufinden. Wenn es im Roman so »zugeht wie um mich«, so ist damit ein gut Teil Realistik, ein ernstes Stück Wirklichkeitskraft verlangt. Und daß der Roman Gesinnungen und Begebenheiten darstelle, trifft gleichfalls zu. Aber gerade diese letzte Definition bedarf der Korrektur. Es darf kein Gegensatz konstruiert werden zwischen Gesinnungen und Begebenheiten einerseits, Charakteren und Taten anderseits. Gesinnung und Charakter gehören so gut zusammen wie Begebenheiten und Taten. Wenn der Romanheld wirklich leidend sein müßte, dann kämen allerdings dem Roman nur Begebenheiten zu, nicht Taten. Aber er muß handeln ~und~ leiden, wie das Leben handeln und leiden läßt. Übrigens sind die Wahlverwandtschaften bereits über den Rahmen dieses Programms hinausgegangen; es sind doch schon Charaktere und in gewissem Sinne auch Taten, die hier den Handelnden beigelegt werden. Nicht auf diesen Sätzen über den Roman, sondern auf den Schöpfungen selbst ruht Goethes Bedeutung. Daß Goethe seinerseits auf Vorgängern fußte, will ich hier nur andeuten. Die »+Nouvelle Héloise+« Rousseaus ist das Vorbild des Werther gewesen: es sollte nicht das letzte Mal sein, daß französische Romandichtung die deutsche beeinflußte. Aber was in Goethes Romanen wirkte, das ist doch eben von ihm selber hineingelegt gewesen. Und sie haben gewirkt! »Werther« hat eine ganze Literatur an Streitschriften wie an Nachahmungen hervorgerufen. »Wilhelm Meister« ist bahnbrechend geworden für den vielgepflegten Bildungsroman des 19. Jahrhunderts, dem er geradezu das Schema geschaffen hat. Aber es sind nicht bloß diese direkten, augenfälligen Wirkungen gewesen, welche von Goethes Romandichtung ausgegangen sind. Nein, in alledem, was als die Kraft dieser seiner Dichtung bezeichnet wurde, hat er Spätere tief und nachhaltig beeinflußt: ~in der Tiefe der psychologischen Einsicht, in der unbeirrten Wiedergabe des Zeitempfindens, in der Kunst, welche Handlung und Gedanken in eins schuf. Durch all dies ward Goethe der Schöpfer des modernen deutschen Romans.~ Roman und Novelle der Romantik. Goethe ist der Schöpfer des modernen deutschen Romans. Der Gesamtlauf des 19. Jahrhunderts bestätigt diesen Satz. Der Anfang des 19. Jahrhunderts allein kann ihn nicht erschüttern. Merkwürdig allerdings, daß die ersten Jahrzehnte desselben unmittelbar nach Goethes großen Romanen, ja unter seinen Augen eine Prosadichtung heranwachsen lassen, deren innerstes Wesen von jener Wirklichkeitskraft Goethes, die das eigentliche Schöpferisch-Neue in seinen Romanen bildet, so gut wie unberührt war! Spuren Goethescher Einwirkung findet man freilich auch in den Romanen und Novellen der Romantik. ~Novalis~ »Heinrich von Ofterdingen« behandelt wie »Wilhelm Meisters Lehrjahre« eine Bildungs-Entwickelung, ~Schlegels~ »Lucinde« gibt gleichfalls eine Art Lehrjahre. Aber nicht die abgeklärte psychologische Kraft aus »Wilhelm Meister« finden wir hier wieder, -- vielmehr eher das, was den »Werther« gegenüber allem Späteren als ein Werk jugendlichen Sturmes und Dranges kennzeichnet: den Überschwang, die Maßlosigkeit, die Krankhaftigkeit der Gefühle. Es war mehr die Form, die Leitidee, die man Goethe entnahm; sein Geist war in der Romantik nicht lebendig. Viel eher kann man in den romantischen Erzählungen die Nachwirkungen eines Anderen, dazumal Hochgefeierten und doch sehr viel Kleineren spüren, des unendlich fruchtbaren ~Jean Paul~. Er ist 1825 gestorben; aber seine Zeit ist die des 18. Jahrhunderts, dessen Ende die Entstehung seiner bedeutendsten Romane sah. Erwarten Sie hier keine ausführliche Darlegung über seinen »Titan«, seinen »Siebenkäs« oder seine »Flegeljahre«! Sie gehören alle zusammen dem zu Grabe gegangenen Zeitalter an. Ich leugne nicht, daß in ihnen Tiefes, Schönes, Ergreifendes steht. Ich leugne noch weniger, daß zahlreiche Unterhaltungsschriftsteller, die sich im Übrigen ganz der modernen Schule zurechnen, in ihrem ganzen Leben auch nicht einen einzigen Gedanken von der Tiefe und der Anmut aufgebracht haben, welche unzählige Stellen in Jean Pauls Romanen aufweisen. Vielleicht schlagen Sie einmal das 58. Kapitel der »Flegeljahre« auf, das den Titel »Erinnerungen« führt: »Ich möchte wohl Tage lang über die kleinen Frühlingsblümchen der ersten Lebenszeit reden und hören. Im Alter, wo man ohnehin ein zweites Kind ist, dürfte man sich gewiß erlauben, ein erstes zu sein und lange zurückzuschauen ins Lebens-Frührot hinein. Da offenbar' ichs gern, daß ich mir höhere Wesen, z. B. Engel, ordentlich weniger selig aus Mangel an Kindheit denken kann, wiewohl Gott vielleicht keinem Wesen irgend eine Kindheits- oder Vergißmeinnichtszeit mag abgeschlagen haben, da sogar Jesus selber ein Kind war bei seiner Geburt. Besteht denn nicht das gute Kinderleben nur aus Lust und Hoffnung, Bruder, und die Frühregen der Tränen fliegen darüber nur flüchtig hin?« -- -- -- Aber bei allem Tiefen und Feinen und Zarten, das in diesen Romanen steckt, fehlt ihnen doch ein wichtiges Erfordernis gerade des Romans: Klarheit und Schärfe in der Erfassung und in der Darstellung des wirklichen Lebens. Charakteristische Streiflichter, treffende satirische Bemerkungen, brillante Humoristika, auch einmal frappante Zeichnungen irgend welcher Originalfiguren, -- das alles haben sie. Aber eben dies alles bleibt eine Summe von beigegebenen Einzelheiten. Die Kraft des Ganzen ist Gemüt und Geist, aber nicht Wahrheit. Tausend Lichter und Schatten huschen über die ruhige, klare, nüchterne Menschenwelt. Warum sie sehen, wenn die Beleuchtung die objektivste Betrachtung ermöglicht? Warum nicht lieber, wenn die Dämmerung die Umrisse etwas gefälliger macht oder wenn Nacht und Mond das Nüchterne phantastischer gestalten? Warum Interesse nehmen am Gewöhnlichen, Alltäglichen und nicht lieber am Besonderen, Seltenen, Sonderbaren, -- und wenn es gleich verschroben wäre? Warum die Menschen sehen, wie sie dem Auge sich bieten? Warum nicht lieber aus ihrer Seele verborgensten Winkeln ihre Merkwürdigkeiten herausholen? -- Und endlich hat Jean Paul noch eins nie verstanden: nämlich warum der Dichter die prosaische Pflicht haben solle, einfach nach der Ordnung der Dinge in Reih und Glied zu erzählen. Ihm paßt es viel besser, Ruhepunkte einzuschieben, die zu beschaulichen Betrachtungen Gelegenheit geben, Seitensprünge zu machen, die angenehme Abwechslung bringen. Aber was bei alledem herauskommt, das ist schließlich eine seltsame Mischung von ein wenig Wahrheit mit viel Dichtung, von wenig Zusammenhang und vielen einzelnen Schönheiten, von manchem Natürlichen und unendlich viel Schrulligem, von Ernst und Humor, von Wirklichkeit und Phantastik. Weltbilder, Menschenbilder geben diese Romane nicht, nur ein Bild einer reichen, tiefen, wennschon seltsamen Seele, nämlich der des Verfassers. Dieses Mannes Einfluß auf seine Zeitgenossen ist nicht zu unterschätzen. In ~Börne's~ Denkrede nach seinem Tod hieß es: »Fragt ihr, wo er geboren, wo er gelebt, wo seine Asche ruhe? Vom Himmel ist er gekommen, aus der Erde hat er gewohnt, unser Herz ist sein Grab.« Kein Wunder, daß auch die Dichtkunst sich von ihm bestimmen ließ. In manchem Phantastischen und Bizarren, in manchem Poetisch-Feinen, vor allem aber in der Unbesorgtheit um die wirkliche Welt, wie die romantische Schule sie zeigt, erkennen wir -- bei aller sonstigen Eigenart Jean Pauls -- doch eben Geist von seinem Geist. Die ~Romantik~ war es, welche in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts auch Roman und Novelle weithin beherrscht hat. Was ist die Romantik? Eine Stimmung, die überall sein kann, nur da nicht, wo scharfes, helles Licht die Dinge in ihrem Wirklichkeitsbestand zu sehen zwingt. Aber sie gedeiht, wo Helldunkel herrscht, wo das Licht einen farbigen, milderen Ton bekommt, wo die Sonnenstrahlen nur durch dichtes Strauchwerk spärlichen Schein werfen können, wo hohe Kirchenfenster ihnen eine feierliche Weihe geben. Und noch besser wächst sie empor, wo Dämmerung herrscht, wo die Schatten der dunkeln Nacht zu regieren beginnen. Es ist klar, wo diese Stimmung ihre Feinde sucht. Der klare Geist, der denkende Geist, der philosophische Geist, der protestantische Geist sind ihr fremd; aber dem poetischen Zauber, der Welt des Traums, dem katholischen Kultus, dem Wunder ist sie hold. Diejenige dichterische Schule, der man den Namen der romantischen zu geben pflegt, ist in Roman, Erzählung und Novelle fruchtbar genug gewesen. Hier soll keine Registratur von Namen und Titeln ihren Platz finden. Aber an ~Novalis~, ~Friedrich von Schlegel~ und ~Ludwig Tieck~, an ~Eichendorff~ und ~Brentano~, an ~Friedrich de la Motte-Fouqué~ und ~Kleist~ muß wenigstens in Kürze erinnert werden. Einiger bedeutenderer Werke aus dieser Zeit und von dieser Art wird im Folgenden besondere Erwähnung getan werden. Denn wie läßt sich das, was die Romantik auf diesem Gebiet geschaffen, besser darstellen als durch die Einführung in einige ihrer charakteristischen Werke? Wie lassen sich die wunderbar mannigfaltigen Arten dieser Gattung klarer überschauen, als wenn man versucht, die wichtigsten derselben wenigstens in ~einer~ Dichtung zu erfassen? Im Roman der Romantik regiert die Stimmung des ~Dichters~. Und zwar des Dichters im besonderen, eigentümlichsten Sinn. Manche können Dichter und Träumer nicht unterscheiden; soweit die Romantik in Frage kommt, haben sie Recht. So ists denn kein Zufall, daß der einzige Roman des gefeierten ~Novalis~, der unvollendet gebliebene »~Heinrich von Ofterdingen~«, eine Dichtung über den Dichter ist. Novalis hat nach Ludwig Tiecks Bericht noch sechs andere Romane schreiben wollen, um darin seine Ansichten über Physik, bürgerliches Leben, Handlung (d. h. Handel), Geschichte, Politik und Liebe niederzulegen, so wie in Heinrich von Ofterdingen die über Poesie. Mit der Poesie begann er; sie lag ihm am nächsten. Im Mittelpunkt des Romans steht der bekannte mittelalterliche Minnesänger Heinrich von Ofterdingen. Aber Novalis hat sich weder genau an die Person noch an die Zeit desselben gehalten. Er läßt Heinrich als eines Handwerkers Sohn zu Eisenach geboren sein. Der Jüngling reist mit der Mutter nach Augsburg ins großväterliche Haus. Die Reisegesellschaft bilden Kaufleute, die das gleiche Ziel haben. Unterwegs machen die Reisenden die Bekanntschaft eines Bergmanns, der sie in eine mächtige Höhle führt. In dieser Höhle findet man Friedrich von Hohenzollern als Einsiedler hausen. Die Reise wird fortgesetzt; in Augsburg lernt Heinrich den Dichter Klingsohr und seine Tochter Mathilde kennen. Mit der Verbindung Heinrichs mit Mathilde schließt der erste Teil: »Die Erwartung«. Im zweiten Teil, der den Titel »Die Erfüllung« tragen sollte, wird Heinrich in einem Kloster von den Priestern des heiligen Feuers in jungen Gemütern über Tod und Magie unterwiesen; dann befindet er sich in Italien im Krieg, in Griechenland in Gesprächen über Kunst und Moral, im Morgenland, wo er dessen Leben in Vergangenheit und Gegenwart kennen lernt, in Rom, in Deutschland am Hof Kaiser Friedrichs. Nach wunderbarem Wettgesang erlebt er seine Verklärung. So arm an Handlung der erste Teil ist, so reich an Abwechslung sollte danach der zweite werden. An Abwechslung, aber auch er nicht an Handlung. Verschiedene Schauplätze, aber an jedem nicht viel anderes als Gespräche, Märchen, Sagen, Phantasien. Die Ausführung wäre gewiß in derselben Art gehalten worden wie in dem fertig gestellten Bruchstück. Dessen Charakter ist freilich ausgeprägt genug. Seine Welt ist die Wunderwelt. Die Gesetze des Geschehens existieren in ihr nicht. Die auftretenden Personen kommen gar nicht als Personen in Betracht, geschweige denn als besondere, individuelle Menschen; sie sind nichts als das Sprachrohr für sinnvolle Märchen, tiefe Belehrungen. Es werden auch nicht etwa die gleichen Personen festgehalten, sondern sie kommen und gehen, ja sie selbst sind urplötzlich wieder andere Personen. Novalis lebt in der Welt des Traums, des phantastischen Märchens. Seine einzige Absicht ist, »das eigentliche Wesen der Poesie auszusprechen und ihre innerste Absicht zu erklären«. Ihm wandelt sich alles in Poesie; denn sie ist der Geist, der alle Dinge belebt. Eben in diesem Wesen der Poesie liegt es ihm beschlossen, daß in seiner Dichtung Zeit und Raum aufhören. ~Tieck~, dessen Worte ich eben schon mehrfach benützt habe, weiß diese Denkart trefflich zu schildern: »Dem Dichter, welcher das Wesen seiner Kunst im Mittelpunkt ergriffen hat, erscheint nichts widersprechend und fremd, ihm sind die Rätsel gelöst, durch die Magie der Phantasie kann er alle Zeitalter und Welten verknüpfen, die Wunder verschwinden und alles verwandelt sich in Wunder.« Das, was der erste Teil dieses wirklich wunderbaren Romans gibt, ist nun freilich von gewaltiger dichterischer Schönheit. Gleich im Eingang wird ein Traum berichtet, dessen Verlauf für die Entwicklung des Romans bedeutsam ist; Heinrich schaut in ihm die blaue Blume der wirklichen Dichtung. Erst durchlebte er im Traum ein unendlich buntes Leben, starb und kam wieder, liebte bis zur höchsten Leidenschaft und war dann wieder auf ewig von seiner Geliebten getrennt. Endlich gegen Morgen, wie draußen die Dämmerung anbrach, wurde es stiller in seiner Seele; klarer und bleibender wurden die Bilder ... Nach wunderbaren Wegen kommt er endlich zur Stätte der blauen Blume. »Dunkelblaue Felsen mit bunten Adern erhoben sich in einiger Entfernung; das Tageslicht, das ihn umgab, war heller und milder als das gewöhnliche; der Himmel war schwarzblau und völlig rein. Was ihn aber mit voller Macht anzog, war eine hohe, lichtblaue Blume, die zunächst an der Quelle stand und ihn mit ihren breiten, glänzenden Blättern berührte. Rund um sie her standen unzählige Blumen von allen Farben, und der köstlichste Geruch erfüllte die Luft. Er sah nichts als die blaue Blume und betrachtete sie lange mit unnennbarer Zärtlichkeit. Endlich wollte er sich ihr nähern, als sie auf einmal sich zu bewegen und zu verändern anfing; die Blätter wurden glänzender und schmiegten sich an den wachsenden Stengel, die Blume neigte sich nach ihm zu, und die Blütenblätter zeigten einen blauen ausgebreiteten Kragen, in welchem ein zartes Gesicht schwebte.« Diese blaue Blume, die Poesie, bildet das Ziel der Gesamtentwicklung des Dichters. Am letzten Ende kommt Heinrich »in jenes wunderbare Land, in welchem Luft und Wasser, Blumen und Tiere von ganz verschiedener Art sind, als in unserer irdischen Natur.« »Menschen, Tiere, Pflanzen, Steine und Gestirne, Elemente, Töne, Farben kommen zusammen wie Eine Familie, handeln und sprechen wie Ein Geschlecht. -- Blumen und Tiere sprechen über den Menschen. -- Die Märchenwelt wird ganz sichtbar, die wirkliche Welt selbst wird wie ein Märchen angesehen.« In diesem Land findet Heinrich die blaue Blume, -- freilich nicht ohne daß nun an diese Blume Allegorie um Allegorie sich anschließen. Die blaue Blume ist »Mathilde, die schläft und den Karfunkel hat; ein kleines Mädchen, sein und Mathildens Kind, sitzt bei einem Sarge und verjüngt ihn. -- Dieses Kind ist die Urwelt, die goldene Zeit am Ende.« Eine Probe dichterischer Schöpfungskraft ist dieser Traum von der blauen Blume; eine Probe wunderbar in Phantastik und Allegoristik verschwimmender Darstellung ist die Erzählung von der Auffindung dieser blauen Blume, wie sie eben kurz angedeutet ward. Das ist ja eben das Wesen des ganzen Fragments: ~dichterische Herrlichkeit, vermählt mit märchenhafter Unmöglichkeit~. Im Sinne des Dichters ist diese Vermählung natürlich; ihm liegt die Poesie weit hinaus über die Welt des Wirklichen. Im Sinne der Romantik ist diese Verbindung verständlich; Novalis hat die romantische Art nur bis zur äußersten Spitze getrieben. Alles Wirkliche, alles Tatsächliche liegt hinter ihm in wesenlosem Scheine. Wir aber fragen, ob wirklich Poesie und Märchenwelt untrennbar verbunden sind, ob der Haß gegen die Tatsachen, der in dieser Liebe für das Wunderbare beschlossen ist, zum eigentlichen Wesen der Poesie gehört. Vor allem aber ist der »Heinrich von Ofterdingen« durch diesen Haß alles andere als ein Roman geworden. Nichts von Welt und Zeit, nichts von Handlung und Empfindung, nichts von Entwicklung und Psychologie. ~Der gefeiertste Roman der Romantik ist ein mystisch-allegorisches Märchenwerk, aber nun und nimmer ein Roman.~ Was für ein anderes Leben in einer weiteren Schöpfung der Romantik, die gerade des Gegensatzes wegen unmittelbar neben den »Heinrich von Ofterdingen« gestellt sein mag, -- in ~Joseph Freiherrn von Eichendorffs~ reizender Novelle »~Aus dem Leben eines Taugenichts~«. Dort alles ernste, tiefe, getragene Poesie; hier alles frische, fröhliche, muntere Laune. Das Rad an der Mühle braust und rauscht lustig, die Goldammer am Fenster ruft gleichfalls lustig: »Bauer, behalt deinen Dienst!« und der Müllerssohn zieht mit seiner Geige und ein paar Groschen Geld zufrieden in die weite Welt hinaus. »Wem Gott will rechte Gunst erweisen, Den schickt er in die weite Welt, Dem will er seine Wunder weisen In Berg und Wald und Strom und Feld!« Was erlebt der Wandersmann nicht alles in der weiten Welt! Ein paar schöne Damen heißen ihn auf ihrer Kutsche aufsitzen; im Schlosse, da sie wohnen, wird er Gärtner und huldigt der »schönen gnädigen Frau«; und die gnädige Frau nimmt seine Huldigung an. Er avanciert zum Zolleinnehmer und führt ein Leben in Nichtstun und Verehrung der »schönen gnädigen Frau«. Bis er seine Angebetete einst an der Seite eines jungen Herrn auf des Schlosses Balkon erscheinen sieht. Da läßt er alle Bequemlichkeit im Stich und zieht wieder mit der Fiedel ins Land. Er kommt nach Italien und in ein schönes Schloß und wird dort gehegt und gepflegt und entflieht wieder, weil er eingesperrt wird, und kommt nach Rom und glaubt seine »schöne gnädige Frau« zu sehen und findet sie doch nicht. Aber auf eine Botschaft hin kehrt er zu jenem ersten Schloß bei Wien zurück und erhält die Hand der gnädigen Frau, -- nur daß sie keine Gräfin ist, wie er geglaubt, sondern die Nichte des Portiers. Aber was tut das? Sie lassen die ganze andere Welt um sich untergehn und haben sich lieb und alles, alles ist gut! Durch die ganze Erzählung hindurch ists ja von Abenteuer zu Abenteuer gegangen; der Taugenichts ist von Ort zu Ort und von Land zu Land gekommen und hat nicht gewußt, wie ihm geschah und der Leser hats ebenso wenig gewußt. Nur eins hat er gemerkt, daß es auf jeder Seite klingt wie Lieb und Lust, wie Jubel und Jauchzen, wie Lerchenzwitschern und wunderbar schöner Gesang. Und das hat er gelernt, daß es dem Dichter nicht darauf ankommt, ein Stückchen zu berichten, wie es geschehen sein könnte oder etwa noch einmal vor sich gehen möchte, sondern daß ihm die Laune die Feder geführt und der Übermut in allen Fingern gezuckt hat, weil er -- ob noch so wunderlich und noch so toll -- dies allein zeigen wollte: »Die Liebe -- darüber sind nun alle Gelehrten einig -- ist eine der kouragiösesten Eigenschaften des menschlichen Herzens, die Bastionen von Rang und Stand schmettert sie mit einem Feuerblicke darnieder, die Welt ist ihr zu eng und die Ewigkeit zu kurz. Ja, sie ist eigentlich ein Poetenmantel, den jeder Phantast einmal in der kalten Welt umnimmt, um nach Arkadien auszuwandern. Und je entfernter zwei getrennte Verliebte von einander wandern, in desto anständigeren Bogen bläst der Reisewind den schillernden Mantel hinter ihnen auf, desto kühner und überraschender entwickelt sich der Faltenwurf, desto länger und länger wächst der Talar den Liebenden hinten nach, so daß ein Neutraler nicht über Land gehen kann, ohne unversehens auf ein paar solche Schleppen zu treten.« Nun, was Eichendorff gewollt, das ist ihm trefflich gelungen. Wer zieht nicht gern mit dem Taugenichts in die Welt? Wer singt nicht mit ihm aus vollem Herzen: »Die Bächlein von den Bergen springen, Die Lerchen schwirren hoch vor Lust, Was sollt' ich nicht mit ihnen singen Aus voller Kehl' und frischer Brust?« Wem wendet sich nicht das Herz um, wenn die allerschönste Dame die Gitarre in den weißen Arm nimmt und dazu so wundersam über den Garten hinaus singt? Wer möchte nicht mit dem Taugenichts weinen, weil ~sie~ so schön ist und er so arm und verspottet und verlassen von der Welt? Wer säße nicht gern mit ihm auf dem Bänkchen vor seinem Einnehmerhaus, wenn die Sonne eben untergeht und das ganze Land mit Glanz und Schimmer bedeckt und die Donau sich prächtig wie von lauter Gold und Feuer in die weite Ferne schlängelt und von allen Bergen bis tief ins Land hinein die Winzer singen und jauchzen? Und so folgen wir ihm willig auch weiter, und kein Abenteuer ist uns zu sonderbar und kein Rätsel zu toll; es ist eben ein Dichter von Gottes Gnaden, der uns ins Wunderland führt. Es bedarf ordentlich erst des Zwanges der Selbstbesinnung, um von dem holden Traum, den wir mitgeträumt, zu erwachen. Ists nicht besser, weiter zu träumen -- ins Unendliche hinein? Hat die Dichtung nicht ihre Aufgabe gelöst, wenn sie uns die harte Wirklichkeit vergessen lehrt? Für die Romantiker: ja. Von ihrem Standpunkt aus bedeutet die liebenswürdige Novelle Eichendorffs einen Wurf von hoher Vollendung. Für uns andere aber beginnt mit dem Erwachen auch die harte Pflicht des Zweifels. Nicht etwa des Zweifels an der poetischen Schönheit und Lieblichkeit. Aber des Zweifels, ob ein Werk den Namen Novelle mit Recht trage, welches vielmehr ein Märchen ist denn eine Erzählung. Es bedarf ja keines weiteren Wortes darüber: von der wirklichen Welt, in der wir leben, führt uns Eichendorffs lustige Laune gerade so weit ab wie Novalis mystische Allegorienfreude. Und wenn man der erzählenden Dichtung, dem Roman wie der Novelle, das Gebiet der wirklichen Welt zuweist, mit der Bestimmung, sie mit dichterischer Kunst zu durchdringen und darzustellen, dann liegt auch Eichendorffs »Aus dem Leben eines Taugenichts« weit, weit ab vom klar gezeichneten Wege. Es ist nicht möglich, ein vollständiges Bild der romantischen Prosadichtung zu geben, ohne in die Schilderung wenigstens eine knappe Skizze von ~Friedrich von Schlegels~ »~Lucinde~« aufzunehmen. Diese Sammlung von Fragmenten zu einem Roman hat zu viel Anlaß zu Streit und Widerstreit, zu Begeisterung und deutlicher Ablehnung gegeben, sie ist zugleich allzu charakteristisch für weite und breite Strömungen innerhalb der romantisch gestimmten Kreise, als daß sie hier übergangen werden könnte. ~Schleiermacher~ hat einst, bald nach ihrem 1799 erfolgten Erscheinen, in »Vertrauten Briefen über Schlegels Lucinde« sie ein »ernstes, würdiges und tugendhaftes Werk« genannt. Aber auch ~Schleiermacher~ stand damals im Bann der Romantik; und sein Urteil war kein objektives. Max ~Koch~ nennt das Buch sehr treffend eine »kraft- und formlose Empfehlung der freien Liebe«. Aber lassen wir das Urteil vom Standpunkt der Moral einmal ganz beiseit, wie wir auch bisher nicht den Maßstab bestimmter Anschauungen angelegt haben! Was ists eigentlich um die »Lucinde«? Eine Reihe von äußerlich nicht zusammenhängenden Skizzen zieht am Leser vorüber; gemeinsam ist ihnen der Titel: Bekenntnisse eines Ungeschickten. Es sind Briefe, Phantasien, eine »Allegorie von der Frechheit«, eine »Idylle über den Müßiggang«, Betrachtungen und, unter dem Titel »Lehrjahre der Männlichkeit«, eine zusammenhängende Schilderung. Julius ist der Held derselben. Ein völlig zerrütteter, haltloser, dekadenter Charakter. »Eine Liebe ohne Gegenstand brannte in ihm und zerrüttete sein Inneres. Bei dem geringsten Anlaß brachen die Flammen der Leidenschaft aus; aber bald schien diese aus Stolz oder aus Eigensinn ihren Gegenstand selbst zu verschmähen, und wandte sich mit verdoppeltem Grimm zurück in sich und auf ihn, um da am Mark des Herzens zu zehren.« »Es war ihm, als wollte er eine Welt umarmen und könne nichts greifen. Und so verwilderte er denn immer mehr und mehr aus unbefriedigter Sehnsucht, ward sinnlich aus Verzweiflung am Geistigen, beging unkluge Handlungen aus Trotz gegen das Schicksal und war wirklich mit einer Art von Treuherzigkeit unsittlich.« Die Art, wie er liebt, bildet den Stoff der weiteren Erzählung. Er liebt ein edles Mädchen, aber er kommt in dem Augenblick zur Besinnung, wo er den Blütenkranz der Unschuld mutwillig hatte zerreißen wollen. Er wirft sich an ein Weib weg, das am freiesten lebt und am meisten in der guten Gesellschaft glänzt. Als er mit ihr bricht, gibt sie sich den Tod. Er findet zuletzt in Lucinde eine gleichgestimmte Seele. »Lucinde hatte einen entschiedenen Hang zum Romantischen, er fühlte sich betroffen über die neue Ähnlichkeit und er entdeckte immer mehrere. Auch sie war von denen, die nicht in der gemeinen Welt leben, sondern in einer eignen, selbstgedachten und selbstgebildeten. Nur was sie von Herzen liebte und ehrte, war in der Tat wirklich für sie, alles andere nichts; und sie wußte, was Wert hat. Auch sie hatte mit kühner Entschlossenheit alle Rücksichten und alle Bande zerrissen und lebte völlig frei und unabhängig.« Beide finden sich in schrankenloser, nun aber dauernder Liebe, deren Beschreibung auch in den Briefen und Skizzen immer wieder den Grundton abgibt. Sie sammeln um sich eine Zahl Ähnlichdenkender, eine freie Gesellschaft oder eine große Familie. Aber die volle Harmonie findet Julius auch in der Anregung seines Geistes »allein in Lucindens Seele, wo die Keime alles Herrlichen und alles Heiligen nur auf den Strahl seines Geistes warteten, um sich zur schönsten Religion zu entfalten.« Aber diese Inhaltsangabe stellt noch nicht die ganze Art des merkwürdigen Buches klar. Seine Eigentümlichkeit besteht nicht in dem Bruchstückartigen, nicht in den beschriebenen Liebesbegebnissen, sondern in der Schilderung selbst. In ihr einen sich Schwärmerei und Sinnlichkeit zu einem schwülstigen Ganzen. Es fehlt dem Helden an jeder Selbstbeherrschung, an jeder Selbstzucht. Phantasie wie Wünsche sind bei ihm gleich ausschweifend. Er verabscheut die entfernteste Erinnerung an bürgerliche Verhältnisse, -- womit natürlich die Ehe gemeint ist, -- wie jede Art von Zwang. Er ist dem kaum der Kindheit entwachsenen Mädchen gegenüber einfach gewissenlos; aber auch im Verkehr mit Lucinde spielt ungezügelte Sinnlichkeit eine erschreckende Rolle. Umwoben aber sind alle diese Schilderungen mit einem Schwulst von überschwänglichen Worten, von himmelstürmenden Tiraden. Ich verzichte auf eingehendere Beschreibung. Lucinde durfte nicht übergangen werden: diese leidenschaftliche, in schöngeistiges Gewand gehüllte Sinnlichkeit ist ja eben bezeichnend auch für die romantische Dichtung. Zugestanden mag sein, daß Lucinde etwas mehr mit der Wirklichkeit zu schaffen hat als der Heinrich von Ofterdingen und als Eichendorffs Taugenichts. Die Lucinde ist nicht ohne psychologische Ansätze. Sie hat Ähnlichkeiten mit Werther. Aber sie hat das Ungesunde von ihm hergenommen und ins Unreine hin verzerrt. Werther mit seiner krankhaft gesteigerten Leidenschaft steht immer noch hoch über ~der~ Leidenschaft, mit welcher Schlegel seinen Julius alle Moral, allen Anstand, alle Sitte beiseite werfen läßt. Es sind nicht Lehrjahre der Männlichkeit, wie er selber sie nennt; die »Allegorie von der Frechheit« ist viel bezeichnender für das Ganze. Und schließlich ist, trotz der unfraglich vorhandenen Berührung mit der Wirklichkeit, auch die Lucinde ein Buch der Unwirklichkeit: von Menschen redet sie, die nichts zu tun haben, die kein Zwang des Berufs fesselt und die jeden anderen Zwang bewußt abschütteln. Die romantische Prosadichtung ist reich an Spielarten. Eine Spielart, wie sie der vielgelesene, von Ostpreußen nach Berlin verpflanzte Ernst Theodor ~Amadeus Hoffmann~ vertrat, den man wohl den genialsten Erzähler der Romantik genannt hat, darf bei ihrer Charakterisierung nicht außer Betracht bleiben. Amadeus Hoffmann ist ein Vielschreiber gewesen; und seine Erzählungen tragen längst nicht alle den gleichen Stempel. Er war wirklich genial; und seine Genialität zeigte sich auch in vielseitiger Kraft. Satire, Ironie, Humor, Realistik sind ihm nicht fremd; und wo von diesen Gottesgaben etwas sich findet, da ist er noch heut zu bewundern. Aber den Grundton seiner Schöpfungen geben sie alle nicht an. Im Innersten sind sie durch und durch phantastisch. Aber nicht phantastisch im Sinne von Novalis, der in die wundervolle Märchenwelt führt, nicht phantastisch in der Art der sonnigen, unbekümmerten Fröhlichkeit Eichendorffs, auch nicht nach der Methode der geistig-sinnlichen Überschwänglichkeit Schlegels. Seine Phantastik trägt den Sondercharakter des Geheimnisvollen, Schauerlichen, Unheimlichen. Wohl knüpft er überall an die Verhältnisse des wirklichen Lebens an, darin ganz anders verfahrend als Novalis und auch als Eichendorff. Wohl spielen die sehr natürlichen Leidenschaften auch bei ihm eine große Rolle; und seine Menschen sind in ~dieser~ Hinsicht eben Menschen, wirkliche Menschen. Aber er verknüpft mit diesem Tatsächlichen soviel Grauenhaft-Unnatürliches, daß ihm der Beiname »Teufels-Hoffmann« nicht mit Unrecht gegeben worden ist. Beispielshalber wenigstens eine kurze Skizze eines seiner Teufels-Werke, der »~Elixiere des Teufels~«. Ein Klosterbruder bewahrt unter den Klosterreliquien auch eine Flasche, die einst der Teufel selbst aus seinem Mantel dem heiligen Antonius zurückgelassen. Wer von dem in dieser Flasche enthaltenen Elixier kostet, der ergibt sich dem Teufel und seinem Reiche. Der Bruder Medardus ist ein Prediger, zu dessen Predigten die Leute in Haufen strömen. Da erscheint ihm mitten in begeisterter Rede eine furchtbare Gestalt, in der er den »fremden Maler« zu erkennen glaubt, der vor langen Zeiten die Kirche seiner Geburtsstätte mit wunderbaren Bildern geschmückt. Wie er nun die Gestalt an einem Eckpfeiler lehnen sieht, will Medardus nicht hinschauen. Aber ob er will oder nicht, er ~muß~. »Wie von einer fremden, zauberischen Gewalt getrieben, mußte ich immer wieder hinschauen, und immer starr und bewegungslos stand der Mann da, den gespenstischen Blick auf mich gerichtet. So wie bitterer Hohn -- verachtender Haß, lag es auf der hohen, gefurchten Stirn, in dem herabgezogenen Munde. Die ganze Gestalt hatte etwas Furchtbares, -- Entsetzliches! -- Ja! -- es war der unbekannte Maler aus der heiligen Linde. Ich fühlte mich, wie von eiskalten grausigen Fäusten gepackt -- Tropfen des Angstschweißes standen auf meiner Stirn -- meine Perioden stockten -- immer verwirrter und verwirrter wurden meine Reden -- es entstand ein Flüstern -- ein Gemurmel in der Kirche -- aber starr und unbeweglich lehnte der fürchterliche Fremde am Pfeiler, den stieren Blick auf mich gerichtet. Da schrie ich auf in der Höllenangst wahnsinniger Verzweiflung: »Ha Verruchter! Hebe dich weg! -- hebe dich weg -- denn ich bin es selbst! -- ich bin der heilige Antonius!«« Von dieser Stunde an ist die Kraft des Bruder Medardus gebrochen. Sie wiederzugewinnen, trinkt er endlich vom Teufelselixier. Neues Leben strömt nun durch seine Adern. Aber es ist ein Leben, in dem der Böse Herrschaft hat. Er läßt Kloster und Möncherei, er gerät in die wildesten Abenteuer, er wird zum Ehebrecher und Mörder; ein Wahnsinniger ahnt in ihm den Bösen; mitten in fröhlicher Gesellschaft starren ihm wieder die Züge jenes fürchterlichen Unbekannten entgegen; er trifft in ländlichem Försterhaus in einsamer Stille einen wahnsinnigen Kapuziner, der nichts anderes ist als sein Doppelgänger, dessen Erscheinung sein eigenes Ich in verzerrten, gräßlichen Zügen reflektiert. Äußerlich macht er sein Glück: des Bösen Gewalt läßt ihn auf der Jagd treffen, ohne daß er gezielt, läßt ihn am Fürstenhof im Glücksspiel fabelhafte Gewinne einheimsen. Dann wird er erkannt, man stellt ihn vor Gericht; aber alle Verbrechen häuft man auf jenen gräßlichen Doppelgänger, während Medardus selber frei ausgeht. Und so geht es weiter zwischen den grauenvollsten Schrecklichkeiten durch; Wahnsinn, Visionen, Leidenschaft, Verbrechen, Mysterien aller Art führen einen wilden Reigen auf. Medardus kehrt endlich nach langer Buße ins Kloster zurück und stirbt dort nach einem wahren Hexentanz von gespenstischen Ungeheuerlichkeiten eines frommen Todes. Diese Inhaltsangabe gibt nur ein ganz, ganz mageres Gerippe des vielverschlungenen Romans. Aber sie läßt doch erkennen, wie alles in demselben aufs Grauenhaft-Phantastische angelegt ist. Der Boden der Wirklichkeit ist ganz und völlig verlassen. In anderen Erzählungen tritt eine andere Methode hervor, ~wie~ die Wirklichkeit verzerrt wird; aber verzerrt wird sie überall. Ob es mehr lustige Tollheit ist, die ihn mit seinen Figuren umspringen läßt, als seien sie nicht an die Gesetze dieser Welt gebunden, ob es mehr phantastische Karikaturkunst ist, die seiner Satire dienen muß, -- überall ists das Gegenteil klarer Wirklichkeit, was regiert. Er hat es verstanden, nervenspannende, ja nervenerschütternde Wirkungen zu erzielen; -- ich rate noch heute Niemandem, der über schwache Nerven verfügt, mit ihm nähere Bekanntschaft zu machen. Er ist unerschöpflich in Erfindung und unübertroffen in Plastik der Darstellung; aber das alles kann das Urteil nicht ändern, daß auch seine Romane und Erzählungen von der Aufgabe des Romans, ein Bild der Welt zu zeichnen, himmelweit entfernt sind. Auch die bekannte Erzählung ~Heinrich von Kleists~: ~Michael Kohlhaas~ gehört ins Gebiet der Romantik. Auch sie sucht ihre Wirkung im starken, auch im erschütternden Eindruck. Aber Michael Kohlhaas ist doch von ganz anderem Holz als die Spukgestalten des Teufels-Hoffmann. Der Roßhändler Kohlhaas ist eines Schulmeisters Sohn und das Muster eines guten Staatsbürgers. Die Kinder, die ihm sein Weib schenkt, erzieht er in der Furcht Gottes zur Arbeitsamkeit und Treue. Er läßt gezwungenermaßen als Pfand für einen zu lösenden Paßschein ein Paar Rappen im Gewahrsam des Junkers von Tronka. Die Pferde werden ihm malträtiert, der Knecht, der sie besorgen soll, wird mißhandelt. Die herabgekommenen Rappen nimmt Kohlhaas nicht an; er legt sich jetzt aufs Prozessieren und beschließt, da er nirgends Recht bekommen kann, endlich, sich selber Recht zu schaffen. Und nun wird er zum Räuber und Mordbrenner, der das Schloß des Junkers in Flammen aufgehen läßt, der mehr als eine Stadt, in welche der Junker geflüchtet, einäschert, der den Schrecken der ganzen Gegend bildet. Luther selbst legt sich ins Mittel, um den Unhold zu bändigen; aber auch seine Mühe ist vergeblich. Kohlhaas führt Krieg mit Fürst und Staat und Gesellschaft. Endlich wird ihm sein Recht; und nun geht er ruhig in den Tod, der seine Freveltaten lohnt. Es ist nicht zu verkennen, daß die Romantik in diesem Buch wesentlich andere Bahnen einschlägt als in den vorher skizzierten Dichtungen. Auch hier dominiert das Außerordentliche, das Furchtbare. Aber wenn es auch allzu gehäuft und ins Gräßliche übertrieben ist, es bleibt durchaus im Zusammenhang mit dem wirklichen Geschehen. Bis auf ein paar mysteriöse Züge, ohne die es freilich nicht abgeht, ist alles Geschilderte in roher, gewalttätiger Zeit durchaus möglich. Die Erzählung sucht die Verbindung mit dem Leben festzuhalten. In der ganzen Absicht derselben aber liegt gewiß auch jene romantische Neigung, sich selber gegen Sitte und Brauch, gegen Mehrheit und Zwang durchzusetzen, -- eine Neigung, der wir in der Lucinde so gut begegnen wie in vielen anderen Dichtungen jener Zeit. Aber diese Neigung tritt hier weniger im Gewand der Selbstverständlichkeit auf; nicht als Führerin ins holde Traumland, in dem sich jeder seine Welt selber zimmert, sondern als bewußte, klare, in alle Konsequenzen durchführte Auflehnung gegen die Gesellschaft. Und endlich: es ist im Kohlhaas nicht subjektive Willkür, welche ihn zu dieser Auflehnung treibt, sondern es ist ein heiliges, eingeborenes und schließlich doch auch vom Dichter als allgemeingültig anerkanntes Rechtsgefühl, welches ihn zum Räuber und Mörder macht. Was er will, ist ja der Schutz der Gesetze. Wer ihm diesen versagt, der gibt ihm die Keule in die Hand, die ihn selbst schützt. Diese Besonderheit will wohl beachtet werden; das Trotzen auf sein Recht steht doch sicher höher als die zügellose, rasende Leidenschaft. Und dennoch bleibt es richtig: auch im Michael Kohlhaas ist der Mensch das Maß aller Dinge. Der Einzelne stellt sich außerhalb aller Ordnung, weil diese Ordnung ihn in einer einzigen Angelegenheit nicht schützt. Schließlich ist sein Verhalten in dem Plakat, welches Kleist von Luther erlassen sein läßt, doch richtig gezeichnet: »Kohlhaas, der du dich gesandt zu sein vorgibst, das Schwert der Gerechtigkeit zu handhaben, was unterfängst du dich, Vermessener, im Wahnsinn stockblinder Leidenschaft, du, den Ungerechtigkeit selbst vom Scheitel bis zur Zehe erfüllt? Weil der Landesherr dir, dem du untertan bist, dein Recht verweigert hat, erhebst du dich, Heilloser, mit Feuer und Schwert und brichst wie der Wolf der Wüste in die freundliche Gemeinheit, die er beschirmt.« -- Die nähere Beziehung jedoch, die Kleists Novelle zu den Tatsachen unterhält, zeigt sich auch in ihrer Schreibart. Nichts Unklar-Verschwommenes, nur massiv und prägnant Herausgearbeitetes. Keine wortreichen Ergüsse; die Tatsachen schaffen die Stimmung. Es kann kein Zweifel darüber sein, daß gerade diese von der strengsten Romantik sich entfernende Art dem Michael Kohlhaas ein gut Teil seiner Wirkung gesichert hat. Noch enger werden die Beziehungen der romantischen Dichtung zur Geschichte in dem Roman »~Die Kronenwächter~« von Achim ~von Arnim~. Indes wir werden von diesem farbenprächtigen, wunderschön und wunderreich geschmückten Roman in dem Vortrag noch zu sprechen haben, der den historischen Roman behandeln wird. Die Romantik -- das hat auch meine knappe Skizze zu zeigen versucht -- ist nicht auf eine einheitliche Formel zu bringen. Sie geht sehr mannigfaltige Wege und verfügt über eine reiche Zahl von verschiedenen Farben. Was ist das Gemeinsame aller ihrer Schöpfungen? ~Daß nirgend das klare, freie, helle Tageslicht der Wirklichkeit herrscht.~ »Heinrich von Ofterdingen« lebt ganz in einer anderen Welt; ~diese~ Welt ist nur dazu da, daß der Dichter zu seiner Vollendung komme. Von diesem Extrem aus führen viele Stufen zur Wirklichkeit hinab. Aber auch wo die Geschichte, die Tatsache stark mitspricht, wird sie doch nicht dargestellt, wie sie ist; überall wird sie ein wenig ins Geheimnisvolle getaucht, ins Poetische verklärt oder ins Ungeheuerliche vergrößert. Die Phantasie ist die Hauptkraft der Romantik. Nur eine kleine Zahl von Typen der romantischen Dichtung konnte ich skizzieren. Aber das Bild würde sich nicht wesentlich verändern, wenn ich weitere Werke zu zeichnen suchte. Vielleicht würde ihm zu größerer Deutlichkeit hie und da noch ein Strich hinzugefügt werden können. Wilhelm ~Hauff~, dessen »~Lichtenstein~« noch in anderer Umgebung zu nennen sein wird, hat in seinen »Memoiren des Satans« und sonst dem Sonderbaren und Unheimlichen durch feinen Humor alles Schreckliche genommen; die nervenerschütternden Gräßlichkeiten des Amadeus Hoffmann fehlen, und wir verkehren selbst mit dem Satan ganz gern, ohne daß ein Schauder uns überkommt. Von jener Literatur der neuerwachten Ritter- und Räuberromane, die das Romantische vergröberte und zugleich der dichterischen Verklärung beraubte, sei hier erst gar nicht gesprochen. Goethe schuf zwischen dem Roman und der wirklichen Welt deutlichen Zusammenhang. Die Romantik ist andere Wege gegangen. Diesen Zusammenhang hat sie gelockert, gelöst, ignoriert. Sie hat es im Namen einer höheren Macht getan, der Poesie. Aber es war doch ein Irrtum, daß sie glaubte, Poesie und Wirklichkeit vertrügen sich nicht. Und dieser Irrtum hat die Romantik unfähig gemacht, einen Roman im Vollsinn des Wortes zu schaffen. Sie schuf Märchen und Allegorien und Phantasien und Schauergeschichten und -- im besten Fall -- liebliche Traumbilder, aber keine Romane. Sie machte Gedanken und Stimmungen und maßlose Leidenschaften zu ihrem Thema, aber das eigentliche Leben, das vielverzweigte, blieb ihr fremd. Man glaubt manchmal, der Roman habe das zum Stoff, was im gewöhnlichen Wortverstand, der eben schon ein Mißverstand ist, »romanhaft« sei. Die Romantik scheint diesen Irrtum zu bestätigen, wenn anders man in ihr den Maßstab für das Wesen des Romans sucht. Aber gerade das wäre falsch. Richtig werden wir ihr Verhältnis zum Roman und zugleich dessen Verhältnis zum Romanhaften so formulieren: ~Die Romantik pflegte das Romanhafte und schuf deshalb keinen Roman.~ Die Volkserzählung. Die romantische Dichtung ließ ihre Helden ausziehen, damit sie in geheimnisvollem Zauberland die blaue Blume suchten. Eine blaue Blume im Zauberland -- das ist ihr die Poesie. Wir wundern uns nicht, daß die Novalisnaturen sie nicht anders zu verstehen vermochten. Wo sollte zur Zeit, da Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen schrieb, die Dichtung anders wohnen als im Zauberland? Im Land der Wirklichkeit wohnte ja die Aufklärung, wohnten die schön plattgetretenen Ideen von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, wohnte die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Im Lande der Wirklichkeit regierte das grelle, pralle Sonnenlicht der vernünftigen Überlegung. Kein Wunder, daß mancher da lieber ein Quantum mystisches Dunkel in Kauf nahm, als daß er sich von diesem Sonnenglanz Gemüt und Phantasie ausdörren ließ. Die größten unter den Dichtern verstanden es freilich, mitten in der Welt zu bleiben und doch Dichter zu sein. Aber die Kleineren mußten ihre Dichtkunst ins Zauberland retten. Die Zeiten, da der Schlüssel Vernunft alle Schlösser schloß, gingen vorüber. Die Menschen, die nach der blauen Blume suchten, fanden durch die Not der Zeit wichtigere Aufgaben einer schleunigen Lösung harrend. Schon hatten die harten Kriegsjahre mit eherner Faust an die Pforten geschlagen, hinter denen die Weltflüchtigen ihren Träumen nachgingen. Manch einer blieb wach; andere fielen wieder in ihre Träume zurück. Auch nachdem das napoleonische Ungewitter ausgetobt hatte, war ihnen die lebendige Welt noch nicht schön genug, um darin zu leben. Und sie begriffen noch nicht, daß auch der Dichter, wenn ihn der Zeit Lauf nicht fröhlich stimmte, Besseres tun konnte als träumen. Aber je mehr das neunzehnte Jahrhundert voranging, um so klarer erwachte das ~Wirklichkeitsbewußtsein~. Und wie durchs ganze deutsche Volk immer klarer ein Geist der Kritik am Bestehenden und ein Geist des sehnenden Schaffens am Neuen zog, so auch durch die Dichtung, und nicht zum mindesten durch die Prosadichtung, die am ersten berufen ist, der Wahrheit ins Angesicht zu sehen, zu tadeln und zu mahnen. Dieser neuerstandene Wirklichkeitsgeist aber betätigte sich alsbald nach drei sehr verschiedenen Richtungen hin. Zum ersten als ~Zeit- und Tendenzroman~, der ungestüm genug das Alte niederzureißen und ein Neues zu schaffen unternahm, der aber im Lauf der Zeiten ruhiger und objektiver geworden ist. Zum zweiten suchte eine starke Strömung bisher schier unbekannte Welt- und Menschengebiete zu erforschen und darzustellen; namentlich der ~Bauernstand~, ~das Landleben~ bot jungfräuliches Land. Und endlich griffen andere in die Wirklichkeit vergangener Zeiten zurück; es galt ihnen, früher Geschehenes der Gegenwart als Spiegel vorzuhalten oder auch einfach, in den abgründigen Tiefen der Geschichte Menschen zu studieren: der ~historische Roman~. Es sind die drei großen Formen des modernen Romans, die alle um das zweite Viertel des 19. Jahrhunderts Wurzel zu schlagen begannen, und die späterhin dann noch manche weitere Sonderart haben aus sich erwachsen lassen. Ich beginne hier mit der an zweiter Stelle genannten, mit der ~Volkserzählung~. Nicht Entwicklung und Beziehungen will ich ausdeuten; es liegt mir auch hier nur eins an: die Haupttypen an den anschaulichsten Beispielen darzustellen. Und so greife ich drei Dichter heraus, denen ein vierter und fünfter ein wenig abseits sich zugesellen sollen. ~Immermanns~ Oberhof nenne ich zuerst: da haben wir die Volkserzählung in der Wiege. Jeremias ~Gotthelf~ und Berthold ~Auerbach~ folgen: zwei Haupttypen der ausgebildeten Volkserzählung. Ein wenig abseits stehen dann Otto ~Ludwig~ und Fritz ~Reuter~. Von ~Immermann~ besitzen wir große Zeitromane: die »Epigonen« und »~Münchhausen~«: letzterer stammt aus dem Jahre 1839. Es ist ein Roman von hergebrachtem Zuschnitt; der Nebentitel: »Eine Geschichte in Arabesken« ist bezeichnend. Nach Hebbels Urteil hat Immermann die fratzenhaften und nichtigen Bewegungen der Zeit, die sich doch ernsthaft geberden, abgespiegelt. Das Urteil ist ganz richtig; aber man darf jene Dorfnovelle nicht vergessen, die mitten in den Roman hineingestellt ist, mit ihm zwar verwoben, aber doch in jener lockeren Art, die es ermöglicht, das Stück vom Ganzen zu lösen, wie es denn weitaus den Meisten nur in dieser Loslösung unter dem Sondertitel »~Der Oberhof~« bekannt ist. Im Oberhof haben wir klare, scharfe Wirklichkeitszeichnung. »Nun das muß wahr sein,« heißt es einmal darin, »die Idyllenschreiber haben uns die Bauernwelt arg verzeichnet! Sowohl die schäferlich-zarten, als die knolligen Kartoffelpoeten. Sie ist eine Sphäre, so mit derber Natur, wie mit Sitte und Zeremonie ausgefüllt, und gar nicht ohne Anmut und Zierlichkeit, nur liegt letztere wo anders, als wo sie in der Regel gesucht wird.« Der Schauplatz der Erzählung ist das westfälische Land, »der Boden, den seit mehr als tausend Jahren ein unvermischter Stamm trat,« ein westfälischer Hof, ein Richthof oder Oberhof, der älteste und vornehmste Hof einer westfälischen Bauerschaft. Um den Hof breitet sich alles Besitztum, welches eine große ländliche Wirtschaft nötig hat, aus: Feld, Wald, Wiese, unzerstückelt, in geschlossenem Zusammenhange. Auf diesem Hofe regiert der Hofschulze, eine Gestalt, deren Geltung zwar von den Mächten der Gegenwart nicht anerkannt wird, welche aber für sich selbst und bei ihres Gleichen einen längstverschwundenen Zustand auf einige Zeit wiederherstellt. In seinem Besitz ist das alte Waffenstück, welches er mit eiserner Festigkeit für das Schwert Karls des Großen erklärt, von dem es dem ersten Besitzer des Richthofs zum Zeichen der Investitur gegeben sei. Wie ein Fürst sitzt der Hofschulze auf seinem Oberhof; heimliche Vehmgerichte fällen unter seiner Leitung immer noch ihre Urteile. Seine Dienstboten weiß er patriarchalisch und energisch unter seiner Leitung zu halten: -- ich erinnere an die klassische Szene, in der jedes der Knechte und Mägde nach der Mittagsmahlzeit seinen Spruch erhält und des Abends die Gedanken mitteilen muß, die es sich darüber gemacht hat. Fest und unerschütterlich steht er auf dem alten Recht und der alten Sitte. Der Küster heischt vom Oberhof einen zweiten Käse; aber der Hofschulze, der auf reichem Hof, zwischen vollen Scheuern, vollen Böden und Ställen lebt, will von dieser Forderung nichts wissen: auf seinem Hof haftet nur ~ein~ Käse. Bei den Hochzeitsbräuchen, bei Einladung und Essen muß alles nach der alten Art gehen; weh dem, der, wie der Hochzeitbitter, etwas davon versäumt! Gegen Nachbarn, Freunde, Gevattern ist er zu allem bereit, aber sie müssen ihm auch immer etwas dafür leisten, und wäre es irgend ein kleiner Dienst von geringfügiger Bedeutung. Ein Freund der »Moralen« ist der Hofschulze. Ich will die Sünden der Väter heimsuchen an den Kindern! Der Mensch sündigt jederzeit, wenn er sich wider etwas setzt, was Herkommens ist bei Seinesgleichen. Im Ehestand ist garzuviel Liebe schädlich. Auf den Haus- und Ehestand verläßt sich aller Handel und Wandel, Nachbarhilfe und Ansprache, Christentum, Kirchen- und Schulzucht, Haus und Hof, Rind und Kind. Das sind Moralsätze des Hofschulzen; und wenn sie auch, wie der Jäger Oswald sagt, ziemlich hausbacken klingen, -- es ist doch ein gut Stück gesunden Menschenverstandes darin. Freilich, derselbe Hofschulze, dem das Recht ein so hochheiliges Ding ist, trägt ein Rechtsgefühl in der Brust, das dem des Michael Kohlhaas verzweifelt ähnlich sieht. Wenn ihm das Wild des benachbarten Grafen die Felder verwüstet, dann ist es kein Unrecht, auch ohne das Jagdrecht mit der Flinte Selbstschutz zu üben. »Was ist das überhaupt für ein Verbrechen, sein Eigentum gegen die Ungetüme, die es fressen und zu grunde richten, zu verdefendieren! rief er, indem plötzlich der lachende Ausdruck seines Gesichts in den des loderndsten Zornes überging. Die Stirnadern schwollen ihm an, das Blut trat dunkelrot in seine Wangen, die Augäpfel verloren ihr Weißes und wurden rötlich; man hätte vor dem Alten erschrecken können!« Der Hofschulze steht im Mittelpunkt der Oberhofnovelle. Aber auch, was sich um seine Gestalt herumrankt, ist gleich deutlich geschildert. Derb und wahr zeichnet Immermanns Stift; er beschönigt nichts und idealisiert nicht; die Sünden der Landbewohner kommen so gut zur Sprache wie ihre Tugenden. Ein kraftvolles, erdgewachsenes Geschlecht ists, das er abschildert, markig und zäh, steif und fest. Aber er hats mit alledem getroffen. Hier weht keine philosophische Luft; hier weben sich keine Träume, hier geschehen keine Wunder. Hier verschleiert die Poesie nichts, hier meidet sie nicht schamhaft das minder Schöne. Hier ist ihr ein heiliges Ahnen aufgegangen, wie sie im innersten Wesen verbunden ist mit der wahren und wirklichen Welt, die ihr Kraftquell und ihr Jungbrunnen zugleich ist. Ein ~Ahnen~ nur; wie sonderbar flechten sich die Oberhofkapitel in die Gänge des großen Romans mit seinen zerfahrenen Modegestalten ein! Ein vereinzelter Meisterwurf war diese Dorfnovelle; anderen war es vorbehalten, ihr in ihrer Eigenart zum Eigenrecht gesonderter Existenz zu helfen. Die beiden Dichter, denen dieser Ruhm gebührt, sind Jeremias Gotthelf und Berthold Auerbach. ~Jeremias Gotthelf~ ist unserer Zeit lange ein Fremder geblieben. Erst neuerdings lernt man ihn besser würdigen. Nicht das geringste Verdienst an dieser besseren Erkenntnis hat Adolf ~Bartels~, dem die wärmsten Töne nicht warm genug scheinen, wenn er auf Gotthelf zu sprechen kommt. Daß er uns schwerer nahkommt als andere Dichter, liegt ja zum Teil an der schweizerischen Sprache. Albert Bitzius, ein Pfarrer aus dem Kanton Bern, versteckt sich bekanntlich hinter dem Pseudonym, das auf dem Titel seiner Bücher steht. Aber es liegt an der Sprache nicht allein; Fritz Reuters Sprache ist nicht leichter zu erfassen als die von Albert Bitzius. Es liegt wohl neben allerhand Zufälligkeiten auch daran, daß die Welt, die er so meisterhaft schildert, uns doch eben fremder ist, als die Welt eines Reuter. Schweizervolk schildert Jeremias Gotthelf wie in seinem Erstlingswerk »Der Bauernspiegel«, das zwei Jahre vor dem Immermannschen »Oberhof« das Licht der Welt erblickte, so in allen seinen späteren Erzählungen, von denen hier nur einige genannt sein mögen: »Uli der Knecht«, »Uli der Pächter«, »Leiden und Freuden eines Schulmeisters«, »Käthi die Großmutter«, »Elsi die seltsame Magd«, »Wie Joggeli eine Frau sucht«. Ganz scharf prägt sich seine Erzählweise bereits im »Bauernspiegel« aus. Da berichtet er aus seiner eigenen Jugend: vom wohlhabenden Hof des Großvaters, auf dem er die ersten Jahre verbracht, vom harten Mühen des Vaters in eigener Pacht, wie er nach des Vaters Tod von der Gemeinde vergeben wird und was für verschiedene Bauernhäuser er so kennen lernt, wie er dann zum Knecht emporwächst und im Ausland sein Heil sucht, schließlich aber nach der Julirevolution ins Vaterland zurückkommt. Fast alle Themata, welche er später behandelt, sind in diesem, das gesamte Leben des Schweizer Bauern umspannenden Roman schon angerührt; nur daß einzelne Seiten desselben dann in besonderen Erzählungen gründlicher und breiter besprochen werden. Aber überall regiert das Heimatsleben, die Schweizer Art, das Bauernwesen. Und eben darin liegt Jeremias Gotthelfs Kraft. Seine Erzählungen sind gar nicht reich an Handlung; kein größerer Gegensatz als der zwischen seiner ruhigen Nüchternheit und den phantastischen Schreckgeschichten eines Amadeus Hoffmann! Sie entbehren der spannenden Verwicklung; er verschmäht es, allerhand Knoten zu knüpfen, in deren Lösung der Dichter alsdann besondere Fingerfertigkeit aufweisen könnte. Wie einfach und schlicht geht der »Bauernspiegel« seinen Weg! Jede Episode im Leben des Kindes macht einen Abschnitt aus; jeder neue Bauernhof, auf den er für ein oder zwei Jahre kommt, ist als kleines Kabinettstück für sich gezeichnet. Keine Spannung, die nicht lediglich aus der Sache selber käme, aus der Anteilnahme an dem Menschenkind, das von sich berichtet und das von jung auf so mühsam durchs Leben gehen muß, und aus dem Interesse, welches die Menschen einflößen, mit denen es zu tun hat. Und alle diese Personen sind Alltagsmenschen, Durchschnittsgeschöpfe; da ist kein verwickeltes psychologisches Problem, da ist nichts Geheimnisvolles; im Gegenteil, alles ist sonnenklar. Wo ja etwas dunkel wäre, da leuchtet der Erzähler sicher alsbald dahinter, -- wie z. B. hinter das lichtscheue Treiben jenes guten Ehepaars, das mit Botengängen und Vermittlerdiensten, mit ein bischen Aberglauben und einem guten Teil Unredlichkeit sein Leben liederlich, aber angenehm zu fristen versteht. Die Schilderung mag manches Mal schier gar zu sehr in die Breite gehen; sie ist auch sicher nicht selten allzu nüchtern, vor allem wirkt sie zu stark moralisierend. Das ist vielleicht überhaupt die größte Schwäche des trefflichen Gotthelf, daß er den Leser die Moral nicht selber ziehen läßt, sondern daß er sie ihm aufdrängt. Der Hofschulze in Immermanns »Münchhausen« zog auch Moralen; und der Jäger nennt sie hausbacken. Aber sie sind doch noch poetischer als die erziehlichen Anwandlungen des Schweizer Erzählers. Sie werden zugeben, daß ich die äußere Erzählungskunst Gotthelfs nicht allzu rosig geschildert habe. Aber je weniger man sie rühmen kann, um so klarer werden seine eigentlichsten Vorzüge, oder, wie man mit gutem Grund sagen kann, sein eigentlicher Vorzug. Der besteht in der wunderbar engen Beziehung, in welcher er zum wirklichen Leben des Schweizer Bauern steht. Im ganzen Gotthelf nichts Unnatürliches, Gemachtes, Künstliches, Aufgebauschtes, Übertriebenes; überall nichts als Wirklichkeit, nichts als Natur. Seine einzige Kunst ist die, die Natur wiederzugeben; aber ~diese~ Kunst hat er aus dem Grunde verstanden. Er greift bis in die Tiefen der Natur, auch bis in die Tiefen des Gemüts. Er zeigt Roheit und Feinheit auf, Hartherzigkeit und Gutmütigkeit, Keuschheit und Reinheit, aber auch Sünde und Schande. Er schont seine Bauern nicht; von der Bauernidylle, die Immermann verabscheut, ist auch er himmelweit entfernt. Um das alles deutlicher zu machen, greife ich ein paar Bilder heraus, in denen Gotthelf Mädchentypen zeichnet. Da ist das Vreneli, das wunderliche, das mit dem Uli Hochzeit machen will und doch keinen Tag findet, an dem es ihm recht wäre, zum Pfarrer zu gehen, um die Hochzeit zu bestellen. Am Montag hatte das Vreneli seine Schuhe noch nicht vom Schuhmacher, am Dienstag schien ihm der Mond zu heiter. Alle Leute würden es ja kennen durch das ganze Dorf, sagte es. Am Mittwoch war das Zeichen im Kalender -- es war der Krebs -- ihm nicht gut genug, auch sei der Mittwoch ja eigentlich kein Tag, behauptete es. Es ziehe an diesem Tag ja kein Dienstmädchen ein, und so sei das Hochzeitangeben noch wichtiger als einen Dienst anzutreten, wo man ja das ganze Jahr daraus könne, wenn man wolle. Schließlich gehen sie denn am Donnerstag in fürchterlichem Schneegestöber, an einem Abend, wo der Wind schaurig pfeift und die Nacht dick und finster zu den Fenstern einkam. Und der Pfarrer sagt ihnen das treffende Wort: »Was von Gott kommt, das läßt sich alles tragen, wenn zwei in Gott eins sind, aber wenn der Eigensinn oder die Wunderlichkeit oder die Leidenschaft von Mann oder Weib Unglück über eine Ehe bringen, Ärgernis und Elend, und das Unschuldige muß mit aus dem bitteren Kelch trinken, muß bei jedem Zuge denken: daran ist mein Gatte schuld; wenn er nicht wäre oder anders wäre, so wäre das auch nicht, da wird das Leben ein Wermutstrank und der Gang durchs Leben ist noch viel ungestümer als euer heutiger Gang.« -- Da ist ferner Elsi, die seltsame Magd. »Elsi verrichtete, was sie zu tun hatte, nicht nur meisterhaft, sondern sie sah auch selbst, was zu tun war, und tat es ungeheißen, rasch und still, und wenn die Bäuerin sich umsah, so war alles schon abgetan, als wie von unsichtbaren Händen, als ob die Bergmännlein dagewesen wären.... Daneben hielt Elsi nichts auf Reden, hatte mit niemandem Umgang, und was sie sah im Hause oder hörte, das blieb bei ihr, keine Nachbarsfrau vernahm davon das Mindeste, sie mochte es anstellen, wie sie wollte. Mit dem Gesinde machte sich Elsi nicht gemein. Die rohen Späße der Knechte wies sie auf eine Weise zurück, daß sie dieselben nicht wiederholten, denn Elsi besaß eine Kraft, wie sie selten ist beim weiblichen Geschlechte, und dennoch ward sie von denselben nicht gehaßt.« -- Da sind die fünf Mädchen, »die im Branntwein umkommen«, freilich nicht anziehend, aber doch nach der Natur beschrieben, wie sie in der Schenke sitzen. »Die Wirtin brachte die Maß, die Mädchen schenkten ein; aber es sah aus wie Branntwein, es roch wie Branntwein, sie tranken es, wie man den Branntwein trinkt; ja wahrhaftig, es war Branntwein!« Unter ihnen ist Marei mit dem unverschämten Gesicht, dessen Züge nichts als Frechheit ausdrücken, da ist Elisabeth, unbeholfen und schwammig. »Stüdeli wurde das dritte genannt; es hatte ursprünglich schöne Züge, von der Seite sogar etwas Nobles. Aber erdfarb war seine Haut, blaß die Lippen, zahnlos und krankhaft groß der Mund und glanzlos die großen, tiefblauen Augen. Es war lang und hager, reinlich angezogen und tat zimperlich. Man sah ihm von weitem an, daß es eine Näherin war. Manchmal dünkte es Einem, als flackere etwas Besseres in ihm auf und als gieße es den Branntwein nur herunter, um das Bessere zu dämpfen, sich zu betäuben. Das gab ihm etwas Träumerisches, das aber immer mehr in etwas Stierendes ausartete, je länger es trank.« Doch genug der Einzelbilder! Jeremias Gotthelf ist groß in ruhiger, nüchterner, aber plastisch wahrer Wirklichkeitskunst. Erzählungen haben wir von ihm, nicht Romane: dazu fehlt seinen Schöpfungen die umfassende, vielseitige Art, die Kraft fortschreitender Handlung, die Spannung, welche in der Lösung von Fragen des Lebens und der Psychologie liegt. Die Helden dieser Erzählungen erleben mancherlei, tun mancherlei, aber das ist nicht die Hauptsache. Für Gotthelf dreht sich alles und jedes um die Frage: Wie ~sind~ die Menschen? Was tun sie, weil sie so geartet sind, weil diese Sitten sie binden? Mit anderen Worten: es ist ~keine Romankunst, aber Naturkunst~. Die Wirklichkeitswiedergabe aber ist überall von ernsten sittlichen Ideen getragen. Man hat gemeint, daß seine Kunst naturalistisch sei. Gewiß ist sie das; derb genug ist sie auch. Wäre sie es weniger gewesen, so wäre sie nicht wahr gewesen. Aber er ist nirgends bloß-naturalistisch; durch jede Schilderung auch des Schlimmen will er wirken, will er bessern. Neben Jeremias Gotthelf stelle ich unmittelbar Berthold ~Auerbach~, den Verfasser der »~Schwarzwälder Dorfgeschichten~«, deren erste 1843 erschienen sind. Sie sind ja weithin bekannt geworden, bekannter als Jeremias Gotthelfs Schweizergeschichten. Ein paar Titel mögen hier Platz finden: Der Tolpatsch, Die Kriegspfeife, Des Schloßbauers Wefele, Befehlerles, Sträflinge, Luzifer, Die Frau Professorin. In Anlage und Umfang sind sie recht verschieden; manche sind kurz, skizzenhaft ausgeführte Anekdoten, andere wie die drei zuletzt genannten sind reicher ausgeführt, werfen Fragen auf und führen in Konflikte hinein. Es scheint mir möglich, Auerbachs Art an einer dieser Erzählungen zu veranschaulichen; andere mögen zur Vergleichung herangezogen werden. Ich wähle als die hiefür geeignetste: »Die Frau Professorin«. Der Maler Reinhard und der Collaborator Reihenmaier durchstreifen den Schwarzwald und machen im Gasthaus beim reichen Wadeleswirt Halt. Dort gehn sie jeder seine eigenen Wege. Der Collaborator ist ein Schwärmer für Natur und Volk und sucht beides kennen zu lernen; dafür dienen ihm Streifzüge in den frischen Wald und in die Sagenwelt, die in den Köpfen rumort. Reinhard dagegen freut sich mehr praktisch mit dem Volk und an dem Volk. Ihm hats des Wadeleswirts Töchterlein Lorle angetan, von der des Collaborators Wort sagt: »Solch ein Mädchen ist wie ein Lied, das ein ferner Dichter geschaffen und zu dem ein anderer die Melodie findet, die Alles und hundertfältig mehr daraus offenbart.« Reinhard und Lorle wollen zusammen gehören. Lorle sagts ihrem Vater: »Der Herr Reinhard hat mich gern und ich ihn auch, und er will mich und ich will ihn und keinen andern aus der ganzen Welt.« Und der Wadeleswirt gibt, wennschon zögernd, nach. Lorle wird des Malers Braut und Frau, -- des Malers, der als Professor und Inspektor der Gemäldegalerie in der fürstlichen Residenz in nahen Beziehungen zum Hof stehen muß. Wohl hat Reinhard selber sichs vorgenommen, daß sie das frische Naturkind bleiben soll mitten im Trubel der Stadt: »Sie bedarf keiner anderen Welt, ich bin ihre ganze Welt.« Aber sie wird nicht seine ganze Welt, er für sich allein läßt sich in das gesellige Leben der Gesellschaft ziehen, und Lorle vereinsamt. Sie kann sich sowieso schwer in die Stadt schicken; die himmelhohen Häuser bedrücken sie, die Klatscherei der Kaffeekränzchen stößt sie ab, die steifen Formen des Umgangs sind und bleiben ihr fremd. So tritt die gegenseitige Entfremdung ein. Reinhard kommt doch nicht darüber weg, daß sie ein echtes Naturkind geblieben ist, daß sie die heimische Art nicht lassen kann, daß sie frei öffentlich vor dem Schloß mit einem schlichten Jungen aus der Heimat spricht, der als Tambour in der Residenz steht. Und es paßt ihm erst recht nicht, daß sie, selbst in der Audienz bei dem Prinzen, gleich »den Sack umkehrt, mit Kraut und Rüben«. Und Lorle fühlt immer stärker das Heimweh, je mehr er sie vernachlässigt. Endlich kommt die Katastrophe. Durch mißliebige Erfahrungen auch im Beruf geärgert, betäubt sich der Professor im Trunk, und Lorle gewinnt, als sie das merkt, die Kraft zum Entschluß, in die Heimat zurückzukehren. Am Beispiel dieser Erzählung möchte ich versuchen, Vorzüge und Schwächen der Auerbachschen Dorfgeschichten kurz darzulegen. Ich fasse, was zu sagen ist, in einige Sätze zusammen: 1. Auerbach wählt hier wie auch sonst das ~Dorfleben~ zum Stoff seiner Geschichten. Aber er will es nicht bloß schildern; er verfolgt eine deutlich hervortretende ~Absicht~. Er ~vergleicht~ Dorf und Stadt, Bauer und Städter. Und er ~entscheidet zu gunsten des Dorfs~. Freilich, wenn der Prinz die naive Meinung ausspricht, daß die Bauern die glücklichsten Menschen auf der Welt seien, so widerspricht ihm Lorle: »Man muß ja schaffen wie ein Tagelöhner und Steuern zahlen mehr als ein Baron.« Aber in der Stadt -- wieviel Gemachtes, Gezwungenes, Geheucheltes, Unnatürliches! Viel höher steht die natürliche Kraft und Einfachheit des Dorflebens! Das ist Auerbachs ~Tendenz~. Sie tritt nicht überall so stark hervor wie in »Die Frau Professorin«. Aber sie klingt überall mit. Sie macht ihn zu Immermanns Genossen; ähnlich wollte ja der ganze »Münchhausen« das Bauerntum als Kraftquelle gegenüber der Verbildung preisen. Aber sie scheidet ihn von J. Gotthelf, der nichts anderes will, als seinen Landsleuten den Spiegel vorhalten, damit sie sich bessern. 2. In dieser Tendenz liegt eine große Gefahr: diejenige ~einseitiger Schilderung~. Gotthelf brauchte diese Versuchung nicht zu bestehen, weil er die Tendenz gar nicht hatte. Immermann hat sie überwunden. Auerbach ist ihr erlegen. Nicht überall sind seine ländlichen Gestalten so ideal, wie in »Die Frau Professorin«. »Diethelm von Buchenberg« beschreibt den Entwicklungsgang eines Bauern, der, um Hab und Gut, Ansehen und Stellung zu wahren, zum Verbrecher wird. Im »Lehnhold« schafft der felsenharte Bauerneigensinn tausendfaches Unheil und Elend. Trotz alledem kann ihm der Vorwurf nicht erspart werden, daß er idealisiert. Die schlimmen Charaktere haben bei ihm leicht gleich etwas Ausnahmsweises, ihre Fehler sind wohl gar Übertreibungen berechtigter Eigenheiten. Man mag sie jedenfalls nicht so recht zur Charakterisierung des Typus verwenden. Die guten Charaktere aber verlieren vor lauter Engelsgüte den Boden der Wirklichkeit unter den Füßen. Von Lorle heißt es: »In Demut entfaltete Lorle eine Fülle des Liebesreichtums, daß Reinhard staunend und anbetend vor ihr stand. Der Schluß ihrer Rede aber war fast immer. »Ach Gott! ich bin dich nicht wert!«« Ausdrücke wie »herrliche, einzige Frau«, »Naturschatz« sind gar nicht selten. Ähnlich die anderen Personen: der Wadeleswirt in seiner Derbheit und Bravheit, der Wendelin in seiner stillen Schwärmerei, die Bärbel in ihrer rührenden Treue. Das sind Lichtgestalten, aber darum noch keine Naturgestalten. 3. Schwerer fällt zu Auerbachs Ungunsten ins Gewicht, daß er, selbst von der Neigung zu idealisieren abgesehen, in der Zeichnung seiner Bauern doch ~nicht ganz die rechten Farben getroffen hat~. Ein neuerer Beurteiler nennt seine Erzählungen »treuherzig und mit jenem gesättigten Humor im Ton, welcher dem Bauernverstand eine gewisse Überlegenheit gibt«. Das mag stimmen, aber es genügt nicht, um den Eindruck der Echtheit zu erwecken. Adolf ~Bartels~ konstatiert z. B. bei der Geschichte »Ivo, der Hairle«, daß die Entwickelung in den Hauptzügen richtig gegeben ist; »ein letztes Etwas fehlt einem aber doch«. Was ist dies letzte Etwas, das übrigens keineswegs allein bei dieser einen Erzählung fehlt? ~Bartels~ selbst erklärt: »In den letzten Gründen weiß er nicht immer Bescheid, er legt unter und deutelt hinein und erreicht nicht die absolute Echtheit, die Jeremias Gotthelf bis in die letzte Gebärde und den geheimsten Seelenvorgang aufweist.« Aber auch dies bedarf wieder der Begründung. Woran liegts, daß Auerbachs Dorfgestalten nicht absolut echt sind? Meiner Meinung nach an einem Dreifachen: Zunächst an der ~geringeren Bedeutung, welche Sitte und Brauch für seine Geschichten haben~. Theoretisch hat er die ganz richtige Einsicht gehabt: »Nicht die Sittlichkeit regiert die Welt, sondern eine verhärtete Form derselben: die Sitte. Wie die Welt nun einmal geworden ist, verzeiht sie eher eine Verletzung der Sittlichkeit als eine Verletzung der Sitte«. Hier liegt tatsächlich der Schlüssel für das Verständnis des Bauern. Mit diesem Satz hat Auerbach den Nagel auf den Kopf getroffen. Aber in der Ausführung tritt die Sitte ganz zurück. Denken wir an eine einzige kleine Szene bei Gotthelf wie z. B. an die, wo Vreneli den Gang zum Pfarrer wieder und wieder aufschiebt. Jeder Satz zeigt die Verknüpfung von Sitte und Tun. Am Mittwoch geht sie nicht, weil das als Unglückstag gilt; kein Dienstbote zieht da an. Am Dienstag ist das Zeichen des Kalenders nicht recht: die Welt des Aberglaubens tut sich auf. Am Montag scheint der Mond zu hell; die Mädchen mögen bei diesem wichtigen Gang sich nicht gern anstaunen lassen. Und so gehts fort. Das ist ein Meisterstück in der engsten Gründung von Rede und Handlung auf Brauch und Sitte. Wo fände sich ähnliches bei Auerbach? Es ginge ja auch so, daß schlichte, ruhige Schilderung der Heimatsart des Bauern die Erzählung trüge. Im »Oberhof« hat sich Immermann gar nicht gescheut, ziemlich lange Episoden zu geben, die, mit der Handlung nur lose verbunden, eben die Welt beschreiben, in welcher der Bauer lebt. Auerbach hat auch das verschmäht, bis auf dürftige Ansätze, bei denen zudem der Bauer immer gleich mit dem Städter verglichen wird. Der Hintergrund ist bei den »Schwarzwälder Dorfgeschichten« nicht genügend ausgearbeitet. Warum nicht etwas mehr Brauch und Sitte bei der Hochzeit von Reinhard und Lorle? Was für eine schemenhafte Schilderung des Sonntagmorgens im Dorf am Anfang der »Sträflinge«! Es fehlt am Hintergrund. Wir sehen und hören die Bauern, aber wir erleben nicht ihren naturwüchsigen Zusammenhang mit ihrer Scholle, mit Arbeit und Erholung, mit Ordnung und Sitte. Damit hängt dann ein Anderes eng zusammen: auch ~die Denkweise der Schwarzwälder Bauern ist keineswegs echt~. In ihre eigensten Gebiete führt Auerbach überhaupt nicht ein. Was er sie sonst reden läßt, das hat einen Anstrich von liberalen Zeitideen, der ja dazumal, in den vierziger Jahren, sich auch beim Bauernstand gefunden haben mag, der aber jedenfalls Anstrich ist, auch durchaus nichts, was die ~Eigenart~ des Bauern zu bezeichnen geeignet wäre. Es sind gute Menschen, die er vorführt, und es mögen ganz schöne Ideen sein, die sie da vorbringen. Aber Bauerngedanken sinds nicht. Schließlich trägt auch die ~Sprache~ Schuld, welche Auerbachs Schwarzwäldler reden. Helmuth ~Mielke~ erklärt sie für eine »schlichte und warme Sprache, die den Mundatem des Volkes selbst bekundet!« Das Gegenteil ist richtig. Die Worte sollen getrost für echt gelten, die Sprache ist darum doch nicht echt. Was z. B. das Lorle in der Audienz beim Prinzen alles zusammenschwatzt, das ist ganz und gar nicht dörflich schlicht; das ist forciertes, gemachtes Bauerntum. Kurz, Auerbachs Dorfgestalten haben keinen Erdgeruch; es sind Salondörfler. 4. Zur Charakteristik seiner ganzen Erzählweise mag an vierter Stelle die Art erwähnt sein, ~wie er Stoffe wählt und Probleme gestaltet~. Auch diese Art ist nicht schlicht natürlich. Gerade »Die Frau Professorin« liefert dafür den glänzendsten Beweis. Ein Künstler, der in nächster Beziehung zur Hofgesellschaft steht, heiratet ein schlichtes Gastwirtskind vom Lande. Noch dazu ein Mann, der sich gar keine Mühe gibt, ein warmes Familienleben zu gründen, bei dem es dem verpflanzten Dorfkind wohl sein kann. Und das Dorfkind seinerseits bleibt so stocksteif auf der alten Art, die doch eigentlich nur in der Negation sich zeigt, daß man wirklich ein bißchen mehr Verständnis, ein klein wenig mehr Akkommodationsfähigkeit erwarten dürfte. Das ist kein typisches Sittenbild; das ist die Geschichte einer Torheit, welche durch die Narrheit der Hauptbeteiligten auf die Spitze getrieben wird! Aber auch in anderen Erzählungen bleibt Auerbach ungern beim rein, intim Dörflichen. Überall spielt das Städtische hinein. In »Die Frau Professorin« tritt das Dörfliche nirgends für sich auf, vielmehr durchweg nur in Verbindung mit den Erlebnissen des Malers und des Collaborators. Die »Sträflinge« bringen ein ganz fremdartiges Element ins Dorfleben hinein: die aus Barmherzigkeit aufgenommenen entlassenen Gefangenen. Ich fasse mein Urteil über Auerbach kurz dahin zusammen: Er verherrlicht das Landleben, den Bauernstand. Er entnimmt dem bäuerlichen Leben seine Stoffe und seine Probleme. Aber ~er geht nicht genug in die Wurzeltiefe dörflicher Art hinein, er nimmt den Bauern nicht im Zusammenhang mit seiner Scholle. Und so lernt man den Bauernstand selbst durch ihn nicht kennen.~ * * * * * Gehören die beiden, die ich nun nenne, auch noch zu den Dorfgeschichtenschreibern? ~Otto Ludwig~, meine ich, mit seiner »~Heiterethei~« und seinem »~Zwischen Himmel und Erde~« und dann der allbekannte, reichlich gelesene und vielgeliebte ~Fritz Reuter~? Otto Ludwig kann man den Titel des Dorfgeschichtenverfassers mit guten Gründen abstreiten. »Himmel und Erde« ist eine städtische Geschichte; das Dachdeckerhandwerk bildet ihren Mittelpunkt. Zudem liegt es ihrem Schöpfer gar nicht am Herzen, Sitte und Art zu zeichnen; keine Erzählung, die tiefer ins Psychologische ginge und weniger über das Psychologische hinausginge als diese. Ein Meisterstück an Feinheit, Geschlossenheit, Entwicklung, Spannung und Kraft! Wer sie noch nicht las, sollte sie eilig zur Hand nehmen! Aber eine Dorfgeschichte? -- Nein. Und auch die »Heiterethei« liegt ein Stück ab vom Oberhof und von Jeremias Gotthelf; am wenigsten vielleicht von Auerbach. Nicht das Dorf ist ihr Schauplatz; ein Städtchen ist der Tummelplatz ihrer Gestalten. Hier leben der hustende Weber, der Schneider, der trotz seiner dreißig Jahre von seiner baumlangen Stiefmutter als der »Jung« betrachtet und bis zu den handgreiflichsten Konsequenzen auch so behandelt wird, der Morzenschmied, der ein Schabernack ist, obwohl er immer so duchsig tut. Hier hausen und klatschen die wichtigen und die minder wichtigen Weiber, die Gringelwirts Valtinessin, die das Recht hat, von allen Frauen am vornehmsten zu träumen, und vor deren Übelnehmen die anderen alle sich fürchten, -- die Frau Tüncherin, die der Valtinessin gleich gern zugesteht, daß der Hahn, den sie im Traum hat krähen gehört, kein rechter Luckenbacher gewesen ist, weil er ander Wetter gekräht hat, was die Valtinessin doch nicht wahrhaben will, -- da ist die Weberin und die Schmiedin, die, während ihr Mann ihr halb wider Willen etwas Neues berichtet, schon immer im Geist beim Kaffeeklatsch ist und sich selber sieht, wie sie unter allgemeiner Spannung die Neuigkeit weitererzählt. Im Städtchen Luckenbach aber hausen vor allem auch die beiden Hauptpersonen, die Dorle mit dem blonden Zopf und den vollen Lippen, die so munter ist, daß man sie Heiterethei genannt hat: »Der Name tanzt ordentlich wie das Mädle selber.« Ein Prachtmädel, diese Heiterethei! Kein braver Mädel im ganzen Städtel; aber auch keins mit einem flinkeren Mund. Mit dem Schiebkarren fährt sie zum Markt; auf dem kräftigen Karren ruht ein tüchtiger Strick. Nun fragt der Schneider: Aber was willst du dir nur holen damit? Einen Mann, lachte der Schmied. Einen Schmied, entgegnete das Mädchen ernsthaft. Die muß man mit Stricken binden, wenn sie vom Markt heim nicht in jedem Wirtshaus einkehren sollen. Die Schneider nicht? fragte der Schneider fast neidisch. Auch, sagte das Mädchen, nicht wegen der Wirtshäuser, nur, daß sie der Wind nicht vom Schiebkarren bläst. Du mußt den Holder-Fritz frein, hustete der Weber. Wenn ihr einen Jungen kriegt, der jagt den Kirchturm von der Kirch' und zur Stadt hinaus. Das käm' zu spät, sagte das Mädchen ruhig. Bis dahin habt ihr ihn hinausgehustet. Wo stellt ihr ein auf dem Markt, Annedorle? fragte der Schmied. Heimwärts führen wir uns. Ihr werdet wohl einen brauchen, der euch führt, sagte das Mädchen; ich nicht. -- Und neben der Heiterethei steht der Holder-Fritz, der flotte und lustige Holder-Fritz, der nachher mit einem Mal anders wird. Wie der Holder-Fritz und die Heiterethei, beide starke, trotzige Seelen, sich mögen und sich trotzen und endlich sich einigen, das beschreibt alles die »Heiterethei«. Eine Dorfgeschichte ist das nicht, aber weit davon ists auch nicht. Das Städtchen ist ja eins von denen, in deren Tätigkeit Ackerbau und Gewerbe sich teilt. Und eine Volkserzählung ists ganz gewiß. Nur nicht so schlicht, wie die von J. Gotthelf; der kann einem hiergegen beinahe pedantisch vorkommen. Und auch nicht so gravitätisch wie der Oberhof. Nein, viel flotter, lustiger, leichter geschürzt. Und doch viel mehr Kompositionskunst, viel mehr Entwicklungsenergie, viel mehr psychologische Feinmalerei als nüchterne Beschreibung. Eine Volkserzählung, die den Titel »Novelle« vollauf verdient, weil sie ein sorgsam bedachtes Kunstwerk ist. Der Realismus ist freilich nicht mehr Alleinherrscher; er hat den Humor und die Satire zur Seite. Ein prächtiges Gegenstück zu dieser Art bildet unser lieber ~Fritz Reuter~. Was brauche ich da Titel aufzuzählen? Ihn kennt ja ein jeder. Freilich, vor allem meine ich und denke ich an seine »Stromtid«, dies Buch, das dem deutschen Volk, wenigstens dem gebildeten Teil desselben, so ganz zu eigen geworden ist. Auch Fritz Reuter ist Volkserzähler. Seine Dichtung wurzelt mit tausend Wurzeln im mecklenburgischen Land, im norddeutschen, ja im ganzen deutschen Volk. Hawermann und seine Lowise, Unkel Bräsig, die lütte Fru Pastern, Jochen Nüßler und die Madam Nüßlern, die Druwäppel Mining und Lining, sind das nicht wundervolle ländliche Charaktergestalten? Giebts nicht desgleichen Pomuchelsköppe sowohl wie Rambows, Kandidaten wie Rudolf und Gottlieb, Eleven wie den famosen Triddelfitz überall im deutschen Land? Und blickt man nicht tief, tief hinein in des Landmanns Last und Lust, in der Fru Pastern Freud und Leid, in der Tagelöhner Arbeit und Sorgen? Ja, Reuter greift tief hinein ins Leben des Volks, ins Herz des Volks. Er ist zugleich in alledem klar, treu und wahr. Und darum gehört, was er geschrieben, zur Volkserzählung. Und es gehört unter ihren Schöpfungen nicht an den letzten Platz. Nur bleibt dem, der die Eigenart der Erscheinungen gegen einander abwägt, doch die Pflicht, seiner Art innerhalb der Volkserzählung ihren ganz besonderen Platz anzuweisen. Reuter steht Otto Ludwig und seiner »Heiterethei« der Art nach am nächsten, wie er übrigens auch der Zeit nach mit ihm eng zusammengehört. Die »Heiterethei« erschien 1854, »Zwischen Himmel und Erde« 1856, während Reuters literarische Tätigkeit 1853 mit den »Läuschen un Rimels« begann und dann bis 1862-64, der Zeit der »Stromtid«, währte. Wie Ludwig führt auch er nur nebenbei in alle die Sitten und Zustände ein, in Volkes Sonderwesen und Eigenbräuche. All das spielt hinein, aber es klingt nur leise mit. Ein Milieudichter ist Reuter nicht, ein naturalistischer -- trotz ein paar derber Stellen -- erst recht nicht. Ihm hebt sich aus allem der Mensch heraus; der bleibt ihm die Krone, die alles andere zurücktreten läßt. Und das hat zur Folge, daß die Heimatsfarbe, der Erdgeruch minder deutlich wird. Sobald der Dichter den Menschen vor allem als Menschen nimmt und nicht als Schweizer oder Schwarzwälder oder Mecklenburger, sobald werden die Konturen der Zeichnung blasser. Reuter und Ludwig haben das getan. Und wie Ludwig hat auch Reuter mindestens in der »Stromtid« die einfach fortschreitende Form der Erzählung verlassen; ja, die »Stromtid« ist noch in anderem Sinn ein formgerechtes Kunstwerk als die »Heiterethei«. Sie steht in dieser Hinsicht am besten mit »Zwischen Himmel und Erde« zusammen. Nur daß dies durch und durch Novelle ist, während die »Stromtid« ebenso durch und durch Romancharakter hat. Wir mögen sie nur deshalb nicht gern so nennen, weil wir bei dem Wort Roman jenen fatalen Nebensinn mitzudenken gewohnt sind, der doch gar nicht dazu gehört und der zu dem Einfachen, Schlichten, Volkstümlichen in Reuter nicht stimmen will. Aber an der Tatsache ändert das nichts: die »Stromtid« ist in Anlage und Durchführung, in Vorbereitung, Konflikt und Lösung ein volles, rundes Meisterwerk der künstlerisch gestalteten Prosadichtung. Und auch das gibt ihr neben der schlichten Volkserzählung ihre besondere Stellung. Endlich aber, und das ist das Beste, merkt man es Reuter ganz deutlich an: ihm liegt am bloßen Malen überhaupt herzlich wenig. Ihm ist des Dichters Aufgabe anders gefaßt: nicht einen Spiegel hält er den Menschen vor, sondern er zieht sie mit all ihrem Denken, Wollen und Fühlen hinein in das Menschengeschick, das er vor den Lesern sich aufrollen läßt. Ihm darf der Leser nicht objektiv über dem Stoffe stehen bleiben, kein Beobachter sein, der sich freut, wie gut die lieben Menschenkinder von da und von dort abkonterfeit sind. Hier müssen sie miterleben, mitfühlen, mitjauchzen, mittrauern, ja unbedingt auch mitweinen! Wir wissen alle, wie trefflich ihm das gelungen ist; wer hat nicht selber mit durchgemacht, was die Leutlein alle dort im mecklenburgischen Dorf erlebt haben! Reuter hat es wie kein Zweiter verstanden, den Menschen bei ~der~ Seite zu fassen, bei der er am ehesten kühle Zurückhaltung, kritische Laune und objektiven Stolz verliert: beim ~Gemüt~. Lustig sein und traurig sein, beides mag das deutsche Gemüt gern. Reuter hat ihm beides gegönnt; so herzinnig lachen und so herzbrechend weinen, wie bei der Lektüre der »Stromtid«, kann man kaum bei einem anderen Buch. Vielleicht hat er die Gemütssaite ~zu~ oft angeschlagen? Ich will nicht streiten; aber rührselig ist er doch nicht geworden. Es dominieren doch der stille Ernst und der fröhliche, selige, goldene Humor. Fritz Reuter muß man lesen, wenn die Menschen, die sich lieb haben, um den Lampenschein traulich zusammengerückt sind; am allerbesten zur Weihnachtszeit, wenn das Herz ein bischen stärker klopft, als es sonst wohl tut. Aber ich breche ab. Was hab' ich gewollt? Die Volkserzählung aus der Mitte des Jahrhunderts galt es zu charakterisieren. Von 1839, da Immermanns »Münchhausen« erschien, sind wir bis zum Anfang der sechziger Jahre gewandert, in denen Fritz Reuter die »Stromtid« schuf. Zwei reichliche Jahrzehnte, gerade die Mitte des Jahrhunderts ausfüllend! Für literarische Entwicklung doch eine kurze Spanne Zeit. Trotzdem ist gerade auf diesem Gebiet Reichliches in ihr geschehen. Wo blieb die träumende Romantik? Der Geruch der Scholle vertrieb sie. Die einfache, derbe, nüchterne Wirklichkeit heischte ihr Recht. Man packte sie, wo sie am wirklichsten war, im Bauernleben. Man wollte nichts haben als Wirklichkeit. Wer viel Süßes gegessen, hungert nach einem Bissen Brot! ~Was Kunstform und Problem? Was Konflikt und Lösung? Leben! war die Losung, nur Leben.~ Aber auch diese Forderung hatte ihre Zeit. Zwar ins schlichte Leben hineingreifen, nicht bloß ins wunderbare, das wollte man auch weiter. Aber der Mensch, die Seele, das Gemüt ward wichtiger als die Natur. Und die Kunstform stellte sich wieder ein. Sie hatte an Schlichtheit von ihrem Gegenstand gewonnen; und sie half so auch der Volkserzählung zur künstlerischen Vollendung. Aber Kunst und Natur vertragen sich schwer; auch hier trat die Natur ins zweite Glied. Immerhin, man hatte gelernt, zu sehen und Gesehenes zu zeigen. Man blieb wahr und man blieb nüchtern. ~Die Romantik war tot; die Wirklichkeit hatte gesiegt.~ Der tendenziöse Zeitroman. Der Roman tritt in gewollte, neue, enge Verbindung mit der Wirklichkeit. Goethe wirkt, nicht die Romantik. Nicht in der Volkserzählung allein geschieht das: warum sollte man nur das »Volk« beachten und nicht die Welt in ihrer ganzen Breite und Weite nehmen? Lagen denn nicht tausend Anlässe vor, ihre Zustände zu ergründen, zu durchforschen, zu kritisieren? War denn nicht eine Zeit hereingebrochen, in der der Blick sich weitete und schärfte? Die Sturmesgewalten der Revolution waren im Anzug; und ihnen voraus gingen Windstöße, die alte, festgewurzelte Anschauungen aufwühlten und zu neuen Bildungen Anlaß gaben. Was Wunder, daß die öffentlichen Angelegenheiten, daß die Fragen der Politik und Gesellschaft, des Staats und der Kirche, der Aristokratie und der Demokratie in jenen Jahren vor den Stürmen von 1848 und ebenso in den folgenden Zeiten auch die Dichter nicht ruhen ließen? Auch ihr Interessengebiet wurde weit und groß: es erstreckte sich über alles das, was die Zeit bewegte. Der Roman war nicht die einzige Form der Dichtung, welche den Pulsschlag der Zeit spüren ließ. Wie hell klangen die Sturmlieder eines Herwegh und Freiligrath! Aber ~auch~ im Roman pulsierte die Zeit; er ward zum ~Zeitroman~. Konnte es anders kommen, als daß die Betrachtung der Zeit in der Dichtung zunächst alles andere war, nur nicht ruhig, kalt, unparteiisch und objektiv? Wir verstünden es nicht, wäre es anders gewesen. Eher ist die Dorferzählung mit ihrer darstellenden Art ihrer Zeit fremd als der tendenziöse Roman. Genau betrachtet, zahlt übrigens auch die Dorfgeschichte der Zeit ihren Tribut. Der »~Oberhof~« ist ja ein Kompositum einzelner Kapitel aus einem Zeitroman; er gibt Wirklichkeit, aber eben mit dieser Schilderung der Wirklichkeit verfolgt sein Verfasser eine bestimmte Absicht. In ~Auerbachs~ Erzählungen wirkt eine ganz ähnliche Tendenz; das Land wird gegenüber dem städtischen, höfischen Wesen verherrlicht. Auch die politischen Ideen spielen hier hinein. Und die ruhigsten, objektivsten Dorfgeschichten, die überhaupt geschrieben worden sind, stammen nicht aus dem vielbewegten deutschen Land, sondern aus der Schweiz, wo der Kampf um Fürstenrecht und Volkesrecht nur mitgefühlt und so miterlebt, aber damals nicht ebenso mitgekämpft wurde! ~Der Zeitroman ward also zum Tendenzroman.~ Er hat Stadien erlebt, in denen die Tendenz darin fast die Zeit tötete, d. h. in welchen die Darstellung des Bestehenden gegenüber den Plänen zum Kommenden kaum zur Geltung kam. Hierher gehören die ~jungdeutschen Romane~ aus den dreißiger Jahren. Unter ihnen ragen die Werke Heinrich ~Laubes~ und Karl ~Gutzkows~ hervor. Heinrich ~Laube~ schuf damals (1833) den ersten Teil des Romans »~Das junge Europa~«, dessen später erschienene Teile viel abgeklärtere Art tragen. Die einzelnen Bände haben Sondertitel; Bd. +I+: Die Poeten; Bd. +II+: Die Krieger; Bd. +III+: Die Bürger. Nicht das, was erzählt wird, fesselt; in der Handlung fehlt jede Einheitlichkeit, Entwicklung und Geschlossenheit. Es dreht sich alles um Liebesabenteuer der jungen Poeten, und zwar um solche, die der theoretisch verfochtenen Freiheit in Religion und Sittlichkeit vollkommene praktische Folge geben. Aber die Hauptsache sind die Ansichten, die breit und gründlich zur Aussprache und zum Siege über andere Ansichten gelangen. Der Gegensatz gegen die Romantik kommt zum scharfen Ausdruck; die gesunde Natur wird gepriesen, zugleich aber auch ihre völlige Ungebundenheit. Keine Vorschrift der Religion und keine der Moral wird anerkannt; die Natur hat Recht, auch mit ihrer Sinnlichkeit. In der Politik aber gilt selbstverständlich allein das Volk, ja sogar das Volk in verschwommener Allgemeinheit; nicht als Einzelvolk, als Nation, sondern als Summe von Weltbürgern. Es ist nicht meine Absicht, alle Romane jener jungdeutschen Epoche hier zu charakterisieren. In allen herrscht der gleiche, gärende Geist, die gleiche Auflehnung des Einzelnen gegen die hergebrachte Ordnung wie der Masse gegen das Gefüge des Staats und der Kirche. Im übrigen sind sie verschieden genug. Da ist Karl ~Gutzkows~ »~Maha Guru~« (1833), dessen Schauplatz weitab in Tibet liegt, dessen Angriffsobjekt aber doch das Christentum ist; da ist aus dem Jahre 1835 desselben ~Gutzkow~ »~Wally, die Zweiflerin~«, eine Fortsetzung dieses Kampfes gegen das Kirchentum. Die Heldin zweifelt an allem, insbesondere auch an jeder Religion. Religion ist ihr ein »Produkt der Verzweiflung«. Sie gibt sich schließlich selbst den Tod. Der Roman knüpft an an die wunderbare Tatsache, daß Karl Gutzkows Gattin Charlotte sich selbst den Tod gegeben hatte, um durch diese Tat ihren Garten mit neuer dichterischer Kraft zu erfüllen. Und wie diese Tat, welche das Werden des Romans mitbestimmte, so ist die gesamte Ideenwelt desselben outriert, überleidenschaftlich, schließlich unwahrscheinlich. Nicht vergessen soll werden, daß in »Wally, die Zweiflerin« zugleich die Frau als Frau neue Geltung beanspruchte. Die enge Verbindung, in welche hier Emanzipation der Frau und Emanzipation von aller Religion, überhaupt von allem Gewissen traten, ist für die Zukunft nicht ohne Einfluß geblieben. Aber wir eilen vorwärts. Gutzkows »~Seraphine~« (1838), sein Erziehungsroman »~Blasedow und seine Söhne~« (1838), die anderen jungdeutschen Kraftromane können nur genannt werden. Aus der Sturm- und Drangperiode des Zeitromans, die man etwa bis zur Revolution datieren kann, retten wir uns in die Periode des ~abgeklärteren Zeitromans~. Auch hier Tendenz, überall Tendenz. Aber die Tendenz macht nicht mehr die Zeitdarstellung tot; sie läßt dieser größeren Raum und größere Ruhe. Der Grad dieser Ruhe ist freilich verschieden. Zwei Klassen des Zeitromans bilden sich, jenachdem die Tendenz stärker oder schwächer ist, jenachdem die Darstellung weniger oder mehr objektiv geraten ist. Wohl gehen beide Gattungen in einander über, wohl kann man schwanken, welcher von beiden der eine oder der andere Roman zuzuteilen ist. Aber es sei dennoch gewagt, die ~Unterscheidung~ festzuhalten ~zwischen dem tendenziösen und dem objektiven~, oder, um vorsichtiger zu sein, zwischen dem mehr tendenziösen und dem mehr objektiven ~Zeitroman~. Die Zahl der Zeitromane der ersteren Art ist groß, zumal wenn man nun alsbald auch in die späteren Jahrzehnte des Jahrhunderts hineingreift. Gegen die Titanen der Revolution nimmt Stellung A. ~Widmann~: »~Der Tannhäuser~«, gegen die irreligiöse Weltanschauung Elisabeth ~Cantz~: »~+Eritis sicut Deus+~« (1854). Stark tendenziös sind die Romane von ~Spiller von Hauenschild~ (Pseud.: Waldau), von denen nur der 1851 erschienene »~Nach der Natur~« genannt sein mag. Proletarisch-sozialistische Tendenzen verfolgt Robert Prutz (besonders »~Engelchen~« 1851). Bedeutender sind die schon minder stark tendenziösen späteren Romane von Karl ~Gutzkow~: »~Die Ritter vom Geist~« (1850/51) und »~Der Zauberer von Rom~« (1856/61), die Schöpfungen Friedrich ~Spielhagens~, von denen insbesondere »~Problematische Naturen~« (1860/61), »~Die von Hohenstein~« (1863), »~In Reih und Glied~« (1866) hierher zu rechnen sind, und von noch späteren Werken diejenigen von Paul ~Heyse~: »~Die Kinder der Welt~« (1873) und »~Im Paradiese~« (1885). Zu eingehenderer Betrachtung greife ich heraus: Gutzkow »Die Ritter vom Geist«, Spielhagens »Problematische Naturen« und Heyses »Kinder der Welt«. ~Gutzkows~ »~Ritter vom Geist~« geben sozusagen das Programm des gesamten Zeitromans der zweiten Hälfte des Jahrhunderts. Ein ausführliches Vorwort gibt darüber Auskunft. Der Roman erlebt eine neue Phase. Er soll mehr werden, als der Roman von früher war. »Der Roman von früher .... stellte das ~Nacheinander~ kunstvoll verschlungener Begebenheiten dar. Diese prächtigen Romane mit ihrer klassischen Unglaubwürdigkeit! .... Oder wer sagte Euch denn, ihr großen Meister des alten Romans, daß die im Durchschnitt erstaunlich harmlose Menschenexistenz gerade auf ~einem~ Punkte soviel Effekte der Unterhaltung sammelt, daß ohne Lüge, ohne willkürliche Voraussetzung sich alle Bedingungen zu Eurem einzigen behandelten kleinen Stoffe zuspitzen konnten?« Der alte Roman ist unwahr geworden, weil er die lebenslangen Strecken, welche zwischen einer Tat und ihren Folgen liegen, beiseite warf. Er ließ dadurch die alte Wahrheit von der -- unwahren, erträumten Romanwelt siegen. »Der neue Roman ist der Roman des Nebeneinander. Da liegt die ganze Welt, da ist die Zeit wie ein ausgespanntes Tuch ...... Nun fällt die Willkür der Erfindung fort. Kein Abschnitt des Lebens mehr, der ganze runde, volle Kreis liegt vor uns; der Dichter baut eine Welt und stellt seine Beleuchtung der Wirklichkeit gegenüber. Er sieht aus der Perspektive des in den Lüften schwebenden Adlers herab. Da ist ein endloser Teppich ausgebreitet, eine Weltanschauung, neu, eigentümlich, leider polemisch. Thron und Hütte, Markt und Wald sind zusammengerückt.« Von diesem Programm verspricht sich Gutzkow Gewaltiges. »Resultat: Durch diese Behandlung kann die Menschheit aus der Poesie wieder den Glauben und das Vertrauen schöpfen, daß auch die moralisch umgestaltete Erde von einem und demselben Geiste doch noch könne göttlich regiert werden.« Diese hochfliegenden Pläne lassen wir beiseite. Ihre Haltlosigkeit liegt auf der Hand. Was aber das eben nach der Vorrede zu den »Rittern vom Geist« entwickelte Programm betrifft, so ist es, wie gesagt, in der Tat dasjenige des neuen Zeitromans geworden. Keine unwahrscheinliche Verknüpfung eines Nacheinander von Ereignissen, die in Wirklichkeit doch nicht nacheinander kommen, sondern ein Gesamtbild der bestehenden Welt in ihren mannigfachen Einzelerscheinungen soll seinen Inhalt bilden: ein Querschnitt, nicht ein Längsschnitt soll er sein. Allerdings, so sehr Gutzkow mit der Polemik gegen das ~unnatürliche~ Nacheinander Recht hat, so wenig kann der Roman nur ein ~Neben~einander geben: er müßte ja sonst auf jede Handlung verzichten. Und dann: so gewiß das Nebeneinander trefflich dazu dienen wird, ein Welt- und Zeitbild im großen Stil zu geben, -- man braucht doch nicht zu fordern, daß jeder Roman die ~ganze~ Welt schildere; warum soll er nicht ein Einzelbild herausgreifen? Mehr Natürlichkeit! Mehr Wirklichkeit! Mehr umfassende Weltdarstellung! Mit diesen Forderungen hatte und behielt er Recht. Aber der Roman muß, weil er Erzählung ist, auch Handlung geben, und er muß diese Handlung aus den handelnden Menschen ableiten. Dies ~Ineinander~, nicht bloß Nebeneinander, von Welt, Mensch und Handlung hat Gutzkow zu fordern vergessen. Die »Ritter vom Geist«, welchen Gutzkow dies kräftige Vorwort mitgegeben hat, bilden denn auch keineswegs ein absolutes Nebeneinander. Vielmehr bringen sie durchaus auch fortschreitende Handlung. Sie vergessen auch keineswegs, daß Menschenwille und -Charakter die wichtigsten Faktoren bei allem Geschehen sind; die Psychologie spielt in ihnen keine geringe Rolle. Die Aufgabe, die Welt im Querdurchschnitt zu zeigen, erfüllt dieser Roman vollauf; nur daß er hierin sogar des Guten zuviel getan hat. Neun Bücher! Und keineswegs kurze! Wahrlich, es war nötig, daß der Verfasser am Anfang der Vorrede dem Leser zurief: »Es wird eine lange, weite Wanderung werden, lieber Leser, zu der ich dich auffordere! Rüste dich mit geschäftslosen Sonntagsvormittagen und einem guten, aushaltenden Gedächtnis! .... Werde nicht müde, wenn du unabsehbare Ebenen erblickst, sich der Weg zwischen gefahrvolle, nicht endende Gebirgspässe zwängt, oder die Landstraße plötzlich sich wie in die Wolken zu verlieren scheint!« Diese unsagbare Breite dieses Romans, wie auch des folgenden »~Der Zauberer von Rom~«, hat es denn glücklich zu Wege gebracht, daß kein Mensch mehr sie liest. Ein halbes Jahrhundert -- und sie sind vergessen! Soll ich Ihnen die Fabel der »Ritter vom Geist« darzustellen versuchen? Sie macht die Bedeutung des Romans nicht aus. Im Gegenteil; sie ist neben der ungeheuerlichen Breite seine Schwäche. Die Handlung angesehen, ist man versucht, dem Werk schlankweg den Titel des Abenteurerromans zu geben. Vor allem ists nicht ~ein~ Faden, den der Dichter verfolgt, sondern eine ganze Zahl. Nr. 1: Die Brüder Wildungen glauben Anspruch auf Besitztum zu haben, das in Händen des Templerordens war. Der eine der Beiden entdeckt die beweisenden Urkunden, verschlossen in einem hölzernen Schrein. Eben dieser wird ihm gestohlen. Er sucht ihn und erlebt auf der Suche Abenteuer um Abenteuer. Er wird eines verkleideten Prinzen nächster Freund und Duzbruder, wird selbst für eben diesen Prinzen gehalten, verliebt sich in dasselbe Mädchen, welches der Bruder liebt. Endlich, endlich kommt der Schrein zum Vorschein, der Prozeß wird gewonnen. Inzwischen ist aber der eine Bruder ins Gefängnis geworfen, aus dem er abenteuerlich befreit wird. Ein Feuer, das im Wirtshaus ausbricht, vernichtet den Schrein. -- Nr. 2: Das Fürstentum Hohenberg ist vakant; der Erbe lebt im Ausland, mag auch die Erbschaft nicht antreten, weil die Passiva größer sind als die Aktiva. Als Handwerksbursch verkleidet, kommt er doch in die Heimat, ins fürstliche Schloß. Dort will er sich eines Bildes bemächtigen, in welchem wichtige Familienpapiere aufbewahrt sind. Als Dieb wird er in den Turm geworfen. Jener Wildungen, der dieses Prinzen Duzfreund so rasch geworden ist, nützt, um ihm das Bild zu verschaffen, die Liebe seiner Angebeteten aus. Diese benützt listig ein Rendezvous mit einer Exzellenz im Möbelwagen als Mittel, das Bild zu beschaffen. Es kommt in die Hände des Prinzen; der Prinz ist aber gar nicht der legitime fürstliche Erbe, sondern der Sproß eines illegitimen Verhältnisses der Fürstin. Sein richtiger Vater ist gerade aus Amerika heimgekehrt ... Der Pseudoprinz wird späterhin Minister. Nr. 3: Im Haus eines angesehenen Justizrats wird ein Junge erzogen, der, gleichfalls von illegitimer Geburt, Sohn einer vornehmen Dame und eines Verbrechers, allerhand gefährliche Instinkte besitzt. Er bringt die Tochter des Justizrats in Gefahr, er macht kostbare Pferde rasend, indem er ihnen Spitzkugeln in die Ohren praktiziert, er nachtwandelt in allen möglichen Situationen, erschreckt die justizrätliche Familie, besonders jene Tochter; schließlich kommt er in eben jenem Brande um, in welchem der Schrein sein Ende findet. Und an diese Nummern 1-3 könnte ich leicht weitere knüpfen. Aber zur Charakteristik des Ganzen genügt es, wenn allenfalls noch hinzugefügt wird, daß die Verwechselungen, die Mißverständnisse und endlich die Aufklärungen der Handlung an mehr als einer Stelle auf die Sprünge helfen müssen. Es leuchtet ohne weiteres ein, daß mit dieser Handlung kein Staat zu machen ist. Was Gutzkow am alten Roman aussetzte, hat er selbst nicht vermieden: klassische Unglaubwürdigkeit, farbenreiche Gebilde des Falschen, Unmöglichen, willkürlich Vorausgesetzten. Er selber nannte die Menschenexistenz im Durchschnitt erstaunlich harmlos. Und was für Merkwürdigkeiten hat er dann -- nicht nacheinander, aber doch eng nebeneinander -- gehäuft! Die Bedeutung des Romans -- er besitzt solche trotz alledem -- liegt also anderswo. Sie liegt lediglich in dem Zeitbild, welches er in bisher ungekannter Gründlichkeit gibt. Es entbehrt nicht der Tendenz; hatte doch schon das Vorwort gesagt, der Dichter stelle seine Beleuchtung der Welt derjenigen der Wirklichkeit gegenüber. »Da ist ein endloser Teppich ausgebreitet, eine Weltanschauung, neu, eigentümlich, ~leider~ polemisch.« Die eigene Stellung des Dichters läßt aber doch auch die anderen Strömungen zu ihrem Rechte kommen. Um das Preußen nach 1848 handelt sichs. Die Reaktion ist oben auf; sie wird verdeutlicht durch den »Reubund«. Der hat es sich zur Aufgabe gesetzt, durch Einwirkung auf die öffentliche Meinung dem Fürstenhaus zu erkennen zu geben, daß das Volk die revolutionären Stürme bereue. Die kirchliche Reaktion stellt Propst Gelbsattel dar, ein Mann von konservativster Gesinnung, ein Bewunderer der Jesuiten, die mit ihrer Organisationskunst und ihrer Lebenskraft sich die Aufgabe gestellt haben, die geistige Herrschaft der Kirche zu retten. Neben diesen prinzipiellen Vertretern der Reaktion stehen Typen eines praktischen Realismus: an ihrer Spitze der Justizrat Schlurck, der wohl »Anfälle von Aberglauben, ja von Mystik« hat, im Grund aber ein völlig grundsatzloser Zweifler ist. »Die Staatsformen wechseln, aber die Forellen bleiben,« das ist sein Grundsatz. »Ein Mann in meiner Stellung, .... was kann der tun, wenn man ihm sagt: Das Interesse des Staats verlangt jetzt auch Ihre Beihülfe! Auch Sie müssen teilnehmen an der Wiederherstellung der Monarchie und des sicheren Kraftgefühls der Regierung! .... Sehen Sie, schon das ist ja etwas wert, wenn es die Reaktion durchsetzt, daß Einer mit Behaglichkeit wieder in ein Bad reisen kann.« »Ich war Mitglied aller Bibelgesellschaften, aller Missions-, aller Gustav-Adolfvereine. Ich hielt mich anfangs zum konstitutionellen Angstklub, ich bin jetzt Reubündler; was soll ich mich dabei aufhalten, den Leuten zu sagen, warum .... ich es nicht bin.« Dem gleichen politischen Realismus huldigt auch Pauline von Hardenberg, eine Schriftstellerin nach Art der Jungdeutschen, dann plötzlich übertriebene Monarchistin, Hauptanstifterin kontrerevolutionärer Schläge, schließlich aber wieder Führerin der Fronde, weil ihr glühender Ehrgeiz nicht erfüllt wird, zu den kleinen Zirkeln zu kommen, die sich um das Herrscherpaar versammeln und in denen »das System« gemacht wird. Ihnen allen gegenüber stehen die Ideen des jungen Prinzen, die er allerdings nicht in die Praxis umsetzt. Auch er ist Neuerungen nicht abhold. »Solange nicht die Arbeit selbst an den Thron für sich redend tritt und die Bureaukratie aufhört, der Dolmetscher der Interessen der Arbeit zu sein, kann es nicht besser werden. Es fehlen uns Staatsmänner, die ihre Schule im Volke gemacht haben.« Der Staat darf sich nicht nur auf die Institutionen der Gewalt stützen; er muß sich durch den Schutz der Arbeit, der Industrie, des Handels, des Ackerbaus befestigen. Der Adel ist nicht aufzuheben, sondern ihm ist das natürliche Nachwuchssystem zu belassen. In manchem verwandt und doch viel radikaler sind die Anschauungen Dankmars Wildungen, die des Dichters eigene wiedergeben. Er vertritt die Demokratie. Fort mit den Vorrechten des Adels nicht nur, sondern fort mit diesem selbst! Sonst ist kein Heil für die Menschheit. Dies Heil liegt in der Fortbildung der Freiheit. Mit dem Bestand von Dynastien könnte er sich aussöhnen, wenn er darin diese Fortbildung gesichert sähe. Aber die Monarchie ist ein Hindernis der Freiheit, denn sie züchtet durch Ehrenzeichen und Titel die Eitelkeit. Anderseits will auch er keine Revolutionen, keine allgemeine Zerstörung. Darum predigt er eine andere Gleichheit als die der Volksversammlungen, als die des Pöbels. Die besonnene Demokratie schwebt ihm als Ideal vor, und in ihrem Namen ruft er die Ritter vom Geist zum Bund gegen die Reaktion auf. Die Einzelheiten dieses Bundes sind etwas romantisch gedacht, aber wir können sie getrost beiseit lassen. Wir sehen: die Gedankenwelt des Romans führt uns tief, sehr tief in die Politik. Ein Bild der politischen Zustände und Meinungen gibt Gutzkow, das allseitig orientiert und mit staunenswerter Treue durchgeführt ist. Das Preußen nach der Revolutionszeit, die Zustände am Hof Friedrich Wilhelms +IV.+, die politischen Strömungen, die Geistesrichtungen -- das alles ist scharf erfaßt und klar wiedergegeben. Und das ist es, was diesen Roman vor vielen anderen auszeichnet. Er ist in der Anlage der Handlung mißglückt, durch seine unendliche Breite ungenießbar, er ist weitab von der Kunst, Handlung und Mensch wirklich in Eins zu setzen und so die Handlung aus den Menschen hervorgehen, die Menschen aus ihrem Handeln klarwerden zu lassen. Aber er betont mit all seiner Einseitigkeit wirkungsvoll die Aufgabe des Romans, ein wahres Weltbild zu geben. Und darum darf er nicht vergessen sein. Wir überspringen genau ein Jahrzehnt. Aus den Jahren 1860/61 bezw. 1863 stammt ein anderer, gleichfalls weitberühmter politischer Tendenzroman, der aber in seiner Eigenart nicht nach den Gutzkowschen beurteilt werden darf: ~Friedrich Spielhagens~ erster großer Roman: »~Problematische Naturen~«, dessen Fortsetzung dann die Bände »Durch Nacht zum Licht« bilden. Das Werk führt auf die Insel Rügen, in die Kreise des Landadels. Ins Schloß Grenwitz kommt als Hauslehrer Oswald Stein, ein idealistisch gerichteter Demokrat und Adelshasser. Ihm schließt sich eng der ältere seiner Schüler an, ein Verwandter des Hauses, namens Bruno. Oswald bewährt noch eine andere merkwürdige Anziehungskraft: die Frauen fliegen ihm zu wie die Motten dem Licht. Frau Melitta von Berkow, deren Mann in geistiger Umnachtung lebt, wirft sich ihm in schrankenloser Liebe an den Hals, die jungen adligen Damen reißen sich um ihn, endlich wendet sich ihm auch das Herz der schönen Tochter des Hauses, Helene, zu. Diese Helene aber soll einen verlebten Verwandten, Felix von Grenwitz, heiraten. Sie schlägt ihn aus; die jungen Adligen provozieren zugleich einen Streit mit Oswald, der sie im Pistolenschießen und bei den Damen aussticht. Im Duell verwundet er Felix schwer. Bruno stirbt in gleicher Nacht und Oswald verläßt das Haus. Oswald ist aber, wie durch den leichtsinnigen Geometer Timm herauskommt, niemand anders als der uneheliche Sohn des früheren Herrn von Grenwitz, der berechtigte Erbe zweier Güter des Grenwitzschen Besitzes. Soweit die Erzählung in den »Problematischen Naturen«. »Durch Nacht zum Licht« führt in die Revolution hinein, der auch Oswald Stein zum Opfer fällt. Wie Gutzkows »Ritter vom Geist« die Zeit ~nach~ 1848, so schildern die »Problematischen Naturen« die Zeit ~vor~ 1848. Aber das Bild, das sie geben, ist weder so umfassend noch so wahr. ~Nicht so umfassend~: denn wenn auch die wichtigsten Schichten der Gesellschaft ihre Repräsentanten finden, so ist doch bei ihrer Zeichnung viel stärker als bei Gutzkow das persönliche, individuelle Moment betont. Gutzkow gibt Typen bestimmter Anschauungen, charakteristischer politischer Richtungen. Ihn interessiert der Mensch fast nur, soweit er politische Anschauungen hat. Spielhagen geht viel tiefer ins Psychologische hinein. Er vergißt nicht, daß der Mensch in erster Linie als Einzelwesen, und erst sehr in zweiter Linie als ζῶον πολιτικὸν in Frage kommt. Eben darum vermag er es nicht, derart umfassend, wie Gutzkow getan, die Zeit zu schildern. Wenn aber Gutzkows Forderung, daß der Roman den ganzen Weltteppich zu schildern habe, unberechtigt ist, so liegt eben in Spielhagens Selbstbeschränkung Kunst und Einsicht. Ein Zeitbild gibt er ja trotzdem: es beschäftigt sich vor allem mit den Kreisen des Landadels. Daneben stehen aber auch Typen des Bürgertums: der Universitätsprofessor, der Landpastor, Landärzte, ein Kandidat der Theologie, der umsattelt und Mediziner wird, ein Geometer, eine Haushälterin, endlich eine Zigeunerin und ein paar Landleute. Das Bild ist kleiner als das Gutzkowsche; groß genug ists immerhin. Schwerer wiegt, daß es ~nicht so wahr~ ist wie dasjenige Gutzkows. Ich rede hier nicht von der ländlichen Umgebung, die freilich, soweit sie nicht in Meer, Kreidefelsen und Wäldern besteht, kein Leben gewinnt. Die paar Gestalten, welche hier auftauchen, geben keine Anschauung vom Landvolk. Gut, das hat Spielhagen auch nicht gewollt. Auch davon will ich nicht sprechen, daß der Bürgerstand wohl in einigen Exemplaren vorgeführt wird, daß aber auch seine Art, sein Wesen, seine Gesamtexistenz im Dunkeln bleibt. Den braven Bemperlein in allen Ehren, den +Dr.+ Braun nicht minder, -- sie bleiben doch, losgelöst von ihrer Umgebung, wie sie vorgeführt werden, allzu vereinzelt, um einen Eindruck vom Ganzen zu gewähren. Wo aber der Bürgerstand Spielhagen nicht sympathisch ist, da wird schon hier die Zeichnung geradezu unwahr. Das Bild des Pastors Jaeger ist eins der Pastorenzerrbilder, die bei Spielhagen auch sonst herumspuken, -- immer unwahr und immer schief. Aber das Hauptgewicht fällt auf den Adel. Wie steht es da um die Wahrheit? Helmut Mielke sagt mit bezug hierauf: »Man hat den Dichter der Übertreibung gescholten und ihm damit Unrecht getan; seine Schilderung z. B. des Ballfestes der Junkergesellschaft hinterläßt eher den Eindruck, daß er häßliche Details der Wirklichkeit unterdrückt als ans Licht gezogen hat.« Hier widerspreche ich entschieden. Das Bild ist unwahr durch und durch. Dieser Cloten z. B. ist so unglaublich albern, daß er in ein Karikaturenblatt gehört. Melitta von Berkow, Emilie von Breesen beginnen +sans façon+ allerliebste Liebschaften mit dem Hauslehrer eines anderen Hauses: lauter völlig verzeichnete Szenen. Die ganze Stellung Oswalds in dieser Umgebung ist einfach unmöglich. Ist der Hochmut und die Arroganz des Adels so groß, wie er beständig gemacht wird, dann nimmt eben der Hauslehrer nicht an allen Bällen teil, dann wird er eben nicht Liebling aller Frauen, Intimus eines Barons. Ich führe das nicht weiter aus; nur bezüglich des Ballfestes bei den Barnewitz halte ich gleichfalls ausdrücklich den Vorwurf der Übertreibung aufrecht. Indes der Titel des Romans deutet an, daß dem Dichter der Hauptnachdruck weniger auf dem Milieu, als auf den einzelnen »problematischen Naturen« gelegen hat. Problematische Naturen! +Dr.+ Braun nennt sie »eine in unseren Tagen ziemlich weit verbreitete Spezies +generis humani+, Nachkommen des weiland vom Teufel geholten Doktor Faustus, +Faustuli posthumi+, so zu sagen, die den langen Dozentenbart abgeschnitten, auch nicht im romantischen Ritterkostüm, sondern einfach im modernen Frack einherspazieren; im übrigen aber auf gut faustisch von Begierde zu Genuß taumeln und im Genuß nach Begierde verschmachten.« Sie haben das Größte vor, die +aurea mediocritas+ ist für sie umsonst gepredigt, aber sie erreichen das Ziel nie, weil es ihre Kräfte überragt. Sie haben vor sich die »blaue Blume«. »Wissen Sie, was das ist? Das ist die Blume, die noch keines Sterblichen Auge erschaute und deren Duft doch die ganze Welt erfüllt. Nicht alle Kreatur ist fein genug organisiert, diesen Duft zu empfinden; aber .... all die närrischen Menschen waren es und sind es, die früher und jetzt in Prosa und Versen dem Himmel ihr Weh und Ach klagten und klagen, und noch Millionen dazu, denen kein Gott gab, zu sagen, was sie leiden, und die in ihrer stummen Qual zum Himmel blicken, der kein Erbarmen mit ihnen hat. Ach, und aus dieser Krankheit ist keine Rettung, -- keine als der Tod. Wer nun einmal den Duft der blauen Blume eingesogen, für den kommt keine ruhige Stunde mehr in diesem Leben!« Und wirklich, in der Art, wie Spielhagen diese problematischen, rätselhaften Naturen geschildert hat, liegt auch der Hauptwert seines Buchs. Er hat damit ein Problem der Seelenkunde angerührt, das zu den dankbarsten gehört. Indem er sich diesem Problem zuwandte, hat er freilich die Wahrscheinlichkeit seiner Darstellung nicht erhöht; mag auch in der Zeit vor den 1848er Märztagen diese Spezies von Naturen nicht rar gewesen sein; sie finden sich hier doch ein wenig zu zahlreich. Da ist Oswald selbst, der die kühnsten Pläne, die stolzesten Ideen hat, der aber in der größten Gefahr ist, um des Weibes, besser um der Frauen willen, den von ihm gehaßten Junkern frappant ähnlich zu werden, der den Genuß in jeder Gestalt zu würdigen, ja sogar raffiniert auszukosten weiß, und der doch solche melancholischen Anfälle hat, daß ihm das Leben wie ein dumpfer, beängstigender Traum erscheint, der eines Freiherrn Blut in seinen Adern hat, aber sein Leben der Sache der Freiheit opfert. Neben ihm ist die am meisten problematische Natur der Baron Oldenburg, der einzige Gescheute und Edle in der ganzen Junkergesellschaft, der seine Standesgenossen verspottet, den Hauslehrer zu seinem Freund macht, im Grund aber immer ein Aristokrat bleibt, der alle Genüsse ausgekostet hat und jeden neuen Genuß mitnimmt, aber immer unbefriedigt, immer sehnsuchtsvoll bleibt. Da ist Melitta von Berkow, die Schöne und Kluge und Stolze, die doch so unendlich rasch Herz und Zurückhaltung verliert. Gewiß, interessante Rätselgestalten, die dem Roman ein eigenes Gepräge geben! Über die »Problematischen Naturen« urteilt Bartels: »Im Grunde hat Spielhagen dies Werk nicht übertroffen und ist auch ein Darsteller problematischer Naturen geblieben; fast in allen späteren Romanen wirkt er in der Hauptsache mit denselben Ingredienzien; die Anschauung wurde im ganzen nicht reifer und freier, die inneren Erlebnisse aber fielen weg.« Ich möchte hinzufügen: er ist späterhin in manchen, nicht in allen seinen Prosadichtungen auf eine niedere Stufe gesunken, auf die des Salonromans. Die »Problematischen Naturen« aber geben ein Bild der Schattenseiten und der Vorzüge seiner Romane. Ihr größter Ruhm ist eine Kunst der Darstellung, welche mannigfache Fäden zieht, aber alle mit einander verwebt und so eine spannende, einheitlich gefaßte und mehr und mehr konzentrierte Handlung zu wirkungsvollem Abschlusse bringt. Hierin übertrifft er ~alle~ Vorgänger. Zugleich gewinnen seine Personen ein wirklich persönliches Leben, und dies psychologische Moment verbindet er mit dem Gange der Handlung. Allerdings ist diese Verbindung nicht überall eng: Geschichten wie diejenigen von der Entdeckung der freiherrlichen Abstammung des Helden Oswald bilden einen geradezu störenden romantischen Einschlag in die naturgemäß verlaufende Handlung, wie denn auch sonst zahlreiche Unwahrscheinlichkeiten in Kauf zu nehmen sind. Ferner bemüht er sich ernstlich, ein lebendiges Bild der Zeitverhältnisse, in denen seine Menschen leben, zu entwerfen. Nur daß das Wort »Zeitverhältnisse« vielleicht schon zu weit greift; Zeit~stimmungen~ liegen ihm mehr noch als äußere Umstände, als das eigentliche Milieu. Immerhin, was gab er für Revolutionsschilderungen! Hier lag sein eigenstes Gebiet. Hier war ja auch ein Handeln, das zugleich ganz und gar Stimmung war. Endlich muß man im Gedächtnis behalten, daß er Tendenzschriftsteller war: in ihm loderte die adelhassende demokratische Gesinnung. Warum sollte er nicht solche Tendenz zum Ausdruck bringen? Der Wert seiner Werke sinkt für das objektive Urteil dadurch keineswegs. Aber, wie ausgeführt, die Tendenz ließ keine absolut wahre Schilderung zu. Auch die späteren Romane Friedrich Spielhagens kranken z. T. an diesem Übermaß von Tendenz. »~Die von Hohenstein~« (1863) setzen den Kampf gegen den Adel mit einseitiger Ausschließlichkeit fort, »~In Reih und Glied~« steht unter dem Zeichen Lassalles. Der Anspruch des empordrängenden vierten Standes macht sich energisch bemerkbar. Aber das Problem wird nicht sachlich durchgeführt: der Held, eine heroische Natur, geht eigene Wege und diese eigenen Wege führen zu einer höchst persönlichen Katastrophe, -- ganz wie beim wirklichen Lassalle. Die politischen Einschläge des Romans, Prinz wie Adel und Militär, zeigen auch hier den fast fanatischen Haß des Oppositionellen gegen jene führenden Klassen. »~Hammer und Amboß~« endlich will die soziale Frage lösen, freilich nur in der Idee. Die Lösung liegt in den Herzen der Menschen. Warum sind die Einen nur Hammer, die anderen nur Amboß? In Wirklichkeit ist doch »jedwedes Ding und jeder Mensch in jedem Augenblick beides zu gleicher Zeit.« Was die Welt verschlechtert, ist »die Wut zu befehlen und die sklavische Gier, sich befehlen zu lassen.« Es sind z. T. Meisterwerke in Kraft und Spannung, die uns hier begegneten. Politisch-tendenziös sind sie alle. Auch in anderem Sinn soll uns Spielhagen später begegnen. Inzwischen aber lassen wir nach den »Problematischen Naturen« wieder ein Jahrzehnt vergehen, um einem anderen Typus des tendenziösen Zeitromans näher zu treten. Die Politik hat aufgehört zu herrschen; die Fragen der Weltanschauung dominieren. Das entspricht nur dem Gange der Zeit. Um die Mitte des Jahrhunderts absorbierte die Politik die besten Kräfte, eine Unsumme von Interesse. Da griff auch der Romandichter ins politische Leben hinein, es zu beschreiben und -- zu beurteilen. Aber nun war das neue deutsche Reich gegründet; die eminentesten Lebensfragen der deutschen Nation waren gelöst. Es wäre sicher eine Unmöglichkeit gewesen, mit einem eigentlich politischen Roman derart auf die ~allgemeine~ Teilnahme zu stoßen, wie man das ein oder erst recht zwei Jahrzehnte früher erwarten mußte. Um so mehr traten die Fragen der Weltanschauung hervor. Nicht sie allein; Spielhagens »~Sturmflut~« geißelt als einen Schaden der Zeit den Gründerschwindel. Aber die Weltanschauungsfragen, dazu die des im Anzug begriffenen Sozialismus waren jedenfalls Fragen der Zeit. ~Paul Heyse~ wagte den Wurf, sie in großem Zeitroman zu erörtern. Er schrieb 1873 »~Die Kinder der Welt~« und ließ später ähnliche Versuche folgen. »~Im Paradiese~« (1876) schildert das Münchener Künstlerleben; »~Der neue Merlin~« (1892) polemisierte gegen die Modernen in der Literatur. Am umfassendsten ist das Zeitbild, welches »~Die Kinder der Welt~« entrollen. Es muß genügen, bei ihm ein wenig länger zu verweilen. Den Gang der Handlung dieses Romans ausführlich wiederzugeben, kann ich mir ersparen. Alles dreht sich um das Lebensgeschick eines jungen Privatdozenten der Philosophie, der mit seinem kränklichen Bruder, der ein wenig Drechslerei treibt, in einem Berliner Hinterhaus eine Stube primitiver Art, die sogenannte »Tonne«, bewohnt. Er verliebt sich sterblich in eine problematische Schöne, genannt Toinette, natürliche Tochter eines Fürsten. Sie kann nicht lieben und darum auch ihn nicht lieben; als das klar ist und gleichzeitig auch der Bruder, der in idealer Hingebung ihr Herz für den Helden Edwin gewinnen wollte, stirbt, wird er krank und heiratet dann die Tochter eines christlichen Malers und einer jüdischen Mutter, Lea König, nicht ohne sie ernstlich zu lieben. Er wird Gymnasiallehrer, um einen Hausstand zu gründen. Auf einer Ferienreise begegnet er wieder seiner Toinette. Sie hat, ihrem Hang zu »herzoglichem« Auftreten nachgebend, inzwischen einen gräflichen Anbeter erhört und lebt als stolze Gräfin auf stattlichem Schlosse. Doch nun ist in ihr die »Fähigkeit der Liebe« wachgeworden; und die Folge ist die, daß sie ihren Grafen völlig ignoriert, als Edwin aber kommt, diesem gehören will. Da kämpft Edwin einen schweren Kampf; Liebe zu Toinette und Liebe zu Lea streiten in ihm. Die Treue siegt; er flieht Schloß und Versuchung. Toinette will ihm folgen, findet aber nicht ihn, nur seine Gattin, und gibt sich, besiegt von deren Liebe, selbst den Tod. Edwin und Lea finden dauerndes Glück. Muß ich um Verzeihung bitten, wenn diese Inhaltsangabe ein ganz klein wenig ironischen Beigeschmack hat? Ich glaube, das hat in der Sache selbst seinen Grund. Was für sonderbare Dinge mutet Paul Heyse dem Leser zu! Der Privatdozent mit dem drechselnden Bruder in ~einer~ Stube des Hinterhauses; dürftig gekleidet, kaum den Anstand wahrend. Ja, kommt denn nie ein Student zu diesem Dozenten? Lea, sonderbarer Weise gerade der Sproß einer christlich-jüdischen Mischehe! Toinette, das übliche illegitime hochgeborene Wesen, wie solches in diesen Tendenzromanen feststehendes Requisit ist: eine ganz sonderbare Leidenschaft, immer Existenzen in den Mittelpunkt zu stellen, an denen irgend etwas unklar ist! Und nun gar die merkwürdigen Eigenschaften dieser Toinette, die eine Art Geburtsfehler sein sollen: weil ihre Mutter ohne Neigung zu jenem Fürsten nur auf Druck und Zwang hin seinen Anträgen Folge gegeben, so hat sie ein kaltes Herz mitbekommen --; aber sie hats doch wieder nicht als unveräußerliche Eigenschaft erhalten, sondern nur auf Zeit. In Summa: es sind keine Gestalten von Fleisch und Blut, die in den »Kindern der Welt« umhergehen, sondern Schemen aus der Welt der Ideale. Dieser Edwin, seine Lea, vor allem sein Bruder Balder, -- erdentrückte Traumgestalten! Vielleicht habe ich bei den äußeren Vorgängen schon zu lange verweilt. Sie sind dem Dichter wirklich nicht die Hauptsache. Im Gegenteil; sie sind ihm in erster und letzter Linie nur die Träger seiner Ideen. Auf der Gedankenwelt, welche sie äußern und glücklicherweise bis zu einem gewissen Grad auch betätigen, liegt alles Gewicht. Zwei große Heerlager stehen einander gegenüber: die »Kinder der Welt« und die »Kinder Gottes«. Einige Typen der »Kinder Gottes« mögen voranstehen. Die Professorin Valentin ist das Muster einer streng christlichen, in der Liebestätigkeit unermüdlich tätigen Dame. Zahllose Vereine absorbieren ihre Zeit. Aber auch in der Liebe ist sie sittenrichterlich streng. Ein gefallenes Mädchen, das sie früher beschäftigt, findet bei ihr keine Arbeit mehr; wohl aber bekommt es ein paar Taler und eine Empfehlung an ein Asyl. Dogmatisch denkt sie sehr eng; jede freie Richtung ist ihr verhaßt; ein heiliger Bekehrungseifer, rege Sorge um anderer Seelenheil mischt sich mit inniger persönlicher Anteilnahme am Geschick Nahestehender. Heuchlerischer Frömmigkeit gegenüber fehlt ihr unterscheidende Menschenkenntnis. Ein Typus, der zu den gelungensten des Romans gehört, wenngleich mancher Einzelzug gemildert werden müßte. -- Ein braver, edler Mensch und Christ ist der Maler König, Leas Vater. Schlichte, demütige Frömmigkeit scheint Heyse in ihm verkörpern zu wollen. Und zwar verbindet sie sich mit der wärmsten Liebe zu den Seinen. Sollte in diesem Charakter angedeutet werden, wie die christliche Demut zu weit gehn kann? Aber wir dürfen doch jene andere Szene nicht vergessen, da die Familie mit einem für Lea in Aussicht genommenen frommen Schwiegersohn im öffentlichen Gartenlokal durch die Witzeleien der am Nachbartisch die schöne Lea beobachtenden Offiziere getränkt wird. Der Bewerber findet den Mut zur Abwehr nicht, aber König selber findet ihn und erringt in vornehm-ruhiger Abwehr den entschiedenen Sieg. -- Von anderem Schlage ist der Kandidat Lorinser, dem seine mystische Frömmigkeit Deckmantel der abgefeimtesten Bosheit ist, der an Aufdringlichkeit, Heuchelei und Scheußlichkeit das Menschenmögliche leistet, dem keine Reinheit unberührbar und keine Wohltätigkeit unbetrügbar ist. Soll dieses Scheusal von einem Menschen die Theologen versinnbildlichen? Es scheint fast, daß er als bezeichnend für einen Teil derselben gelten soll; sonst findet sich nur noch das flüchtig hingeworfene Porträt eines zweiten Geistlichen, der ~gegen~ den Wunsch des Angehörigen (man staune!) am Grabe von Edwins herrlichem Bruder Balder erscheint und nichts als harte Worte über Unglauben und ähnliches zu reden weiß. Gänzlich verzeichnete, völlig verunglückte Charakterbilder! -- Endlich noch ein »Kind Gottes«, eine Fürstin, ein »Kindskopf«, der theologisiert, eine reizende blonde Gauklerin, ohne Charakter, die aber beständig von Calvinismus, Irvingianismus und Herrnhutern peroriert; alles in allem eine wenig wahrscheinliche Figur. Den »Kindern Gottes« stehen die »Kinder der Welt« gegenüber. Gott sei Dank! So wird dem Leser doch ordentlich wohl! Es sind ja auch ein paar Leute darunter, die ihre Schwächen haben. Der Arzt Marquardt z. B., dessen sittliches Leben ein bischen zügellos ist und der eigentlich auch den Luxus etwas weit treibt. Und dann jene Leutnants, die eine ehrbare Dame beleidigen. Aber das sind ja selbstverständlich nur ein paar Ausnahmen. Selbst jener Marquardt ist doch ein aufopfernder, hilfsbereiter, selbstloser Freund. Und die anderen »Kinder der Welt«, -- in deren Nähe wird jedem heimisch. Was für ein Prachtexemplar von einem jungen Gelehrten, dieser Edwin! Welche Anspruchslosigkeit, Bescheidenheit! Welch gänzlicher Mangel an Strebertum! Geld, Gehalt, Avancement, Anstellung, alles Nebensache. Geld hat er auch nie; trotzdem fährt er übrigens beständig Droschke, statt zu Fuß zu gehen. Gegen den Bruder ist er von zärtlichster Fürsorge, von freundschaftlichster Offenheit, von tiefster Liebe, wennschon die eigenen Herzensangelegenheiten ihn zeitweis das Leiden des Bruders fast vergessen lassen. Er ist von tadelloser sittlicher Reinheit; seine eheliche Treue besiegt auch die schwerste Versuchung; er wird stets ein musterhafter Gatte und Vater sein. Bei alledem ist er ein Freidenker, ohne Glauben an Gott und Ewigkeit, ein Philosoph, der mit jedem Glauben gebrochen hat. -- Weniger gelehrt, aber ebenso ungläubig ist sein Bruder Balder, der anziehendste aller dieser Charaktere, ein Mensch von völliger Reinheit, von zartester Empfindung, von selbstverleugnender Bruderliebe. Er stirbt jung; und das ist ein Zug richtigen dichterischen Taktes. Menschen von solcher überirdischen Art gehören auf die Erde nicht. -- Edwins Gattin Lea kann gleichfalls nicht glauben. Sie ist ein tief angelegtes, grüblerisches Gemüt. In der Liebe zu Edwin verzehrt sie sich; erst als er den Weg zu ihr findet, lebt sie wieder auf. Dann wird sie eine verständnisvolle Gattin, eine beglückte, liebende Mutter. -- Eine problematische Natur ist Toinette, über deren äußere Verhältnisse schon die Skizze des Inhalts das Nötigste gesagt hat. Sie ist ein Zwitter von fürstlicher Hoheit und Großartigkeit einerseits, von bürgerlicher Liebe und Treue anderseits. Ihr fester Wille ist: nur in der Liebe gehören einem Mann. Daß sie dennoch dem Grafen folgt, den sie ~nicht~ liebt, findet freilich kaum eine halbe Erklärung. Aber dann kehrt sie, zumal nach des einzigen Kindes Tod, zur Treue gegen sich selbst zurück. »Es gibt nur eine Vornehmheit, sich selber treu zu bleiben«. Sie ist ein »tapferes, freigeborenes Herz«. Übergehen wir die anderen »Kinder der Welt«, die aufopfernden Freunde Mohr und Franzelius, die einsame und dann doch in der Ehe glückliche Christiane, das Reginchen und wie sie sonst heißen! Wir wollen auch nicht untersuchen, ob die einzelnen Charaktere nach dem Leben gezeichnet sind; eine Anzahl Fragezeichen wären da allerdings zu machen. Nur eins soll konstatiert werden: in der Zeichnung und Gegenüberstellung der »Kinder Gottes« und der »Kinder der Welt« zeigt sich kein Ablauschen der Wirklichkeit, sondern faustdicke Tendenzmalerei. Dem Dichter lag alles dran, seine Weltanschauung von recht vielen möglichst sympathischen Personen tragen und aussprechen zu lassen. Und diese Weltanschauung ist die der »Kinder der Welt«. So spricht Toinette sie einmal aus: -- »Wie soll sie verstehen, was mich den Gedanken, alles, was ich leide, sei die Veranstaltung eines allwissenden, allmächtigen und doch allerbarmenden Vaters, mit Hohn oder Abscheu zurückweisen läßt! Wenn die Elemente meines Wesens, die mich vom Glück ausschließen, durch eine große, blinde Fügung des Weltlaufs sich gefunden und vereinigt haben und ich an dieser schlimmen Konstellation zugrunde gehen muß, -- so ist das fatal, aber kein unerträglicher Gedanke. Ein Gottvater, der mich unsägliches Geschöpf +de coeur léger+ oder auch aus pädagogischer Weisheit so traurig zwischen Himmel und Erde herumlaufen ließe, um mir später einmal für die verpfuschte Zeit eine Gratifikation in der Ewigkeit zukommen zu lassen, -- nein, lieber Freund, alle durchlauchtige und undurchlauchtige Theologie kann mir das nicht plausibel machen.« Zur Ergänzung dienen die Worte, mit denen das Buch schließt: »Ist da (in unseren Menschenschicksalen) nicht Wonne und Weh untrennbar verbunden und in den höchsten Augenblicken zu einer reinen Stimmung verklärt, in der wir uns über unser kleines Selbst erheben, der Schmerzen spotten und zu groß und feierlich empfinden, um uns zu freuen? O Liebste, eine Welt, in der wir uns bis zu diesem Triumph über das Schicksal, das eigene und das unserer Geliebten, aufschwingen dürfen, in der das Tragische vom Hauch der Schönheit verklärt wird und mitten im Schauder über den Tod die höchste Lebenswonne uns durchbebt, bis Tränen unsere Brust erleichtern -- eine solche Welt ist nicht trostlos. Komm, wir wollen ins Leben zurück, zu unserm Kind, zu den Freunden. Wie sagt mein alter Freund Catull? »Laß uns leben, Geliebte, laß uns lieben!«« Nicht um Recht oder Unrecht dieser Weltanschauung handelt es sich hier, sondern darum, daß Heyse zwischen Freunden und Gegnern dieser Anschauung Licht und Schatten in unerträglich parteiischer Weise verteilt hat. Dort fast alles Licht und blendendes Licht, hier fast nur Schatten. Dort Engel, hier Teufel. Dagegen protestiert die Wahrheit. Sein Roman ist von Bartels völlig richtig charakterisiert als »eine sittliche Tat, ein unerschrockenes Glaubensbekenntnis, aber freilich zugleich ein Zeugnis, wie fremd Heyse allezeit dem wirklichen Leben gegenüberstand, und als Kunstwerk verfehlt.« Drei recht verschiedene tendenziöse Zeitromane führte ich auf, verschieden an Inhalt und an Kunstwert. In der ~Form~ dieser Art Romane hat Spielhagen das Vollendetste geschaffen; an Umfang und Treue der Zeichnung steht er hinter Gutzkow zurück. Heyse aber liegt noch stärker im Banne der Tendenz. Aber es gibt auch einen Zeitroman im großen Stile, der der Objektivität den Vorrang vor der Tendenz zugesteht. Und erst in ihm erringt der Zeitroman seine höchste Blüte. Der objektivere Zeitroman. Schon die Erwägungen, welche der vorige Vortrag anstellte, führten zu der vorsichtigeren Unterscheidung von mehr oder minder tendenziösen Romanen oder von Romanen, bei denen die Tendenz über die Wirklichkeit siegt, und von solchen, in denen die Wirklichkeit oberster Richter bleibt. Man kann dieselbe Unterscheidung auch mit anderen Worten auszudrücken versuchen, indem man das Unterscheidungsmerkmal dahinein setzt, ~ob der Dichter sich über seinen Stoff zu erheben weiß oder nicht~. Wo haben wir solche? Ein Zeitroman, der ganz Zeit und ganz Person und doch nicht ganz Tendenz ist, ist ~Gottfried Kellers~ »~Der grüne Heinrich~« vom Jahre 1854. Es ist oft darauf hingewiesen worden, daß »Der grüne Heinrich« die persönlichsten Erlebnisse Kellers wiedergibt. Das trifft gewiß in weitem Umfang zu. ~Lediglich~ solche persönlichen Erfahrungen hat er aber nicht gegeben; Wahrheit und Dichtung sind künstlerisch verwoben. Und in dem Persönlichen ist zugleich Allgemeines dargestellt; wer in seiner Zeit mitlebt, ist ja in der Regel ein Spiegelbild der Strömungen dieser Zeit. Auch Gottfried Kellers Persönlichkeit ist das gewesen; und eben dadurch ist es auch sein »Grüner Heinrich« in hohem Grade geworden. Das Persönliche aber, welches diesem Werk anhaftet, gibt ihm nicht nur seinen eigenen Reiz, sondern es ermöglicht auch jene schlichte Natürlichkeit, welche wir bei Spielhagen und bei Heyse so sehr vermissen, jene Einfachheit, die den Zeitromanen Gutzkows so ganz abgeht. Die klassische Ruhe, die dem Ganzen den Charakter des Abgeklärten und Reifen gibt, ist durch dies persönliche Moment keineswegs in Frage gestellt. Keller spricht nicht als ein Suchender, dessen Seele von den aufgeworfenen Fragen noch bewegt würde, sondern als einer, der gefunden hat. Und was er durchlebt hat, ist wohl mit Anteilnahme an der eigenen Erinnerung, mit einem Anhauch eigensten Mitempfindens erzählt, aber doch so, daß man keinen Augenblick darüber im Zweifel bleibt: Es liegt ~hinter~ ihm und es liegt ~unter~ ihm. Das Moment des Einfach-Natürlichen im »Grünen Heinrich« verbindet sich zugleich mit dem des Ehrlichen und Wahren. Man höre, wie er selbst seine Anschauung vom Wesen des Poetischen darlegt: »Ferner ging eine Umwandlung vor in meiner Anschauung vom Poetischen. Ich hatte mir, ohne zu wissen, wann und wie, angewöhnt, alles, was ich in Leben und Kunst als brauchbar, gut und schön befand, poetisch zu nennen, und selbst die Gegenstände meines erwählten Berufes, Farben wie Formen, nannte ich nicht malerisch, sondern immer poetisch, so gut wie alle menschlichen Ereignisse, welche mich anregend berührten. Dies war nun, wie ich glaube, ganz in der Ordnung, denn es ist das gleiche Gesetz, welches die verschiedenen Dinge poetisch oder der Widerspiegelung ihres Daseins wert macht; aber in bezug auf manches, was ich bisher poetisch nannte, lernte ich nun, daß ~das Unbegreifliche und Unmögliche, das Abenteuerliche und Überschwengliche nicht poetisch ist~, und daß, wie dort nur Ruhe und Stille in der Bewegung, hier nur ~Schlichtheit und Ehrlichkeit mitten in Glanz und Gestalten herrschen müssen, um etwas Poetisches oder, was gleichbedeutend ist, etwas Lebendiges und Vernünftiges hervorzubringen~, mit Einem Wort, daß die sogenannte Zwecklosigkeit der Kunst nicht mit Grundlosigkeit verwechselt werden darf.« Mit dieser schönen Darlegung ist die Frage freilich nur eben angerührt, welche später die Debatte über die naturalistische Kunst, ihr Recht und ihr Unrecht, hervorrufen sollte, die Frage, ob denn »~alle~ menschlichen Ereignisse« darstellungswürdig und darstellungsfähig sind. Keller löst sie im Vorübergehen ganz subjektiv: Alle Ereignisse, ~die ihn anregend berühren~, sind poetisch, wenn sie nur schlicht und ehrlich sind. Praktisch lag darin tatsächlich für ihn die Lösung: Unpoetisches regte ihn eben nicht an. Von hohem Wert aber ist die ruhige Energie, mit der Keller Zweierlei gleichsetzt: das Poetische einerseits, das Lebendige und Vernünftige anderseits. Welche Kriegserklärung gegen alle Romantik! Vielleicht läßt sich auch in bezug auf diese Gleichsetzung mit ihm rechten; aber ihr Kern birgt eine heilige Wahrheit: ~Alle Dichtung muß wahr sein!~ Der »grüne Heinrich«, so genannt nach der bevorzugten Farbe seiner Kleidung, ist eines ehrsamen Schweizer Bürgers Sohn. Der Vater stirbt jung; unter der Obhut der Mutter wächst er auf. Sie erzieht ihn mit grenzenloser, aufopfernder Liebe, mit peinlichster Sorgfalt, freilich nicht überall mit völligem Verständnis. Ich gestehe, daß keine hohen Worte über Mutterliebe mir je so das Herz abgewonnen haben wie die schlichte Schilderung, die der »grüne Heinrich« vom Tun seiner Mutter gibt. Der Junge erlebt, was viele Kinder erleben: Jugendfreundschaften, Schulfreuden und -Leiden, unnütze Streiche. Von der Schule wird er relegiert, nicht ganz, aber doch beinahe ohne eigene Schuld. Die bitteren Worte, die er hierüber zu schreiben weiß, sind wohl ~zu~ bitter. Diese Entfernung von der Schule gibt seinem Leben die Wendung. Er bummelt eine Weile in der Mutter Heimatsdorf bei deren Verwandten; prächtige Bilder hat er uns aus jener Zeit gegeben! Da ist das Landvolk, da ist die Landarbeit in markigen Zügen geschildert; keine Idylle, erst recht kein Schauerbild; schlichte Wirklichkeit, aus der Erinnerung eines heranwachsenden Knaben, aber mit plastischer Kraft wiedergegeben. Dann entschließt er sich, Maler zu werden. Er geht in die Lehre zu einem, der die Malerei handwerksmäßig betreibt, lernt im Verkehr mit einem Künstler, bei dem freilich der Wahnsinn schon vorleuchtet, manches für seine Kunst, mehr noch in ernster Erfahrung fürs Leben, und hält sich dann Malens halber in München auf. Die Beschreibung der Münchener Erlebnisse in der Arbeit, im Vergnügen, im Umgang, in Entbehrung und Verschwendung ist reichlich breit gehalten, befriedigt auch in der Darstellung seiner Schicksale wenig. Neben dem künstlerischen Streben geht eine innere Entwicklung her, teils von wissenschaftlichen Vorlesungen, teils vom Leben beeinflußt. Ihren Abschluß findet diese Weltanschauungsentwicklung, die übrigens mehr eine intellektuelle als eine religiöse ist, im Schloß eines Grafen, in dem der »grüne Heinrich«, ehe er nach dem Ende des Münchener Aufenthalts heimwärts geht, längere Zeit verweilt. Zu Haus findet er die Mutter sterbend; Reue erfaßt ihn, aber er wird endlich frei von dieser Reue und tritt, die Kunst verlassend, in der er es zu nichts Rechtem gebracht, als Beamter in den Dienst des Staats. Wie früher schon, so sind mit diesen letzten Entwicklungsstadien reichliche Erörterungen politischer Art verbunden. Endlich durchzieht das Ganze -- wie könnte es anders sein? -- auch eine Art Entwicklungsgang der Stellung Heinrichs zu den Frauen. Die Jugendgeliebte stirbt; in München hält er sich ihnen im ganzen fern; jenes Grafen Töchterlein liebt er, aber er wagt die Werbung nicht und findet es richtig, daß sie ihm verloren geht. Mit einer merkwürdigen Frau, die ihm in der Zeit seines Dorflebens eigentümlich nahegetreten, bleibt er in Liebe und Freundschaft nachher innerlich verbunden, ohne daß sie äußerlich einander gehören. Der Reichtum dieser Entwicklungsgänge, die das Allgemein-Menschliche wie das Künstlerische, die Fragen der Weltanschauung wie der Politik umfassen, gibt dem Buch den Charakter eines groß angelegten Zeitromans. Wie das Hinzutreten des persönlichen Moments den Eindruck des Ganzen fördert, das ist oben ausgeführt. Aber auch an Schwächen fehlts nicht; und ich finde, daß sie stärker betont werden müssen, als jezuweilen geschieht. Es fehlt an der klaren, raschen Zusammenfassung, am straffen Gang einer einheitlich geformten Handlung. »Der grüne Heinrich« ist mehr Memoirenwerk als Roman. Manche Partien sind zu breit geraten; der Leser gewinnt den Eindruck, als wolle der Strom ausufern. Die Reflexion hat nicht bloß etwas Kritisierendes; das ist ja sehr gut und zeigt, wie Keller über seinem Stoff steht. Sondern zuweilen kommt er ins Moralisieren, ja ins Schulmeistern im unangenehmen Sinn des Wortes, geradezu ins Spießbürgerliche hinein. Und dann vermissen wir diese Kritik, gerade weil sie im übrigen so reichlich auftritt, um so mehr an anderen Punkten. Auf eins nur sei hingewiesen. Die Art, wie Heinrich sich gegen seine Mutter verhält, wie er sie darben und sorgen läßt für ihn und wie er das mühsamst Abgesparte alsbald wieder losschlägt, noch mehr die Herzlosigkeit, mit der er sie, die im Gedenken des einzigen Sohnes lebt, lange, lange ohne jede Nachricht läßt, um sie dann nur noch sterbend anzutreffen, diese Art ist durch die folgende Reuezeit nicht ausgeglichen. Hier hört das Verständnis auf, völlig auf. Wie bitter spricht Keller über die Schulbehörde, die ihm die Anstalt verwies! Aber wieviel bitterer mußte er nun über sich selber urteilen! Hier ist er kalt, ja hart. Und ein Alpdruck lastet von daher auf dem Leser. Auch das Wichtigste, die religiöse Entwicklung, ist doch nicht überall mit durchschlagender Kraft und Tiefe gezeichnet. Vielleicht nicht unwahr, aber darum doch, wo mit halben Gedanken abgeschlossen wird, auch nicht völlig befriedigend. Naturwissenschaftliche Erwägungen haben auf die Gestaltung dieser Anschauungen Einfluß, aber die Entscheidung geben persönliche Momente. Im Grafenschloß ists, wo diese Entscheidung fällt; und die atheistische Dorothea wirkt auf ihn ein: »Die Vergänglichkeit und Unwiederbringlichkeit des Lebens, ~durch Dortchens Augen gesehen~, ließ mir die Welt bald ebenso in einem stärkeren und tieferen Glanze erscheinen, wie es bei ihr der Fall war; -- ein sehnsüchtiges Glücksgefühl durchschauerte mich, wenn ich mir nur die Möglichkeit dachte, für das kurze Leben mit ihr in dieser schönen Welt zusammen zu sein.« Vielleicht entspricht die Schilderung der Lebenswirklichkeit. Solche Einflüsse entscheiden zuweilen. Aber den denkenden Leser befriedigt solche Entscheidung darum doch nicht. Endlich noch eins: ~die eigene Entwicklung des Helden behält etwas Unbefriedigendes~. Und das nicht etwa bloß mit Rücksicht auf die ~äußere~ Resultatlosigkeit der langen Malerzeit daheim und in München. Vielmehr: der Leser empfindet deutlich, wie diese äußere Resultatlosigkeit mit Mängeln des Charakters zusammenhängt. So wie Keller den »grünen Heinrich« schildert, ist er vom Verbummeln nicht mehr fern. Daß aus der Malerei nichts wird, ahnt der Leser längst, längst, ehe der »grüne Heinrich« zur gleichen Erkenntnis kommt. Ein bischen mehr Energie, ein bischen schärfere Selbstkritik, ein bischen mehr Zielklarheit wünschten wir ihm. Keller selbst kritisiert diese Entwicklung fast nur durch die Art, wie er sie beschreibt, während er an anderen Punkten deutliche Worte ausdrücklichen Urteils findet. Die endgültige Wendung im Charakter des Helden kommt etwas spät und -- im Verhältnis zum Ganzen -- etwas rasch. Nicht jeder Leser wird ~diese~ Schwäche des »Grünen Heinrich« völlig zu überwinden vermögen. Vom »Grünen Heinrich« nehmen wir Abschied. Von Keller selbst aber können wir noch nicht scheiden. Allerdings ist es unmöglich, die Fülle der Gesichte hier erstehen zu lassen, die seine übrigen größeren Werke bieten: sein »~Martin Salander~«, der die politischen Fäden des »Grünen Heinrich« weiterführt, der aber noch breiter ausführt, ohne gleiche Kraft und Tiefe zu zeigen, und der nach meinem Empfinden in der Darstellung erheblich weniger ansprechend, in Zeichnung und Räsonnement erheblich trockener ist, wennschon ein Hauch von biederem Bürgersinn den, der dafür Verständnis hat, erfrischend anweht; so ferner seine »~Sieben Legenden~« und seine »~Züricher Novellen~«. Wohl aber gilts, einen Augenblick zu verweilen bei jener berühmt gewordenen Novellensammlung, welche den Titel führt: »~Die Leute von Seldwyla~« (zuerst 1856). Ein sonderbares Städtchen, dies Seldwyla. Leichtsinn haben seine Bewohner in gehöriger Portion. Sie leben gemütlich und ohne sich zu überanstrengen, sie tun überall mit, wo etwas los ist, aber sie fehlen, wo es rechter Ernst ist, sie verstehen das Geldausgeben vorzüglich, aber das Geldverdienen ist ihnen zu mühsam; sie machen Bankrott, wenn sie in den besten Jahren sind, und angeln als Ausgediente zum Nahrungserwerb und zum Zeitvertreib. Aus diesem guten Städtchen der Phrasenhelden und Maulgrößen, der politischen Windmühlen und der moralischen Unbesorgtheit zeichnet Keller mit scharfem Stift, mit bitterer Satire und mit derber Moral eine Reihe von Charaktertypen. Da ist ~Pankraz der Schmoller~, ein eigensinniger und zum Schmollen geneigter Junge, welcher nie lachte und auf Gottes lieber Welt nichts tat oder lernte, der aber dann in den Lehrjahren seines Lebens die Schmollerei verlernt. Er kommt ins Ausland; in Indien verliebt er sich in ein kokettes Mädchen, das nicht ruht, bis seine Liebe weißglühend geworden ist, um ihn dann ganz gehörig ablaufen zu lassen. In Afrika hat er ein Löwenabenteuer. Stundenlang muß er, der Waffe beraubt, dem Löwen unbeweglich fest ins Auge sehen, bis Hilfe kommt. So wird er vom Schmollen kuriert. -- Da sind »~die drei gerechten Kammmacher~«, wahre Ausbunde von Solidität und Tugend, die alle drei ein Kammmachergeschäft, in dem sie arbeiten, nach des Besitzers bevorstehendem Bankerott erwerben wollen und, um nur bleiben zu können, sich vom Meister drücken und schinden lassen. Sie wollen alle drei ein ebenso pedantisches Mädchen heiraten, das einen Batzen Geld hat und das keiner dem andern gönnt. Endlich kommt die Entscheidung; von dreien darf nur einer im Geschäft bleiben. Wer? darüber soll ein lächerlicher Wettlauf entscheiden. Zwei schießen, in einander verbissen, am Ziel vorüber, der dritte gibt das Laufen auf, sichert sich das Mädchen und bekommt mit dessen Geld das Geschäft. Da gehen die Unterlegenen hin: der eine hängt sich auf, der andere wird ein Liederjahn. -- Da ist ferner ~Frau Regel Amrain~, eine kluge Frau und noch klügere Mutter, die alle Schäden, an welchen Seldwyla krankt, wohl übersieht und darum ihren Jüngsten, in dem sie am meisten Hoffnungsgrund für zukünftige Entwicklung merkt, zu einem Mann heranzieht, der jenen Torheiten entwächst und, statt zu werden wie die andern, lieber fleißig, sittsam und tatkräftig sein und seiner Familie Wohl, auch nicht zuletzt das Wohl der Allgemeinheit fördern soll. -- Da begegnen wir »~Romeo und Julia auf dem Dorf~«, -- eine Geschichte vom Zwist zweier bäuerlicher Nachbarn, die sich um ein Nichts verfeindet haben und nun die Fehde bis zum völligen Ruin beider Familien fortführen. Der Sohn der einen und die Tochter der andern Familie aber haben sich lieb und gehen schließlich gemeinsam in den Tod, -- nicht ohne vorher in freiem Entschluß ohne den Segen der Eltern und ohne die Ordnung der Sitte Hochzeit gefeiert zu haben. -- Aber wozu von jeder einzelnen dieser Novellen erzählen? Sie sind allesamt echte Kinder der Kellerschen Muse. Jeder liest sie gern in einer Stunde, die dem Nachdenken nicht allzu abhold sein darf. Jeder spürt in ihnen die Feinheit der Beobachtung, die Anschaulichkeit der Darstellung, die Tiefe der Gedanken und den Ernst des Urteils. Jeder freut sich der klaren Art, ein begrenztes Bild oder Bildchen menschlichen Lebens und Treibens herauszuarbeiten und den Faden der Handlung, die nur manchmal etwas sehr in die Breite geht, festzuhalten. Es sind Novellen, die zugleich fesseln und zu denken geben; und eine große Summe Lebensweisheit steckt in ihnen. Etwas von den Leuten von Seldwyla findet sich ja schließlich auch sonst auf der Welt! Immerhin will ich mit einem Bekenntnis nicht zurückhalten. So gewiß es richtig ist, daß Keller mit den besten Stücken dieser Sammlung gleich alles, was seine Vorgänger und Zeitgenossen auf dem Gebiet der Novelle bisher geleistet haben, übertrifft, so wenig kann ich ohne Einschränkung ein Urteil unterschreiben wie das, nach welchem sie »große und freie Poesie« sind, »von einer bedeutenden, wenn auch eigen gewachsenen Persönlichkeit getragen, von reichster künstlerischer Durchbildung, ebenso wahr und tief wie fein.« Mag vieles in diesem Urteil zutreffen, eins ist darin vergessen: der moralisierende Ton, der zuweilen etwas geradezu Pedantisches hat. »Frau Regel Amrain und ihr Jüngster« kann geradezu eine pädagogische Novelle genannt werden. Aber auch die anderen Stücke haben diese erziehliche Art. Und Keller hat es ~nicht~ immer verstanden, seine Moral ins Gewand »großer und freier Poesie« zu kleiden; er wird zum Kritiker, zum Schulmeister, zum Erzieher und vergißt dabei doch manches Mal den Dichter. Etwas von dieser Art findet sich in allen Werken Kellers; es hat mit dazu beigetragen, sie zu Zeitromanen und Zeitnovellen zu machen; denn was er kritisiert, sind ja Zeitsünden, Zeitschwächen. Aber ihren dichterischen Wert hat es nicht gehoben. Auch »Die Leute von Seldwyla« habe ich in die Gruppe der Zeitdichtung eingereiht: aus eben diesem jetzt angeführten Grund. Schweizer Bürgerleben in seinen Schwächen bildet überall den Hintergrund der Novellen. In die großen, flutenden Bewegungen der Zeit führen sie freilich nur gelegentlich ein. Aber muß ein Zeitroman wirklich das Ganze der Zeit umspannen? Wir warfen die Frage schon früher auf, aus Anlaß der Vorrede zu Gutzkows »Rittern vom Geist«; und wir beantworteten sie mit Nein. Muß ein Zeitroman auch nur die großen, weltbewegenden oder doch staatenerschütternden Strömungen skizzieren? Gibt er nicht auch ein Bild seiner Zeit, wenn er irgend ein konkretes Einzelgebiet herausgreift und zu intimer, lebendig-wahrer Darstellung bringt, selbst wenn es mit jenen politischen Strömungen nichts oder wenig zu tun hat? Den besten Beweis, daß auch ein solcher Zeitroman auf der Höhe stehen kann, gibt ~Gustav Freytags~ Buch »~Soll und Haben~«, das ein Jahr später als »Der grüne Heinrich« und ein Jahr früher als »Die Leute von Seldwyla« erschienen ist. Die Gestalten dieses Buchs stehen Ihnen allen vor Augen; Andeutungen werden daher zur Begründung meines Urteils ausreichen. Ins Weltgetriebe führt Freytag mit der polnischen Insurrektion, die der Kaufmann Schröter und Anton Wohlfart aus eigener Anschauung kennen lernen. Aber Freytags Interesse in diesem Roman ist nirgends politisch; auch jene polnischen Zustände kommen fast nur in ihrer Rückwirkung auf die Geschicke der Handlung T. O. Schröter, Kolonialwaren und Produkte, zur Geltung, daneben lediglich noch in ihrem Einfluß auf die persönliche Charakterbildung Anton Wohlfarts selbst. Die Firma T. O. Schröter in der Hauptstadt der Ostprovinz steht unbestritten im Mittelpunkt. Das Großkaufhaus in Breslau -- diese Stadt ist bekanntlich gemeint -- mit allen seinen Insassen und Angestellten macht uns zugleich mit Lebensart und -Haltung der Kreise bekannt, die in ihm ihren Mittelpunkt haben. -- Außerdem lernen wir in Veitel Itzig und Ehrenthal Typen unehrlicher Geschäftspraktiken kennen, in Hippus den Typus des abgefeimten Winkelkonsulenten, in der Familie von Rothsattel und in dem Tanzzirkel der Frau von Baldereck die Kreise des Landadels und des Offiziersstandes, in Fink den weiterblickenden, amerikanisierten Weltmann, der zugleich die strenge Lebenseinfachheit des deutschen Kaufmannsstandes aufgegeben hat. Sabine Schröter ist ein Bild zugleich deutscher Hausfrauenart und edler Weiblichkeit. Vielleicht ist das Gesichtsfeld des Romans nicht allzu weit; weit ~genug~ ists auf alle Fälle. Das solide Bürgertum der deutschen Stadt um die Mitte des vorigen Jahrhunderts, mit Konzentration aller Interessen auf Beruf und Arbeit, mit keiner anderen Poesie als derjenigen eben dieses Berufs und dieser Arbeit, aber darum nicht ohne Gemüt und nicht ohne Herz, wird dem unsoliden Wuchertum wie dem glänzenden, aber minder fest auf der Arbeit aufgebauten gesellschaftlichen Leben der aristokratischen Kreise gegenübergestellt. Ist das kein Gegenstand, der für das Leben einer bestimmten Zeit charakteristisch wäre? Sehen wir nicht ganzen Schichten des deutschen Volkes ins Herz? Die Art, wie Freytag schildert, ist ganz und gar geeignet, ein wirkliches, klares und deutliches Bild eben dieser Schichten zu geben. Am meisten ausgeführt ist dasjenige der Firma T. O. Schröter. Hier ist er peinlich genau, bis ins Einzelne treu. Er erspart dem Leser nicht die gründlichste Beschreibung der Handelsbeziehungen und des Arbeitsbetriebs in dem großen Kaufhause. Er führt uns durch beinah sämtliche Räume desselben, durchs Kontor, den eigentlichen Herzpunkt, durch die Kellerräume, in denen die Waren lagern, durch die Wohn- und Prunkräume des ersten Stockwerks, wo die Angestellten mit der Familie des Prinzipals die Mittagsmahlzeit einnehmen, durch die Wohnzimmer des Hinterhauses, in denen Buchhalter und Kommis ihre bescheidenen Wohnstätten haben, durch Hof und Hausflur, wo Herr Pix die Auflader und Hausknechte regiert. Er zeichnet Charakterbilder von jedem Einzelnen der beteiligten Männer, von dem bescheidenen Liebold bis zum Aufladerobersten Sturm und dem Allerweltsfaktotum Karl. Er nötigt uns, die zeitraubenden Verhandlungen mit Schmeie Tinkeles anzuhören, und er vergönnt uns, die Tätigkeit des ersten Buchhalters mitzuempfinden. Wer wollte leugnen, daß ihm die Wahrheit den Pinsel geführt hat? Vielleicht ist Sturm, der Oberste der Auflader, ein bischen zu rühr- und redselig gezeichnet; vielleicht treten interne Psychologika, soweit sie nicht die Entwicklung der Menschen zu Geschäftsleuten betreffen, allzusehr zurück. Aber gerade das Geschäftsleben gewinnt durch diese Einseitigkeit; es ist ein prächtiges Bild, das Freytag von ihm gezeichnet hat. Aber auch alles Andere an diesem Roman ist treu und wahr. Freytags Liebe gehört ja ohne Frage ~diesen~ Menschen, vor allem dem braven und treuen, fleißigen und sorgfältigen, warmherzigen und tieffühlenden Anton Wohlfart. Um so höher ist es ihm anzurechnen, daß er es völlig vermieden hat, um seiner Lieblinge willen die andern Kreise zu karikieren. Man vergleiche getrost die Adelskreise in Spielhagens »Problematischen Naturen« mit den Rothsattels bei Freytag, ja mit der Frau von Baldereck und der Gräfin Pontak, mit den Leutnants von Zernitz und von Tönnchen! Die jungen Herren aus dieser Umgebung kommen nicht gerade gut weg. Aber dem jungen Kaufmann imponiert »ihre Art zu sprechen und sich zu geberden, vor allem eine gewisse ritterliche Atmosphäre, die sie umgab, etwas Salonduft, etwas Stallluft und viel von dem Aroma der Weinstube.« Und als Wohlfart später nach ernsthaft bewiesener, mutvoller Unerschrockenheit in Polen wieder mit einem Kreis von Offizieren zusammenkommt, da freut er sich des freien Verkehrs mit anspruchsvollen Menschen und läßt sich gern in den Zauber eines Kreises ziehen, welcher ihm für frei, glänzend und schön gilt. Und selbst der Leutnant von Rothsattel, der ein bischen reichlich stolz gewesen, erhält nun noch das Prädikat: »im Grunde ein verzogener, leichtsinniger, gutmütiger Mensch.« Und die übrige Familie von Rothsattel, der edle Freiherr voran, die prächtige Mutter nicht hinter ihm, die reizende, mutige, frische Lenore mit ihnen, gibt ein treffliches Konterfei schlesischen Grundadels, wennschon uns Jetzigen die geringe Gewandtheit des Freiherrn in geschäftlichen Angelegenheiten recht sonderbar vorkommt. Kurz, Freytag hat den Fehler vermieden, zu gunsten einer Menschenklasse andere ins Unrecht zu setzen; und wenn es in der Welt seines Romans im allgemeinen bürgerlich ordentlich, ehrbar und anständig zugeht, so hat er doch das gute Recht, gerade solche ordentlichen Menschenschichten zum Gegenstand seines Bildes zu machen. Die Schwächen jener bürgerlich-kaufmännischen Lebensauffassung läßt er ja keineswegs zurücktreten: etwas Pedantisches, etwas Philisterhaftes klebt ihr an; frei, glänzend und schön gestaltet sie das Leben nicht; aber ernst ist sie und reizlos ist sie auch nicht. Hören wir unsern Anton Wohlfart: »Ich weiß mir gar nichts, was so interessant ist, als das Geschäft. Wir leben mitten unter einem bunten Gewebe von zahllosen Fäden, die sich von einem Menschen zu dem andern, über Land und Meer, aus einem Weltteil in den anderen spinnen. Sie hängen sich an jeden Einzelnen und verbinden ihn mit der ganzen Welt. Alles, was wir am Leibe tragen, und alles, was uns umgibt, führt uns die merkwürdigsten Begebenheiten aller fremden Länder und jede menschliche Tätigkeit vor die Augen; dadurch wird alles anziehend. Und da ich das Gefühl habe, daß auch ich mit helfe, und, so wenig ich auch vermag, doch dazu beitrage, daß jeder Mensch mit jedem anderen Menschen in fortwährender Verbindung erhalten wird, so kann ich wohl vergnügt über meine Tätigkeit sein. Wenn ich einen Sack mit Kaffee auf die Wage setze, so knüpfe ich einen unsichtbaren Faden zwischen der Kolonistentochter in Brasilien, welche die Bohnen abgepflückt hat, und dem jungen Bauerburschen, der sie zum Frühstück trinkt, und wenn ich einen Zimtstengel in die Hand nehme, so sehe ich auf der einen Seite den Malayen kauern, der ihn zubereitet und einpackt, und auf der anderen Seite ein altes Mütterchen aus unserer Vorstadt, das ihn über den Reisbrei reibt.« Und so wenig der ernste Mensch über diese Poesie der Kolonialwaren wird lächeln dürfen, so wenig kann er Antons weitere These bestreiten: »Wer ein ehrliches Geschäft hat, kann von unserm Leben nicht schlecht denken, er wird immer Gelegenheit haben, Schönes und Großartiges darin zu finden.« Was endlich an »Soll und Haben« rühmend hervorzuheben ist, das ist die Technik des Aufbaus. In dieser Hinsicht bezeichnet der Roman einen entschiedenen Fortschritt gegenüber Gutzkow und auch gegenüber Keller, vielleicht in mancher Hinsicht sogar gegenüber Spielhagens »Problematischen Naturen«. Gutzkow war breit und ließ die Handlung in zahllose lange Gespräche zerfließen; für lange Zeiten waren die Menschen für ihn nur dazu da, um ihre Ansichten einander möglichst offenherzig zu erzählen. Auch bei Freytag fehlen die Gespräche nicht; was ich eben an Urteilen über den Kaufmannsstand anführte, entstammt einem solchen. Aber sie treten zurück gegenüber dem Handeln. Das ist nicht immer ein Handeln im großen Stil; Ereignisse häufen sich nicht; es ist ein Geschehen im kleinen und kleinsten Maßstab; aber es charakterisiert und es fesselt. Bei Gutzkow Unwahrscheinlichkeiten und Abenteuerlichkeiten im äußeren Verlauf; bei Freytag ruhige, wenn auch nicht immer ganz folgerichtige Entwicklung auf solidem Unterbau. Und während Kellers »Grüner Heinrich« zeitweis den Charakter des Memoirenwerks trägt, gab Freytag seinem »Soll und Haben« auch in der Form mit aller Kunst ganz den Charakter des Romans. Ein einzelnes Menschenkind, Anton Wohlfart, eint in seiner Person die mannigfachen Fäden der Entwicklung: er ist mit Leib und Seele im Kontor bei T. O. Schröter, er beteiligt sich am Tanzkränzchen der Frau von Baldereck, er schwärmt für Lenore von Rothsattel, er verkehrt mit Bernhard Ehrenthal. Und so zersplittert sich das Interesse nicht; es begleitet die Entwicklung in Aufmerksamkeit und Spannung durch alle Stadien hindurch. Bald führt das eine Kapitel den Leser zu T. O. Schröter, bald das andere ins Geschäft zum Ehrenthal, bald das dritte ins Stammschloß der Rothsattel. Aber alle diese Einzelentwicklungen gestalten sich schließlich zu einem großen Ganzen und finden nach spannenden Akten ihren Abschluß, einen richtigen, Ruhe gebenden Abschluß. Verglichen mit den »Problematischen Naturen« Spielhagens ist Freytags »Soll und Haben« nach seiner Technik insofern im Vorteil, als hier nicht das geheimnisvolle Hineinwirken einer spät entdeckten vergangenen Tatsache zum Abschluß hilft, sondern einfache, klare, folgerichtige Durchführung der in der Anlage gegebenen Ansätze. Somit kann es nur mit Freude begrüßt werden, daß »Soll und Haben« eins der Lieblingsbücher der deutschen Gebildeten geworden ist. Auch vom modernen Standpunkt des Naturalismus +sans phrase+ aus soll man uns das Buch nicht verleiden. Es bleibt des Dichters gutes Recht, sein Thema so zu begrenzen, daß gewisse Tiefen nicht aufgerührt werden. Er begibt sich damit der Möglichkeit, problematische Naturen mit ihren Sonderbarkeiten zu zeichnen, feinädrige psychologische Probleme zu behandeln, und auch des anderen, einen Beitrag zur Lösung von Fragen der Politik oder der Weltanschauung zu geben. Aber er bringt nichtsdestoweniger ein Zeitbild, ein Bild tüchtigen, fleißigen Strebens, und er bringts in annähernd objektiver Weise, ohne allzustarke Satire, ohne Geißelhiebe nach rechts oder links, aber nicht ohne einen gewissen Humor, mag derselbe auch etwas nach dem Kontor schmecken. Ein Werk in der Art von »Soll und Haben« ist Freytag nicht wieder gelungen. »Die verlorene Handschrift« erreicht nicht entfernt die gleiche Höhe. Der Gelehrte, welcher die Handschrift sucht und darüber jeden praktischen Blick verliert, mag ja ein Produkt deutschen Wissensdranges sein. Aber wir fühlen es alle: er eignet sich weit mehr zum Objekt der witzigen Professorenanekdoten, wie sie ja von Mund zu Mund gehen, als zum Mittelpunkt eines großen Romans. Dazu ist er in seiner ganzen Art doch nicht genug Typus jener gründlichen Gelehrsamkeit, wie wir sie als eine Spezies unseres Vaterlandes schätzen und lieben. Der große Zyklus »Die Ahnen« aber wird an anderer Stelle zu würdigen sein. Vom objektiveren Zeitroman wollte ich reden. Unter Preisgabe der Politik hat Freytag eine hohe Objektivität erreicht. Wie steht es mit dem Zeitroman in späteren Zeiten? Finden wir nicht auch unter seinen Schöpfungen noch manches, was die Tendenz zurücktreten läßt? Ich glaube, das sogar von einigen Werken ~Spielhagens~ behaupten zu dürfen. Nicht von dem 1887 erschienenen »~Was will das werden?~«, dem Anti-Bismarck, gilt das, -- auch nicht von »~Der neue Pharao~« von 1889, der die neue Zeit, die Zeit Bismarckschen Einflusses mit schwarzen Farben malt. Aber bis zu einem gewissen Grad ists ihm in der »~Sturmflut~« gelungen, einem Werk von wunderbar packender Kraft, einem der besten des Meisters, in dem Reichtum der Gedanken und Aktualität der Meinungsäußerung sich mit imposanter Kunst der Entwicklung und Durchführung einer vielgestaltigen Handlung vereinigen. Sturmflut bricht herein -- über das deutsche Volk: eine Flut von Gold im Milliardensegen nach dem französischen Krieg, eine Flut von Schwindel in Handel und Wandel, eine Flut von Verderbnis im sittlichen Leben der Familien und der Einzelnen. Sturmflut bricht herein -- über die Bewohner des Ostseestrandes und mit ihnen über ein Liebespaar, das die Schuld jener anderen Sturmflut auch auf sich geladen hat. Und wie die Bilder von dieser letzten, natürlichen Sturmflut zu dem Gewaltigsten gehören, was unsere Romanliteratur besitzt, so fehlt auch der Schilderung der Sturmflut roten Goldes und sittlichen Verfalls nicht die drastische Anschaulichkeit und nicht die innere Wahrheit. Obgleich Spielhagen sich und seine Tendenzen niemals ganz verleugnen kann, so hat er doch in diesem Buch auch den von ihm sonst mit Vorliebe befehdeten Adelskreisen ein wenig mehr ihr Recht gegeben. Auch in diesem Roman kann man, was Einzelzeichnung betrifft, manches finden, was mit der Wirklichkeit streitet; Spielhagen bringt es nicht fertig, einen Geistlichen anders zu zeichnen denn als einen gefühlsrohen und bornierten Fanatiker; und auch der Jesuit der »Sturmflut« ist allzu phantastisch herausstaffiert. Aber jedenfalls trifft die »Sturmflut« besser das Kolorit der Wirklichkeit als manches andere Produkt der Spielhagenschen Muse. Hier hat die unmittelbare Anschauung, die Gewalt seines Stoffs, die ernste sittliche Haltung gegenüber dem Schwindel und der Haltlosigkeit ihm die richtigen Farben in den Pinsel gegeben. Zeitromane objektiveren Charakters hat das Ende des 19. Jahrhunderts noch in Fülle gebracht. Lassen Sie mich nur noch die Bilder aus den Ostseeprovinzen nennen, welche ~Theodor Hermann Pantenius~ von übrigens christlicher und konservativer Weltanschauung aus gezeichnet hat. Und lassen Sie mich mit besonderer Freude des Dichters gedenken, der es wie keiner verstanden hat, das Leben der Mark Brandenburg anschaulich darzustellen: des feinsinnigen ~Theodor Fontane~. Nicht alle seine zahlreichen Romane sind von gleichem Wert. Vor allem, sie sind nicht sämtlich Zeitromane im vollen Sinne des Wortes. Sein »Vor dem Sturm« wird uns im nächsten Vortrag beschäftigen; hier gilt, was ins volle Leben der Gegenwart eingreift. Da hat auch Fontane nicht überall den Kreis weit gespannt, so weit, wie ein Zeitroman es nun einmal muß: über Schichten der Menschheit, über Klassen der Gesellschaft, über das Leben wenigstens eines ganzen Standes hin. Er bleibt zuweilen im engeren Umkreis des mehr Persönlichen, das keinen Anspruch darauf hat, für typisch zu gelten. Das hindert nicht, eben diese Dichtungen für Werke von hohem künstlerischen Wert zu erklären. Aber in dem Zusammenhang dieser Bilder haben wir ihm auch als einem Manne der Zeit und einem Künstler der Zeit unsern Tribut zu geben. Man hat bei seiner »Effi Briest« so gut wie bei seiner »Jenny Treibel« durchaus das Gefühl, daß er seine Gestalten nicht bloß nach der Seite des Allgemein-Menschlichen hin, sondern auch nach ihrer Eigenschaft als Glieder bestimmter Kreise hin als Träger allgemein geteilter Anschauungen charakterisiert. Effi Briest: das Landedelhaus, das ländliche Pfarrhaus und Kantorhaus! Die geselligen und gesellschaftlichen Verhältnisse in der pommerschen Kleinstadt! Die Familienverhältnisse im Haus des vornehmen Beamten! »Effi Briest« ist nicht lediglich Zeitschilderung; auch nach dem psychologischen Problem, welches hier zur Behandlung kommt, muß uns das Buch noch beschäftigen. Aber ganz und gar Zeitbild ist »Jenny Treibel«. Die gute Jenny Treibel mit ihrem wundervollen Idealismus und ihrem wunderbaren Realismus, mit ihren trefflichen Theorien und ihrer brutalen Praxis! Berliner Großstadtleben! Berliner Wohlstand und Mittelstand! Berliner Millionärsgefühle im Herzen einer liebenden Mutter! Und wieder nicht so, daß es heißen müßte: so sind sie alle. Aber wieder so, daß man sagen muß: diese Jenny Treibel ist mindestens kein Original, sondern sie hat eine Schar gleichgestimmter Schwestern in Berlin +W.+ und anderswo auch! -- Das umfassendste Zeitbild aber gibt Fontanes »~Stechlin~«. Hier steht im Mittelpunkt der märkische Edelmann, Herr von Stechlin, ein Mann von alter preußischer Art, mit patriarchalischen Neigungen, mit vornehmer Denkweise, mit konservativer Grundrichtung, dabei aber keineswegs ohne moderne Regungen. Im Gegenteil, manchmal ists, als sei die Tradition nur Schale, und der Kern sei ganz modern. Von pietistischer Frömmigkeit will er nicht viel wissen; ein einfaches männliches Christentum ist seine Sache, ein bischen undogmatisch sogar und doch wieder nicht ganz ohne jene Beimischung von Aberglauben, die der Dichter so sehr liebt. Neben ihm, wenn auch viel knapper skizziert, andere Vertreter des gleichen Standes, sein Sohn mit etlichen Freunden als Repräsentant des gediegenen jungen Offiziers, die alte würdige Stiftsdame im adeligen Fräuleinstift, der mit liberalen Anschauungen durchtränkte frühere hohe Beamte, die Pastoren: der schlichte, ein bischen ketzerische, sogar sozial denkende Landpfarrer Lorenzen, der weltgewandte, streberische Superintendent Koseleger, der prächtige Hofprediger Frommel in Originalaufnahme. Dazu Typen des Landvolks in einzelnen, aber ausgezeichnet getroffenen Porträts. Das ganze Bild greift nicht tief hinein in die Fragen, welche die Welt bewegen, obschon sie in manchem Gespräch ihre Rolle spielen. Im Grunde will Fontane weiter nichts, als durch solche Aeußerungen die Denkweise seiner Figuren beleuchten. Ihm liegt hier alles an der Schilderung, wenig oder nichts an der Handlung. In der ersteren aber ist er Meister. Man kann nicht richtig schildern, wenn man nicht auf das kleinste achtet; Fontane ist der begeisterte Freund feinster Kleinmalerei, in ihr und zugleich in der Objektivität derselben mit Gustav Freytag verwandt. Man wird ja bald der Mittel inne, die er braucht, um seinen Zweck zu erreichen. Er legt Gewicht aufs Milieu; der Mensch hängt eben von seiner Umgebung ab. Das Schloß, besser Herrenhaus, des alten Stechlin muß darum gründlich beschrieben werden, nicht etwa unter dem Gesichtswinkel berauschender Romantik, sondern unter dem der naturwahren Zeichnung. Die Dienerschaft gehört zum Schloß; alte Faktota geben ihm mit seinen Charakter. Die Kuriositätensammlung muß besichtigt werden; wie könnte man einen Mann kennen, ohne seine Schrullen zu kennen? Zeigt er seine Lieblinge nicht mit Grandezza oder mit Pedanterie, spricht er von ihnen mit ruhigem Humor, so gibt das eine wichtige Bereicherung unseres Wissens über seinen Charakter. Auf dem Land kann der Gutsherr nicht gezeichnet werden, wenn man ihn nicht nimmt, wie er sich der Umgebung gegenüber gibt: im Verkehr mit hoch und weniger hoch geborenen Nachbarn -- daher ihrer einige beim alten Stechlin auch zu Tische erscheinen --, im Verkehr mit dem Pastor -- daher Lorenzen seine in diesem Zusammenhang unbedingt richtige Stelle erhält; im Verkehr mit dem Lehrer und endlich mit den sonderbaren Gestalten, wie sie jedes Dorf aufweist. Desgleichen gebührt der Landschaft und ihren Eigenheiten Beachtung. Wer auf dem Landschloß zu Gast ist, besichtigt die Sehenswürdigkeiten, voran die Kirche und den See Stechlin, um den Sagengewirr sich gerankt hat, wie denn jede Gegend ihre landschaftlichen Geheimüberlieferungen besitzt. So führt Fontane, der Kleinmaler, seinen Pinsel. So zaubert er aus dem märkischen Sand Bilder von bestechender Liebenswürdigkeit, von gewinnender Gediegenheit, aber auch von wunderbarer Treue. Wirklich von wunderbarer Treue? Aber steht nicht auch Fontane im Bann seiner stark ausgeprägten Individualität? Merkt man nicht auf jeder Seite seine Liebe für die Mark, die märkischen Junker, die märkischen Kirchen und Landpfarrer, die märkischen Landleute? Klingt nicht aus allen seinen Romanen dieselbe Stimmung des eigenen Gebundenseins an die Mark wie aus jenem schlichten Vers unseres Dichters: Kein Erbbegräbnis mich stolz erfreut; Meine Gräber liegen weit zerstreut; Weit zerstreut über Stadt und Land, Aber alle im märkischen Sand! Daß diese Heimatsliebe ihm die Feder geführt hat, wird niemandem zu bezweifeln einfallen. Und es bleibt ja auch richtig, daß Fontane ebenso wie Freytag bei allem Realismus doch immer dem eigentlichen Naturalismus ferngeblieben ist; manche Gebiete menschlicher Art und Sitte bleiben für beide außer Ansatz. Sie zeichnen mit Vollendung das Leben, wie es sich dem scharfen Beobachter gibt, aber einem Beobachter, der nicht ans Licht zieht, was in der Regel sich selber mit Finsternis bedeckt. Nur muß man gerade Fontane unbedingt zugeben, daß er alles getan hat, um in dem Leser das falsche Gefühl ~nicht~ aufkommen zu lassen, als bestünden solche Schattenseiten und solche dunkelen Einschläge nicht. Man merkt es wohl, daß er absichtlich an ihnen vorüberführt. Und es gibt manchen Leser, der ihm das danken wird. Naturtreu bleibt darum seine Dichtung doch. * * * * * Und so glaube ich denn in der Tat, das Recht der Teilung des Zeitromans in einen tendenziösen und einen objektiven oder doch objektiveren praktisch erwiesen zu haben. Ich gestehe, daß gerade die Existenz dieser letzteren Gattung mir, wenn ich die lange Entwickelungsreihe des deutschen Romans durchmustere, eine ganz besondere Freude bereitet. Nicht als ob der Tendenzroman an sich minderwertig wäre: vor diesem Urteil bleiben wir hoffentlich so lange bewahrt, als wir dem freien Mann im Dichter seine freie Meinung gönnen. Aber je mehr die Tendenz ihm den freien, klaren Blick für das Wirkliche raubt, umsomehr leidet in der Tat die Kunst unter der Absicht. Da jubelt dann der mit Wirklichkeitssinn ausgestattete Leser, wenn er auf ein Gemälde trifft, das des Künstlers Herzensstellung wohl erkennen läßt, das aber in Farbe und Entwurf einfache, reine Natur atmet. Und wenn nun solches Gemälde, ohne gerade in Zeitstreitigkeiten tief hineinzugreifen, doch diese unsere Zeit mit ihren feinsten Regungen wiederzugeben weiß, dann fühlt man den hohen Wert desselben. Ein Spiegelbild ist's: Zeit, erkenne dich selbst! Ein Kritiker wirds: sieh zu, wo dein Fehler steckt! Ein Mahner bleibts: such dir die Menschen, die unserer Zeit vorwärts helfen! Wie auf anderen Gebieten, so hat auch auf diesem der deutsche Roman kein völlig eigensprossendes Wachstum gehabt. Allerdings: hier ist vielleicht seine tiefste Sonderart, sein eigentliches deutsches Wesen am klarsten zu schauen: deutsche Gründlichkeit und Genauigkeit verbinden sich mit deutscher Gemütstiefe und Herzenswärme. So in »Soll und Haben«, so im »Stechlin«. Und auch deutsche Vorbilder haben eingewirkt: Wilhelm Meister, auch der Werther. Aber außerdem ist englischer Einfluß unverkennbar: Dickens hat sehr stark herübergewirkt. Und zwar Dickens mit seiner realistischen Kraft und mit seiner plastischen Einzelkunst. In »Soll und Haben« wird man hundertfach an Dickens erinnert, vielleicht nirgends deutlicher als in der Episode, in welcher Anton Wohlfart die energische Absicht zeigt, den Herrn von Fink auf Pistolen zu fordern. Und ist es Zufall, daß gerade dort auch Freytag sich ein paarmal des uns von Dickens her so vertraut klingenden Wortes »Gentleman« in ebendemselben gutmütig-humorvollen Sinne bedient, in dem jener es gebraucht hat? Bei alledem aber muß festgehalten werden: ~der Zeitroman mit seinem hellen Tageslicht, seiner unromantischen Wahrheitsliebe, seiner umfassenden, manchmal beinahe nüchternen Gründlichkeit ist und bleibt doch im Grund eine Schöpfung deutschen Geistes~. Der historische Roman. Wie die erzählende Dichtung die Wirklichkeit zu erfassen suchte, indem sie ~vergangenes Leben~ neu erweckte, -- das Thema ist unendlich reich, denn historische Romane besitzen wir in Fülle. Und ob auch hier mit unterläuft, was man getrost der Vergessenheit anheimfallen lassen kann, ohne sich groß zu versündigen, -- zwei Gründe zwingen doch, bei Betrachtung des Heerzuges des historischen Romans durch das 19. Jahrhundert verhältnismäßig häufig anzuhalten. Der eine Grund: die Zahl der bedeutenden Schöpfungen ist auf diesem Gebiet nicht gering. Der andere Grund: auch minder Bedeutendes hat durch die Gunst der Lesewelt Anspruch auf Beachtung, mindestens auf Kritik erworben. Vielleicht könnte man darüber streiten, ob tatsächlich das Suchen nach Wirklichkeit das treibende Motiv des historischen Romans bilde. Denn auch die Romantik griff in die Tiefen der Geschichte. Und zwar nicht bloß mit jener Novelle »Michael Kohlhaas«, sondern auch mit Werken größeren Stils. ~Ludwig Achim von Arnim~ ließ 1817 den ersten Band des mittelalterlichen Romans »~Die Kronenwächter~« erscheinen (Band 2 ist Bruchstück geblieben). Und wer traut der Romantik Sinn für die Wirklichkeit zu? Auch haftet den »Kronenwächtern« sicher genug Unwirklich-Romantisches an. Aber so wunderbar ist die Macht der Geschichte auch über das Gemüt eines Romantikers, daß er doch die Wahrheit sich selbst zur Führerin erkor. Freilich: »Dichtungen sind ~nicht Wahrheit, wie wir sie von der Geschichte und dem Verkehr mit Zeitgenossen fordern~, sie wären nicht das, was wir suchen, was uns sucht, wenn sie der Erde in Wirklichkeit ganz gehören könnten, denn sie alle führen die irdisch entfremdete Welt zu ewiger Gemeinschaft zurück.« Aber dieselbe Vorrede des Dichters, die diese Worte enthält, fordert für die Dichtung die höchste Wahrheit: »Es gab zu allen Zeiten eine Heimlichkeit der Welt, mehr wert in Höhe und Tiefe der Weisheit und Lust als alles, was in der Geschichte laut geworden. Sie liegt der Eigenheit des Menschen zu nahe, als daß sie den Zeitgenossen deutlich würde, aber die Geschichte in ihrer höchsten Wahrheit gibt den Nachkommen ahnungsreiche Bilder ...« Wir stimmen dem zu, daß der Roman nicht gleiche Wahrheitspflicht hat wie die Geschichte, daß es auf die höchste, die innere Wahrheit ankommt. Und wir konstatieren, daß »Die Kronenwächter« bei allem dichterischen Schwung, bei aller Romantik ihrer Handlung, bei aller Unwahrscheinlichkeit ihrer Konzeption doch auch unter dem Banne der höchsten Wahrheit gestanden haben. Nur ist es mehr die Wahrheit mittelalterlicher Stimmung und Farbe, dazu die Wahrheit manches realistischen Zugs, als die Wahrheit aller Einzelgestalten und des Zusammenhangs, in den Menschen und Begebenheiten gestellt werden. Neben Achim von Arnim stehen noch andere Romantiker, die gleichfalls in vergangene Tage hineinzuführen gesucht haben. Da ist ~Wilhelm Hauff~ mit seinem noch keineswegs verschollenen »~Lichtenstein~« (1824), da ist ~Ludwig Tieck~ mit dem unvollendet gebliebenen »~Aufruhr in den Cevennen~«. Aber so hübsch der »Lichtenstein« zu lesen ist, -- als eigentlich geschichtlicher Roman kann er nicht gelten. Der geschichtliche Hintergrund bleibt in blasser Undeutlichkeit; was ist Sage? was Geschichte? Ähnliches gilt aber von allen jenen Werken: poetischer Zauber umhüllt uns, aber der feste Boden der Wirklichkeit entschwindet. Wie viel näher steht der geschichtlichen Wirklichkeit der eigentliche Bahnbrecher des modernen historischen Romans, der 1798 zu Breslau geborene ~Willibald Alexis~, mit richtigem Namen W. Häring genannt! Es ist kein Zufall, daß in ihm sich neue Kräfte regten, die Geschichte fruchtbar zu machen. Der Geist Walter Scotts war in ihm lebendig geworden. Seine ersten Romane gehen ganz in den Bahnen des englischen Dichters. Aber etwa seit dem Erscheinen von »Cabanis« 1832 ward er dem Vorbild gegenüber selbständiger; und gerade die Vorliebe, mit welcher er in die Vergangenheit eines engeren Gebiets, der Mark Brandenburg, sich versenkte, hat diese Selbständigkeit gefördert. Ein Buch wie »~Die Hosen des Herrn von Bredow~« (1846) wird heut noch gern gelesen; derbe Natürlichkeit, massiver Humor und gemütvolle Erzählerkunst haben uns da ein ganz prächtiges Werk beschert. Trotzdem möchte ich eine kurze Charakteristik nicht an dies Buch anschließen, das immerhin das Allgemein-Menschliche dem Geschichtlichen gegenüber bevorzugt. Vielmehr verweile ich lieber einen Augenblick bei den großen historischen Romanen und aus deren Schar bei dem »~Roland von Berlin~« (1840). Mag »Der falsche Waldemar« sich die psychologische Aufgabe schwieriger stellen, gerade »Der Roland« ist für Alexis charakteristisch. ~Einmal~ in der Art, wie die Handlung geführt ist. Manche Szene packt, und auch wer das Ganze überschaut, findet fortschreitende Entwicklung, die das Ziel im Auge behält und bestimmtem Abschlusse zuführt. Die romantische Träumerei hat aufgehört, die Kraft wirklicher, notwendig fortschreitender Handlung ist vorhanden. Die beiden eng verbundenen Städte Berlin und Köln an der Spree liegen um die Mitte des 15. Jahrhunderts in bitterem Streit miteinander, sodaß das Band, das sie verbindet, schier zerreißen will. Zugleich tobt ein anderer Streit in den Mauern der Stadt: die Zünfte hadern mit den Geschlechtern, die Bürger mit dem Rat. Und das in der Zeit, in welcher die Gerechtsame der Stadt in heiliger Eintracht gehütet werden müßten. Kurfürst Friedrich +II.+ der Eiserne liegt auf der Lauer, eben diese Rechte unter die fürstliche Würde zu beugen. Wie ihm das gelingt, das wird in mannigfach verschlungenen Wegen berichtet. Wir wollen sie hier nicht nachgehen. Genug: der Bürgermeister von Berlin, Johannes Rathenow, dem der steinerne Roland zu Berlin das Zeichen der eigenen Gerichtsbarkeit der Stadt ist, muß es erleben, daß eben dieser steinerne Roland durch die Straßen der Stadt geschleppt und in der Spree versenkt wird. Was hier mit wenigen Sätzen angedeutet ist, ist selbstverständlich nichts als der beherrschende Grundgedanke des dreibändigen Romans. Die Füllung des Rahmens gewinnt Alexis von zwei Seiten her: aus der minutiösen Schilderung vielfacher Einzelszenen und in ihnen der Sitten und Art jener Zeit, und sodann aus dem Bericht über die Schicksale einzelner Menschenkinder, insbesondere der Elsbeth Rathenow, der schönen Tochter des stolzen Bürgermeisters, und des Henning Mollner, der die Schöne zum Weibe begehrt. Einzelgeschick und Gesamtgeschick sind mit kunstreicher Feinheit in einander verwoben; keine Beschreibung führt vom Gange der Gesamthandlung ab oder tritt unvermittelt oder wie überflüssig auf. Vielmehr ist alles zu einem Ganzen geworden. Und doch ist der »Roland« nicht bloß ein Dokument der Vorzüge dieser Kunst, sondern auch manches Fehlers derselben. Wenige, die der Roman heute noch wirklich zu fesseln imstande wäre! Warum? Weil der Gang der Handlung durch die Breite der Einzelszenen doch ein schleppender geworden ist, -- weil es schwer wird, unter allen den scheinbar wirren Ranken die leitenden Äste zu erkennen, -- endlich wohl auch, weil der Fäden zu viel sind, die gleichzeitig gezogen werden, und weil in der Darstellung selbst dem Leser nicht immer genügend klare Wegweisungen für das Verhältnis des Einzelnen zum Ganzen an die Hand gegeben werden. Aber noch in einer anderen Richtung ist der »Roland von Berlin« charakteristisch für die schriftstellerische Kunst seines Verfassers. Er läßt uns die peinliche Treue wie die meisterhafte Deutlichkeit seiner Detailschilderung merken. Hierin liegt in der Tat seine Stärke. Es ist nicht möglich, hier solche Kabinettstücke der Kleinkunst probeweise wiederzugeben: auch darin ist Alexis so breit, so minutiös, daß der Raum dafür nicht reicht. Aber wer den Roland gelesen, der lasse sich erinnern an das alte Rathaus zwischen Berlin und Köln mit seinem bunt verzierten Oberbau und den vielen zierlichen Türmchen. »Die Türmchen, nicht zur Verteidigung, es war nur Spielwerk, schauten nach allen Stadtteilen; der mächtige, aber vielfach ausgezackte Giebel aber war dem Spreeflusse zugewandt. Er durfte nach keiner der beiden Städte blicken. Wäre es doch zu Ungunsten der einen oder anderen gewesen. Das litt keine. Darauf gab man viel im Mittelalter und fürchtete und scheute das Spiel des Zufalls.« Es sei erinnert an die Beschreibung der stürmischen Ratssitzung, in welcher Niklas Perwenitz zu vermitteln sucht, an den Weg des Bürgermeisters durchs Straßenleben der Stadt nach dem Schummschen Hause in Köln, an das unübertrefflich drastisch gemalte Fest beim Ratsherrn Thomas Wyns und an anderes mehr. Viel zu breit ist manche der Szenen, aber lebendig, anschaulich und wahr sind sie alle. Ja ~wahr~! Das ist das dritte, was im Roland den Meister erkennen lehrt. Hier ist realistische Treue, gepaart mit kräftigem Humor, auch wohl im Gewand satirischer Überlegenheit, aber eben Treue. Keine Treue, die ihre Aufgabe darin sieht, ~alles~ zu sagen. Aber doch eine Treue, die das, was sie sagt, dem Leben abgelauscht hat. Du liebes kleines Berlin-Köln aus der Zeit Friedrichs des Eisernen! Du mit deinem stolzen Eigenbewußtsein und dem starren Selbständigkeitsgefühl! Was sind deine Ratsherrn für mächtige Leute gewesen, und welcher Reichtum hat in deinen Mauern sich geborgen! Wie steif ist dein Nacken schon dazumal gewesen, wie kritisch dein Verstand gegen alles, was von oben kam! Wie haben deine Bürger bei aller Würde doch auch zu lachen gewußt; und was für lose Mäuler haben ihre Witze gerissen! Es ist das Berlin des Mittelalters, welches der Roland erstehen läßt; aber wir zweifeln nicht: es ist der richtige Vorfahr des Berlin von heute! Wilibald Alexis hat dem historischen Roman endgültig die Bahn gebrochen. Wer seine Werke vor allem auf die Kraft der Spannung, auf gedrungene Zusammenfassung, kurz auf die Kunst der Gestaltung des Ganzen ansähe, würde oft enttäuscht sein. Wer aber das Einzelne ansieht, die Plastik der Kleinmalerei und die Schönheit des Gesamtbildes der Zeiten, die er beschreibt, der wird ihn immer mit Bewunderung nennen. Nun ist dem Durchschnittsromanleser freilich nichts schrecklicher, als wenn der Autor zu breit wird; und wer möchte nicht zugeben, daß der Fehler groß ist? Aber anderseits sollten ausdauernde Naturen von feinem historischem Geschmack doch immer wieder einmal auf ihn zurückgreifen. Denn in der Art, wie er die Geschichte für die Dichtung genützt hat, steht er, obwohl erst Bahnbrecher, doch bereits auf der Höhe. Überschauen wir nun das weite Feld des historischen Romans nach W. Alexis, also in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts! Als gemeinsames Charakteristikum stelle ich fest: der romantische Zauber ist abgestreift, manchmal auch der poetische Duft; jedenfalls droht von daher der nüchternen Erfassung der Wirklichkeit keine Gefahr mehr. Wer für jenen Zauber Sinn hat, mag wohl trauern, daß er dahin ist; er gibt doch tatsächlich einen eigenen Reiz. Wenn er nur überall zu gunsten der geschichtlichen Wirklichkeit sein Reich verloren hätte! Aber es haben längst nicht alle Dichter von W. Alexis ernstlich gelernt. Lassen Sie mich Ihnen zuerst diejenige Linie in der Geschichte des historischen Romans weiterführen, welche eine wirkliche Entwicklung zur Vollendung hin am merkbarsten spüren läßt! Das ist die Linie, welche von W. Alexis her über ~Scheffel~ und ~Riehl~ auf ~Freytag~ hinführt, in ihm aber keineswegs ihr Ende erreicht. Was hier kurz zu skizzieren ist, das ist die Entwicklung des ~kulturhistorischen Romans~. Wie unendlich verschieden kann die Methode sein, in welcher der Romanschriftsteller Geschichte und Dichtung vermählt! Das kann ja scheinbar geschehen, ohne daß von der Geschichte mehr entlehnt wird als der äußere oder gar äußerste Rahmen. Statt daß man die Jahreszahl 1800 und so und so viel an den Anfang setzt, greift man eben ein paar Jahrhunderte zurück. Irgend eine Größe der gewählten Zeit muß in ein paar Szenen auftreten, -- aber mit Vorsicht, damit man nicht in Konflikt mit der Geschichte komme. Der Stand und Beruf, die Kleidung und etwa noch die Sprache der handelnden Personen wird ein wenig in altmodisches Gewand gehüllt, wobei es weiter keine Rolle spielt, ob jemals Leute auf dem Erdenrund so gesprochen haben, wie die Figuren im sogenannten geschichtlichen Roman. Sodann wird eine Anzahl Zutaten hereingegeben -- ein bischen Heldenmut aus den Kreuzzügen, ein Quantum Glaubenstreue aus der Reformationszeit oder eine Portion Kriegsgreuel aus dem dreißigjährigen Krieg. Und wenn nun noch der nötige Pfeffer nicht fehlt, um die Sache zu würzen, und ein Stückchen Zwiebel dabei ist, das die Tränen lockt, dann stürzt sich die Leserschar auf den »herrlichen historischen Roman«. Aber die Maskerade kann den ernsten Beurteiler nicht täuschen. Wann wäre je einer dadurch ein Ritter geworden, daß er sich eine Rüstung übergeworfen und mächtig mit dem Harnisch geklirrt hat? Aber warum entwerfe ich hier diese Karikatur eines historischen Romans? Lediglich, um durch den Gegensatz das Bild des kulturhistorischen Romans schärfer herauszustellen. Vom Februar 1855 ist das Vorwort datiert, welches ~Josef Viktor von Scheffel~ seinem »~Ekkehard~« mitgegeben hat. Dies Vorwort bestimmt es scharf und klar als die Aufgabe des historischen Romans, im gegebenen Raum eine Reihe Gestalten scharf gezeichnet und farbenhell vorüberzuführen, »~also daß im Leben und Ringen und Leiden der Einzelnen zugleich der Inhalt des Zeitraums sich wie zum Spiegelbild zusammenfaßt~.« Scheffel verlangt für den Roman die Anerkennung als ebenbürtigen Bruder der Geschichte; aber dem Roman, dem diese Anerkennung gebühren soll, mutet er auch zu, daß er auf historischen Studien ruhen muß. Von seinem »Ekkehard« meint er: »Daß nicht viel darin gesagt ist, was sich nicht auf gewissenhafte kulturgeschichtliche Studien stützt, darf wohl behauptet werden, wenn auch Personen und Jahrzahlen, vielleicht Jahrzehnte mitunter ein weniges in einander verschoben werden.« Und in der Tat, -- indem er diese geschichtliche Sicherheit mit nicht weniger als 285 gelehrten Anmerkungen stützt, ist er der Geschichts~wissenschaft~ fast zu sehr entgegenkommen. Das Beste ist nun freilich, daß uns Scheffel nicht bloß ein Programm gegeben, sondern daß er eben dies Programm auch trefflichst ausgeführt hat. Wer jene Anmerkungen liest, dem kann bange werden, ob er nicht einem pedantischen Gelehrten in die Hände gefallen sei. Aber das Bangen ist unnütz. Im »Ekkehard« pulsiert so frisches, munteres Leben wie in wenigen anderen Büchern. Er selber erzählt, wie ihm dies Leben erwachsen ist. Die alten Quellen hat er studiert: da »hob und baute es sich empor wie Turm und Mauern des alten Gotteshauses St. Gallen, viel altersgraue ehrwürdige Häupter wandelten in den Kreuzgängen auf und ab, hinter den alten Handschriften saßen die, die sie einst geschrieben, die Klosterschüler tummelten sich im Hofe, Horasang ertönte aus dem Tor und des Wächters Hornruf vom Turme. Vor allen anderen aber trat leuchtend hervor jene hohe gestrenge Frau, die sich den jugendschönen Lehrer aus des heiligen Gallus Klosterfrieden entführte, um auf ihrem Basaltfelsen am Bodensee klassischen Dichtern eine Stätte sinniger Pflege zu bereiten ...« Wir wissen aber, welche Fülle anderer Gestalten den »Ekkehard« belebt: fürstliche Burggenossen -- vom Kämmerer Spazzo und der Griechin Praxedis bis zur Gänsehirtin Hadumoth, daneben Weltpriester und Waldfrau, und nicht zuletzt der wimmelnden Hunnen Gewühl. Wir wissen alle, wie diese Gestalten Leben bekommen, wie die ganze Zeit des 10. Jahrhunderts, wie die ganze Gegend dort am Bodensee in ihnen Leben gewinnt. Und wer hätte sich nicht schon an der Form erfreut, in welcher Scheffel jenes dunkle Jahrhundert erweckt hat? Die Schwerfälligkeit eines W. Alexis ist gründlich überwunden, die Handlung ist kräftig zusammengefaßt und fesselnd gestaltet, Brauch und Sitte sind selten besonders beschrieben, -- die Handlung selbst läßt sie erkennen. Das Ganze ist durchweht von goldenem Humor. Wir danken dem Dichter, daß er ein wirkliches, echtes Kulturbild gegeben, und verschmerzen es auch, daß er es für nötig befunden hat, diese Echtheit ein bischen aufdringlich zu bescheinigen; wir freuen uns über die Leichtigkeit der Behandlung, den Fluß der Darstellung, die Anmut der Schilderung. Denn von der Vorstellung sind wir doch hoffentlich los, als ob alles, was tüchtig ist, langweilig sein müßte! -- Der »Ekkehard« ist ein Buch des deutschen Volks geworden, mag man sonst über Scheffels Poesie denken, wie man will. Ein Arno Holz, der Scheffels Gedichte gar nicht leiden mag, singt an seine Adresse: »-- Jahrzehnte lagen sie uns zur Last, Deine altdeutsch jodelnden Leute.« Aber er fährt fort: »~Doch daß Du den Ekkhart geschrieben hast, Das danken wir Dir noch heute!~« -- Nicht eben weit ab von Scheffels Programm ist dasjenige, welches ~Wilhelm Riehl~ 1856, ein Jahr später, bei der Herausgabe seiner ersten »~Kulturgeschichtlichen Novellen~« aufgestellt hat. Zu diesem Programm gehört, daß die handelnden Personen selbst nicht geschichtlicher Überlieferung entstammen, sondern freigeformte Charaktere sind. Gerade so glaubt Riehl am besten die Gesittungszustände, die Kultur eines bestimmten Zeitabschnitts darstellen zu können. Aus diesen Kulturzuständen heraus müssen die Menschen selbst mit ihrem Wesen, ihren Leidenschaften, ihren Konflikten geschaffen sein. In Wirklichkeit ist diese Forderung im wesentlichen schon im »Ekkehard« erfüllt, wenngleich Scheffel überlieferte geschichtliche Namen lebendig gemacht, nicht eigens neue Gestalten geschaffen hat. Ist das wirklich ein großer Unterschied? Wenn man Riehls Absicht recht versteht, so ist sein Programm doch als der schärfste Gegensatz zu jenem vorhin geschilderten äußerlich-historischen Roman zu verstehen, der sich an große Namen und große Zeiten anlehnt, aber damit der Geschichte genug getan zu haben glaubt. Er überspannt den Gegensatz: gar nichts, was in der sog. Geschichte eine Rolle spielt, sondern ~nur Kultur~! Sicher ist auch sein Programm berechtigt, aber nicht als das einzig richtige, sondern als eins, das neben sich das eng verwandte Scheffelsche Programm sehr gut verträgt. Ja, es dürfte so stehen, daß Riehls Programm kaum weiter reicht als für die kulturhistorische ~Novelle~. Der Roman, der weiter ausholt, der nicht bloß ein Bildchen, sondern ein großes, weites Bild geben will, kann nicht ~bloß~ bei jenen Gestalten stehen bleiben, welche die Phantasie frei als Träger bestimmter Zeitkultur erfunden hat. Er muß weiter greifen, und zwar ins geschichtlich Überlieferte hinein. Sonst würde er schließlich selber sein Programm der geschichtlichen Treue verleugnen. Die Novellen, welche Riehl selbst in großer Zahl geschaffen hat, geben ganz im Sinn seiner Absicht treffliche, feine, kleine Einzelbilder aus der deutschen Vergangenheit. Sie sind nicht so graziös wie der »Ekkehard«; man merkt etwas deutlicher den Gelehrten. Aber sie sind überall fesselnd und graben bei aller Kleinheit überall in die Tiefe des geschichtlichen Lebens hinein. Sie verdienten mehr Beachtung, als ihnen gemeinhin zu teil wird. Der »Ekkehard« und Riehls Novellen, sie bedeuten ein Programm. Ohne ein ausdrückliches Programm hat vorher schon ~Meinhold~ in seiner »~Bernsteinhexe~« (1843) ein ähnliches Bild geschaffen. Aber der größte Wurf geschah in der Nachfolge dieses Programms: ich meine ~Gustav Freytags~ großes Werk »~Die Ahnen~«, das von 1872 bis 1880 erschien. In sechs Bänden gibt der Dichter hier eine Reihe von Bildern aus der Geschichte eines Geschlechts. Ein Zeitraum von anderthalb Jahrtausenden soll in seinen charakteristischen Epochen dem Leser lebendig werden. »Ingo« und »Ingraban« führen in uralte Zeiten; die Jahreszahlen 357 und 724 stehen ihnen voran. Sitte und Brauch, Art und Recht in den Wäldern der Thüringe kündet uns »Ingo« in kraftvoll gezeichneten Linien, in schwungvoller Darstellung, in vollendet fesselndem Abschluß. Ingo, der Königssohn aus Vandalenstamm, und Irmgard, Fürst Answalds Tochter von Thüringer Blut, -- sie haben der Deutschen Herz gewonnen. Und wie hier das Tosen der römischen Waffen von fernher hineinschallt in die Stille germanischer Waldeinsamkeit, so erklingen in »Ingraban« die Kampfrufe aus dem Streit zwischen Deutschen und Wenden. Aber zugleich erleben wir hier den Geisterkampf mit: Christentum ringt mit dem Heidentum, die sieghafte Religion mit der niedergehenden, Winfried-Bonifatius tritt neben Ingram-Ingraban. Einen starken Schritt vorwärts liegt »Das Nest der Zaunkönige«. Nicht mehr gegen Römerübermut kämpft deutsche Kraft; auch die wendische Gefahr ragt in dies Buch nicht mehr hinein. Unter einander streiten des Volkes Glieder. Der Sachsenkönig Heinrich +II.+, der seit dem Jahre 1002 das Zepter führt, muß seine Herrschaft gegen die übelwollenden Großen des eigenen Landes schirmen. Die Schilderung deutscher Uneinigkeit, dazu aber überragender Königskraft und endlich mittelalterlichen Klosterlebens wird mit den persönlichen Interesse an Immo, dem Klosterschüler und späteren Helden, und seiner geliebten Hildegard verwoben. Das »Nest der Zaunkönige« vermag nicht ganz im gleichen Maß für sich zu gewinnen wie die beiden ersten Stücke; mag sein, daß der starke Gegensatz zwischen fremder und heimischer Art, der hier fehlt, dort wesentlich die packende Kraft gehoben hat. Vielleicht ist doch auch die Anlage dieses Buchs etwas zu breit. Auch die »Brüder vom deutschen Hause«, welche den dritten Band bilden, erreichen nicht die geschlossene Vollendung der ersten Bilder. Sie erzählen eine Lebensgeschichte, aber sie berücksichtigen dabei allzu wenig die Einheit der Entwicklung, als daß der Romancharakter gewahrt bliebe. Herr Ivo, der Thüring, ists, der daheim in Minnedienst und ritterlicher Art, auf dem Kreuzzug in merkwürdigen Abenteuern, dann wieder daheim im Konflikt mit der ketzerverfolgenden Kirche, endlich als Glied des deutschen Ordens geschildert wird. Auch hier ist durch Ivos Verehrung der edlen Agnes von Meran, dann durch sein und der schönen Friderun Herzensbündnis für menschliche Teilnahme gesorgt. Die Bilder mittelalterlichen Lebens, welche dieser Band entfaltet, sind reicher als die der früheren Bände. Kaiser Friedrich +II.+, der Ketzerrichter Konrad von Marburg, die heilige Elisabeth, -- sie alle grüßen den Leser. Aber neben den Mängeln der äußeren Gestaltung steht doch der andere Mangel, daß eben diese großen Gestalten nicht recht treu und echt gezeichnet sind. -- Es ist sonderbar, daß Freytag gerade da, wo er große weltgeschichtliche Gestalten in die Welt seiner Phantasie eingreifen läßt, kein rechtes Glück hat; der Martin Luther, der am Schlusse der nächsten Abteilung, die den Titel »Markus König« führt, eine schwierige Frage mit spitzfindigem Scharfsinn löst, ist auch nicht der Martin Luther der Geschichte. Sonst freilich ist »Markus König« einheitlicher als die »Brüder vom deutschen Hause«; in das Städteleben von Thorn, in das Ringen von Deutschtum und Polentum, in Händel und Fehden der Zeit der Reformation führt er trefflich ein. Nur daß man es doch als peinliche Lücke empfindet, daß das eigentlich Bewegende dieser Epoche, daß das religiöse Moment so ganz zurücktritt. Der Band stellt sich damit selber zur Seite; er schildert den Zeitcharakter in Nebenerscheinungen, und er schildert ihn darum unvollständig und ungenügend. -- Der fünfte Band enthält die beiden Skizzen, welche gemeinsam »Die Geschwister« betitelt sind. Die erste, »Der Rittmeister von Alt-Rosen«, zeigt Kriegswesen und Aberglauben aus der Mitte des 17. Jahrhunderts, die zweite, »Der Freikorporal bei Markgraf Albrecht«, will das Charakteristische aus der Zeit Friedrich Wilhelms +I.+ herausheben. Aber beiden Skizzen fehlt wirkliche geschichtliche Kraft und tieferes menschliches Interesse. Auch der letzte Band »Aus einer kleinen Stadt« vermag die Vorgänger nicht wieder zu erreichen; dazu ist weder die erste, größere Erzählung aus der Zeit der Freiheitskriege plastisch genug gezeichnet, noch die zweite kleinere, welche in einem Journalisten das letzte Glied der »Ahnen« erkennen läßt, irgend genügend vertieft. Im einzelnen sind die Bände also von sehr verschiedenem Wert. Und zwar nicht bloß nach Seite der künstlerischen Gestaltung, sondern auch nach der Richtung geschichtlicher Anschaulichkeit. Man darf getrost sagen: selbst für Gustav Freytag war der Wurf ~zu~ groß. Wenn jenes Programm Riehls wirklich ausgeführt werden soll, so bedarf es dazu nicht bloß einer reichen Gestaltungskraft, sondern auch einer Vertiefung in das Innerste der zu schildernden Zeit, wie sie nur mit schweren Mühen zu gewinnen ist. Aber wer kann in dieser Weise sämtliche Hauptepochen der vaterländischen Geschichte beherrschen? Wer kann leben, ja wirklich ~leben~ in den Zeiten der Sachsenkaiser, der Reformation und der Befreiungskriege? Auch Freytag hat das nicht völlig vermocht. Und vielleicht hat doch auch für ihn das Riehlsche Programm eine Gefahr eingeschlossen. Es geht allzusehr ins Kleine, ins Alltägliche, ins Gewöhnliche. Eine Zahl von losen Einzelskizzen kann es geben, und sie alle mögen sich gut und gern zum Gesamtbild der Gesittungszustände eines Volks zusammenschließen. Aber wenn eine fortlaufende, zusammenhängende Reihe die wichtigsten Epochen der ganzen Volksgeschichte umfaßt, dann ist das Prinzip des Kleinlebens, des »Abseits vom Wege« nicht mehr für sich allein brauchbar. Dann müssen die großen Bewegungen der Geister mit ganz anderer Wucht ins Leben des Romans eingreifen. Aber wozu im einzelnen mit Freytag rechten? Seine »Ahnen« haben ja trotz mancher Schwächen längst einen Ehrenplatz unter den deutschen Dichtungen gewonnen. Gewiß, sie verdienen ihn auch. Nicht bloß durch ihre gelungensten Teile, sondern vor allem durch die wirklich geniale Größe des ihnen zugrunde liegenden Gedankens. Und endlich: wie schon der »Ekkehard«, wie Riehls Novellen, wie vordem schon die Werke von W. Alexis, so sollen auch Freytags »Ahnen« der Liebe eben des deutschen Volkes gewiß sein, denn sie haben uns ~die eigene Vergangenheit~ erschlossen. Es wird für alle Zeiten ein Ruhm des historischen Romans im 19. Jahrhundert bleiben, daß er zum ~nationalen~ Roman geworden ist. -- Vollständigkeit in der Aufzählung der literarischen Erscheinungen kann auch dies Bild des historischen Romans nicht anstreben. Aber ich möchte doch die Entwicklungslinie des kulturhistorischen Romans nicht abschließen, ohne ein Werk zu erwähnen, das in seiner Eigenart besondere Beachtung verdient: ich meine ~Theodor Fontanes~ Zeitgemälde »~Vor dem Sturm~.« Es ist nicht Fontanes Art, seinen Romanen einen »großen Zug« zu geben; auch dies Gemälde aus dem Winter 1812 zu 1813 gibt Kleinleben, ganz und gar Kleinleben. Aber das eben ist Fontanes Stärke, ~wie~ er dies Kleinleben zu malen weiß. Diese Kunst der Anschaulichkeit, diese Sorgfalt des Details, diese Peinlichkeit in der geschichtlichen Treue, diese Feinheit in der Erfassung aller wesentlichen Strömungen, und zu dem allen diese feste Fundamentierung der Erzählung auf märkischem Boden! Ich gönne jedem die Freude an tatenreichen, geschickt gruppierten Handlungen, aber ich gestehe, meine Freude an dieser Fontaneschen Art gebe ich dafür nicht hin. Schließlich treibt er doch auch wahrlich nicht bloß Kleinigkeitskrämerei; das Kleinste -- und wenn es die Tischordnungen sind, welche er für sämtliche vorkommenden Mahlzeiten mitteilt -- ist ein notwendiges Glied des Ganzen, ein unentbehrlicher Pinselstrich auf dem Bilde der beschriebenen Zeit. Ich habe etwas lange bei dem kulturhistorischen Roman verweilt. Aber wenn auch anderes darüber knapper behandelt werden muß, ich bereue es nicht. Hier liegt der größte Erfolg des historischen Romans im 19. Jahrhundert. Man kann alle die anderen Erscheinungen auf diesem Gebiet danach beurteilen, wie nahe oder wie weit sie von dieser Linie sich entfernen. Neben die rein oder vorwiegend kulturgeschichtliche Richtung stelle ich zunächst eine ihr nahestehende, der ich den Namen der ~allgemeingeschichtlichen~ geben möchte. Auch für diese Richtung ist die Absicht maßgebend, ein bestimmtes treues Bild aus der Geschichte zu zeichnen. Nur daß dieses Bild nicht gerade die Gesittungszustände, das kulturelle Kleinleben umfassen soll, sondern sich mehr an die großen Strömungen und Stimmungen, an feste historische Ereignisse der Entwicklungsgänge anlehnt. Auch die Romane dieser Art müssen einen kulturhistorischen Einschlag haben; sonst würden sie schemenhaft werden. Die Kunst muß hier für den Dichter darin bestehen, ohne allzuviel Detail doch die Gestalten der Dichtung in engste Verbindung mit dem geschichtlichen Leben der gewählten Zeit zu setzen. Zahllose Romanschreiber sind an dieser Aufgabe gescheitert; sie gaben modernes Leben in geschichtlichem Gewand. Aber zwei Meister möchte ich nennen, deren Werke mir in diese Kategorie zu gehören scheinen. Der eine ist ~Wilhelm Raabe~, der Stimmungsdichter, der doch auch die Geschichte sich dienstbar gemacht hat. Sein »~Unseres Herrgotts Kanzlei~« (1862) zeichnet mit kräftigen Strichen die Kriegsnöte des belagerten Magdeburg und zugleich etliches von den Stimmungen und Strömungen des Reformationsjahrhunderts. Nur fehlt eben die intime Einzelschilderung und die feinere psychologische Differenzierung. Und Raabes Hauptstärke, die Stimmung, kann hier nicht in gleicher Weise zur Geltung kommen wie bei seinen nicht-historischen Werken. Auch seine Erzählung aus dem 18. Jahrhundert, »Das Odfeld« sei hier genannt. -- Der andere Meister dieser allgemeingeschichtlichen Richtung ist der Schweizer ~Conrad Ferdinand Meyer~. Sein großer Roman »~Georg Jenatsch~« beschreibt die langen und verworrenen Parteikämpfe, welche auf dem Gegensatz der Konfessionen beruhten. Die Absicht ist unfraglich die, eben diese Zeit der Wirren und Kämpfe dem Leser lebendig zu machen. Allerdings hat das Buch bei großen Vorzügen auch erhebliche Mängel. Es führt nicht in konzentrierter Entschlossenheit vorwärts; es gibt Bilder, aber kein einheitlich wirkendes Bild. Es hält den Leser durch Zersplitterung des Interesses nicht bei dem befriedigenden Bewußtsein stets vorhandener Klarheit. Jürg Jenatsch selbst, der Parteiführer, hat eine nur mäßige Qualifikation zum Romanhelden. Sein Charakter packt, aber er verstimmt zugleich. Er begeistert, aber er kühlt bald wieder ab. Alles in allem, er hält die Sympathien der Leser nicht fest. Auch gelingt es ihm mit seiner objektiven, etwas schwerwuchtigen Art minder gut als leichteren Werken, die doch notwendige Spannung zu erzeugen. Bedeutender noch als dieser große Roman sind Conrad Ferdinand Meyers historische Novellen. Freilich, man kann versucht sein, sie nicht mehr zu der eben besprochenen Richtung zu zählen, sondern zu einer ~dritten~, der ~an die Geschichte angelehnten individuellen Erzählung~. Diese Bezeichnung bedarf einer Erklärung. Ich denke dabei an Dichtungen, welchen nicht die Erweckung eines bestimmten geschichtlichen Kulturlebens, auch nicht die bestimmter geschichtlicher Vorgänge das Ziel ist, sondern welche ein mehr individuell interessantes Erzählungsbild, das nicht gerade geschichtlichen Gründen, sondern allgemein menschlichen Motiven entstammt, an die Geschichte anlehnen. Auch das ist eine berechtigte Form des Romans, nur daß freilich das Wort »historisch« nicht im gleichen Sinn ihr zukommen kann, wie den eben genannten Richtungen. Selbstverständlich muß auch hier der Gesamteindruck echt sein. Die Grenzen zwischen dieser Art und der vorher skizzierten sind leicht verrückbar; auch bei Conrad Ferdinand Meyers Erzählungen ist es manchmal schwer zu sagen, ob sie mehr das Allgemein-Geschichtliche oder das Individuelle betonen. Jedenfalls aber verdienen sie zum großen Teil als Meisterstücke der Erzählerkunst genannt zu werden. »~Der Heilige~« greift in das Leben des englischen Kanzlers Thomas Becket, also ins 12. Jahrhundert hinein, -- mit welch wunderbarer, abgerundeter Darstellungskunst! Andere haben ihren Schauplatz zu anderen Zeiten und in anderen Ländern; »~Die Hochzeit des Mönchs~« z. B. führt nach Padua, »~Das Amulett~« in die Tage der Pariser Bluthochzeit. Wer aber geneigt ist, diese Erzählungen noch zu der gleichen allgemeingeschichtlichen Richtung zu zählen wie den »Georg Jenatsch«, der mag als Muster der dritten Gattung eine Erzählung nehmen wie »~Grete Minde~« von ~Fontane~. Hier steht nicht die Kultur im Vordergrund und ganz sicher nicht die Geschichte; Lieb und Leid, wie es die Herzen bewegt, bewegt auch die Erzählung, -- nur daß ihr ein geschichtlicher Hintergrund gesichert ist. Übrigens aber ist Fontane gerade in der »Grete Minde« ein anmutiges und feines Werk gelungen, eine wohlgebaute, nirgends zu stark auftragende, aber überall tiefgefaßte und pointierte Erzählung. Endlich nenne ich kurz eine ~vierte~ Gattung des historischen Romans, nämlich diejenige, welche nicht Kulturleben, auch nicht geschichtliche Vorgänge, und wiederum nicht individuelles Menschengeschick zum Ausdruck bringen will, sondern den ~Gedankengehalt der Geschichte~, die Ideen, die Tendenzen, die geistigen Strömungen. Eine gewaltige Aufgabe -- dankenswert und schwer zugleich. Schwer vor allem deshalb, weil es viel eher gelingt, gegenüber den Kulturzuständen vergangener Epochen objektiv zu bleiben als gegenüber den Gedanken, welche in jenen Zeiten lebendig gewesen sind. Schon das ist schwer, diese Gedanken klar und ruhig zu ~erfassen~, geschweige denn, sie objektiv wiederzugeben. So haben wir denn von dieser Gattung auch keine erstklassigen Romane zu verzeichnen. Aber genannt seien als ihre Vertreter ~Karl Frenzel~ (z. B. »Freier Boden«), ~Heinrich Laube~ (»Der deutsche Krieg«) und ~Karl Gutzkow~ (»Hohenschwangau.«) Eine große Reihe historischer Romane habe ich Ihnen skizziert oder nur genannt. Die Fülle der Erscheinungen zwang dazu, auf gründlichere Behandlung einzelner Werke zu verzichten. Aber ich bin gewiß, daß Sie unter den vielen Namen, die genannt wurden, etliche -- vielleicht mit Befremden -- vermißt haben. Nun -- sie sind bisher nicht ohne Absicht übergangen worden. Es war ja die Absicht, nur das wirklich Bedeutende anzuführen, um so die Entwicklung des historischen Romans in raschen Zügen zu skizzieren. Zu den Größten zählen eben die Übergangenen nicht. Trotzdem muß auch etlichen von ihnen noch ein Wort gewidmet werden, -- schon deshalb, weil sich die Gunst des Lesepublikums so warm für sie ins Zeug legt. Das gilt vor allem von ~Felix Dahn~ und ~Georg Ebers~. Namentlich eine Anzahl von Dahns »~Kleinen Romanen aus der Völkerwanderung~« sind ohne geschichtliche und ohne höhere künstlerische Kraft. Manche haben durch kunstvolle Ordnung des Stoffs eine gewisse Spannkraft, manchen liegt ein für eine Novelle ganz brauchbarer Gedanke zu grunde, alle haben die Entschuldigung für sich, daß es zum Allerschwersten gehört, kulturlose Zeiten lebendig zu machen, -- aber eben Natur und Leben sucht man in ihnen vergebens. Ganz moderne Gedanken, wie sie der Weltanschauung Dahns entsprechen, hat er hier längst Vergangenen in den Mund gelegt. Zudem ermüdet an ihnen die schablonisierte Manier. Stärker ragt die Geschichte hinein in Dahns großes Werk, den »~Kampf um Rom~.« Es ist ja leichter, große Heldengestalten und mächtige Weltereignisse dem Leser nahezubringen als untergeordnete Wesen aus kleineren Umgebungen. So weckt der »Kampf um Rom« unfraglich erheblich größeres Interesse als jene eben besprochenen Romane. Es bleibt auch richtig, daß der »Kampf um Rom« dramatische Kraft, begeisterte Wärme und mächtigen Schwung besitzt. Leicht entzündbare, namentlich jugendliche Herzen vermag er mit dieser seiner Art geradezu in Flammen zu setzen. Sollen wir alles dies gering einschätzen? Gewiß nicht! Aber anderseits dürfen wir uns durch diese fortreißende Wucht auch nicht die ruhige Besinnung rauben lassen. Was für »Geschichte« liegt dem Roman zu grunde? Jene Geschichte, die nicht viel anderes kennt, als Helden und Bösewichte, Schlachten und Kämpfe, Ruhm, Leidenschaften, Intrigen! Es ist die Geschichtsmethode der Volksbücher, diejenige der mittleren Klassen des Gymnasiums (auch hier ist sie jetzt schon großenteils überwunden), aber nicht diejenige, welche dem tiefer Schauenden das wirkliche Leben der Vergangenheit erweckt! Welche Psychologie führt das Zepter? Eine Psychologie der großen Linien und der großen Mittel, aber keine Seelenforschung, die Menschen und Zeiten in feiner Erfassung auch scheinbar minder wichtiger Züge in Übereinstimmung zu bringen weiß! Folglich bleibt vieles im »Kampf um Rom« geradezu talmihistorisch. Und selbst die äußere Echtheit verdirbt sich Dahn, indem er alle Fäden in den Händen des Cethegus zusammenlaufen läßt, einer Figur, die wie dazu geschaffen ist, zum Ideal träumender Jünglinge zu werden. Die gesamte Entwicklung hängt an Cethegus; und Cethegus ist ein dichterisches Phantasiegebilde! Aber selbst wenn man diese Entgleisung in den Kauf nimmt, zu reiner Freude an dem Buch kann man nicht kommen, weil das Pathos, in dem Dahn seine Menschen reden läßt, gar zu ungeheuerlich ist. Nur eine einzige Stilprobe! Furius Ahalla, der Korse, spricht: »Staune nicht -- frage nicht! Ja: ich liebe Valeria mit aller Glut: fast haß' ich sie -- so lieb ich sie. Ich warb um sie vor Jahren. Ich erfuhr, sie sei dein -- vor dir trat ich zurück: -- erwürgt hätt' ich jeden Andern mit diesen Händen. Ich eilte fort: ich stürzte mich in Indien, in Ägypten in neue Gefahren, Abenteuer, Schrecknisse, Genüsse. Umsonst. Ihr Bild blieb unverwischt in meiner Seele. Höllenqualen der Entbehrung erlitt ich um sie. Ich durstete nach ihr, wie der Panther nach Blut. Und ich verfluchte sie, dich und mich ...« Wer spricht so im gewöhnlichen Leben? Furius Ahalla, der Korse? Nimmermehr! Ähnlich ist über die Schöpfungen eines anderen Lieblings der Mode zu urteilen, über die von ~Georg Ebers~. Der kulturhistorische Roman verläßt das nationale Gebiet; das ist sein gutes Recht. Er verläßt nicht das Prinzip der Kulturschilderung; hierin hat der Professor der Ägyptologie sehr Hübsches geboten. Aber es ist leichter, altägyptische Kultur zu schildern als altägyptische Menschen zu zeichnen. Die Fabel und die Charaktere, das sind bei Ebers die wunden Punkte. Man muß schon sehr gutgläubig sein, um in diesem Punkt das als echt hinzunehmen, was er gibt. Nur im »+Homo sum+« hat Ebers einmal tiefer zu motivieren gesucht; das Buch steht über dem Durchschnitt. Dafür hat er aber auch manches geschrieben, was unter dem Durchschnitt bleibt. Seine »Gred« ist eigentlich das Muster eines historischen Romans, wie er nicht sein soll. Mielke hat Recht: »glanzloser Firnis deutschen Mittelalters« liegt darüber. Die Sprache gekünstelt, das Empfinden modern, alles, was über das Individuelle hinausgeht, verschwommen, dies Individuelle aber ungefähr auf den Backfischton gestimmt, die Gedanken ohne Entschuldigung fehlend -- wahrlich, was dabei herausgekommen ist, ist ein kraft- und saftloses Ding, das absolut nichts durch die Verlegung ins Mittelalter gewonnen hat. Die Geschichte könnte beinah ebenso gut in jedem bürgerlichen Hause des 19. Jahrhunderts spielen. Man möchte darüber weinen, daß das Gros des die Leihbibliotheken benützenden Publikums auch die »~Gred~« kritiklos genossen hat, weil Ebers nun einmal in der Mode war. Von anderen will ich schweigen. Nicht als ob nicht noch manches Werk auch neben den großen und hervorragenden Schöpfungen stünde, das der Liebe des deutschen Lesers sicher sein darf. Und ebensowenig soll geleugnet werden, daß außer Georg Ebers mit seiner Archäologie in Romanform auch andere Schriftsteller noch den historischen Roman gemißbraucht haben. Aber was hat es für Zweck, das Gedächtnis an ~Ecksteins~ »Sensationsromane im historischen Gewande« -- wie Adolf Bartels sie nennt -- aufzufrischen? Robert ~Hamerlings~ »Aspasia« verdiente wegen ihrer ernsthaften Gelehrsamkeit Erwähnung, wenn wir nicht den historischen ~Roman~ behandelten. Ein solcher ist das schwerfällige Buch mit seiner steifleinenen Umständlichkeit nicht geworden. Es sei genug. Über Höhen und durch Tiefen sind wir gewandelt; Prunkstücke der deutschen Erzählerkunst haben wir geschaut. Laßt uns begraben unter Schutt und Asche, was auf diesem weiten Gebiet Minderwertiges erstand. Aber laßt uns jubeln, daß wir auch Männer hatten, die die größte Kunst verstanden: Geschichte und Dichtung zu vermählen! [Illustration] Die Stimmungsdichtung. So war der Kampf gekämpft, der Kampf zwischen Träumen und Wachen. Das Tageslicht der hellen Wirklichkeit hatte die Träume verscheucht. Die lieblichen Traumbilder Eichendorffs so gut wie die dem Alpdruck ähnlichen des Teufels-Hoffmann. Man hatte ins ländlich-dörfliche Stillleben hinein gegriffen so gut wie in das wechselvoll bewegte Leben der politischen Kreise; man kritisierte, was nur immer der Kritik Angriffsflächen bot: die Vornehmen des ostelbischen Adels, die Wucherkünste unredlicher Geschäftsleute, den Taumel, in welchen das rote Gold weite Schichten des deutschen Volkes versetzt hatte, aber man griff auch hinein in die streitenden Gedankenwelten, in denen alte und neue Zeit einander gegenüberzustehen schienen, und kritisierte Gedanken, die man nicht für richtig hielt, samt ihren Vertretern. Man ließ die Vergangenheit aufs neue erstehen und mühte sich, mit größerem oder geringerem Glück, mit gröberem oder feinerem Stift, die alten Zeiten des brandenburgischen Ländchens, der Stadt Berlin, des preußischen Volks, -- aber auch die uralten Zeiten ägyptischer Kultur, griechischer Kunst und römischer Machtherrlichkeit so naturgetreu nachzubilden, als man es vermochte. Goethes Geist war in diesen Dichtern allen lebendig geworden. Aber nicht bloß ~Goethes~ Geist bewies die Kraft, Spätere in seinen Bann zu zwingen. Auch jener andere Geist war nicht erstorben, der einst ~Jean Paul~ die fleißige Feder geführt hatte. Goethes Geist -- so sahen wir -- ist der Geist der dichterisch begriffenen und kunstvoll gezeichneten Wirklichkeit. Der Geist Jean Pauls aber läßt sich kurz als der Geist der poetischen ~Stimmung~ bezeichnen. Es fehlt nicht der Gedanke, es fehlt nicht die Wirklichkeit, es fehlt nicht die Kritik. Aber das sind alles keine regierenden Mächte. Das Regiment liegt in der Hand jenes wunderbaren Etwas, das sich jeder Definition entzieht, jenes verklärenden Hauchs, der über den Dingen liegt, manchmal sie leise verschleiernd, immer allzu harte Kanten, allzu scharfe Konturen abmildernd, -- der Stimmung. Selbstverständlich denke ich nicht daran, den Romanen, welche in der nachromantischen Zeit bisher uns beschäftigt haben, die Stimmung abzusprechen. Das sei ferne! Nur für manche derselben würde dies Urteil allenfalls zutreffen, so etwa für Gutzkow, vielleicht auch ein wenig für Freytag. Aber Immermanns Oberhof hat unfraglich seine ganz besondere Stimmung, die patriarchalisch-würdige und doch naturwüchsige Stimmung des alten Bauernhofs. Und wieviel Stimmung liegt in Spielhagens Landschaftsschilderungen, in seiner Erzählung von der hereinbrechenden Sturmflut! Nur eben -- bei ihnen allen ist nicht die Stimmung das Ausschlaggebende, das Hauptsächliche, sondern das nüchterne wirkliche Leben. Nun aber hat auch dieser Geist Jean Pauls, der Geist der herrschenden Stimmung, nicht lange schlafen können. Er hat eine fröhliche Auferstehung gefeiert. Ein Roman, eine Novelle ward dem deutschen Volke geschenkt, die man getrost als ~Stimmungsroman und -Novelle~ bezeichnen darf. Wir danken die Werke dieser Art nicht ~einem~ Meister allein; und, wie nur natürlich, die Novelle zeigt sich hier zahlreicher auf dem Plan als der Roman selbst. Aber auch er fehlt nicht; ~Wilhelm Raabe~ schuf ihn, und ihm stehen zur Seite der Novellist ~Theodor Storm~ und ~Peter Rosegger~. Ein merkwürdiges Buch, diese »~Chronik der Sperlingsgasse~«, die ~Raabe~ als erstes Werk seiner Muse 1857 in die Welt hinaussendete. Merkwürdig aber nicht wegen absonderlicher Ereignisse, die darin eine Rolle spielten. Von nervenaufregenden Schauergeschichten ist Raabe kein Freund. Auch was der Chronist der Sperlingsgasse erzählt, ist darum einfach und schlicht, beinahe alltäglich. Zwei Freunde, ein Student der Philosophie und ein Maler, und ein Kind, ein Mädchen ...... Der Student berichtet ganz knapp, was geschehen, wie er als Greis auf das Vergangene niederblickt: »Ich sehe zwei Männer im Strom des Lebens kämpfen, ein Lächeln von ihr zu gewinnen; und ich sehe endlich den Einen mit keuchender Brust sich ans Ufer ringen und den schönen Preis erfassen, während der Andere weiter getrieben, willenlos und wissenlos auf einer kahlen, skeptischen Sandbank sich wiederfindet. -- Ich sehe mich, einen blöden Grübler, der sich nur durch erborgte und erheuchelte Stacheln zu schützen weiß, bis er endlich, nach langem Umherschweifen in der Welt, hervorgeht aus dem Kampf, ein ernster, sehender Mann, der Freund seines Freundes und dessen jungen Weibes.« Der glückliche Freund und sein junges Weib -- sie beide rafft der Tod dahin. Dem einsamen Philosophen bleibt beider Kind, ein Mädchen; dessen Kindheit und erste Jugend, dessen Heranblühen und Heranreifen bis hin zur glücklichen Ehe bildet den weiteren Inhalt. Und jene ersten, ernst-bitteren Erfahrungen, jenes Ringen und Kämpfen in der Seele des Freundes, der die Heißgeliebte dem Freunde lassen muß, -- das alles ist nicht beschrieben mit den glühenden Farben, die andere Dichter in Sturm und Drang, in psychologischer Analyse oder dramatischem Effekt dem gleichen Bild zu geben wissen würden und ähnlich hundertmal gegeben haben. Es ist ja alles, alles längst vorüber, als Hans Wachholder, alt und grau geworden, alle diese Erinnerungen auf die Blätter der Chronik niederschreibt. Er hat es alles verwunden; und wenngleich das, was er erlebt hat, ihm für Lebenszeit die Art seines Wesens mitbestimmt hat, in ihm wogt doch nichts mehr vom Sturm der Leidenschaft und vom Drang des Leids. Er fühlt es noch, aber er fühlt auch die Freude an dem frischen, jungen Leben, das unter seiner Hut aufgewachsen ist. Und selbst am Jahrestag des großen Schmerzes, da dem Freund die geliebte Gattin gestorben, kann nun zu dem Greis der Humor auf die Schwelle treten, seine Schellen schütteln, seine Pritsche schwingen und sagen: »Lache, lache, Johannes, du bist alt und hast keine Zeit mehr zu verlieren.« Was ist es also, was den Reiz der »Chronik« ausmacht, wenn es nicht die bewegende Schilderung einer bewegten Handlung ist? Ists doch ebensowenig die Weite des Gesichtskreises, der Zeiten und Welten, Völker und Länder umspannte! Nein, nicht in die Breite und Weite geht Raabes Dichten in diesem Buch; Zeitschilderungen sind hier nicht zu finden. Ebensowenig ist er irgendwie der Mann des historisch-getreuen Milieus. Kaum daß die Sperlingsgasse selber zu ihrem Recht kommt. Wenn er uns von ihr doch ein Bild gibt, so geschiehts nicht, um uns auf festen Boden zu stellen, sondern weil sie ihm lieb ist und weil sie seinem Schaffen von Wert ist. Sie liegt in einem älteren Stadtteil mit engen, krummen Gassen, in welche der Sonnenschein nur verstohlen hineinzublicken wagt. »Sie ist bevölkert und lebendig genug, einen mit nervösem Kopfweh Behafteten wahnsinnig zu machen und ihn im Irrenhause enden zu lassen; nun aber ist sie seit vielen Jahren eine unschätzbare Bühne des Weltlebens, wo Krieg und Friede, Elend und Glück, Hunger und Überfluß, alle Antinomieen des Daseins sich widerspiegeln.« Zu diesem Satz nur noch ein paar andere, gleichfalls aus den der Sperlingsgasse gewidmeten wenigen Seiten! Sie zeigen den ganzen Raabe: »Die Dämmerung, die Nacht produzieren hier wundersamere Beleuchtungen durch Lampenlicht und Mondschein, seltsamere Töne als anderswo. Das Klirren und Ächzen der verrosteten Wetterfahnen, das Klappern des Windes mit den Dachziegeln, das Weinen der Kinder, das Miauen der Katzen, das Gekeif der Weiber, wo klingt es passender, man möchte sagen dem Ort angemessener, als hier in diesen engen Gassen, zwischen diesen hohen Häusern, wo jeder Winkel, jede Ecke, jeder Vorsprung den Ton auffängt, bricht und verändert znrückwirft! -- Horch, wie in dem Augenblick, wo ich dieses niederschreibe, drunten in jenem gewölbten Torwege die Drehorgel beginnt; wie sie ihre klagenden, an diesem Ort wahrhaftig melodischen Tonwogen über das dumpfe Murren und Rollen der Arbeit hinwälzt! -- Die Stimme Gottes spricht zwar vernehmlich genug im Rauschen des Windes, im Brausen der Wellen und im Donner; aber nicht vernehmlicher als in diesen unbestimmten Tönen, welche das Getriebe der Menschenwelt hervorbringt!« ~Das~ ist Raabes Art! Die Stimme Gottes im Getriebe der Menschenwelt! Er schreibt in bewegter Zeit. Kein Glück steht so fest, daß es nicht von einem Windhauch oder dem Hauch eines Kindes umgestürzt werden könnte. »In solcher Zeit ständen die Menschen am liebsten mit leeren, müßigen Händen, horchend und wartend; aber das ist nicht das Rechte. Es soll niemand sein Handwerksgerät, die Waffen, mit denen er das Leben bezwingt, in dumpfer Betäubung fallen lassen.« Die Waffen, mit denen man das Leben bezwingt, -- von ihnen reden die Blätter der Chronik. Welche sind's? Die Stimme Gottes hören im Getriebe der Menschenwelt! Das Haupt senken vor der geheimnisvollen Macht, welche die Geschicke lenkt und ein Auge hat für das Kind in der Wiege und die Nation im Todeskampf ..... »Wie so viele Herzen fast brechen wollten, um ein neues Glück aufsprießen zu lassen! Das ist die große, ewige Melodie, welche der Weltgeist greift auf der Harfe des Lebens, und welche die Mutter im Lächeln ihres Kindes, der Denker in den Blättern der Natur und Geschichte wahrnimmt.« ~Nicht~ in die Breite und Weite geht Raabes Art. Aber in die ~Tiefe~. Allerdings auch nicht in die Tiefe psychologischer Feinarbeit und nicht in die Tiefe besonders interessanter Probleme. Aber in die Tiefe des Menschenherzens, des einfachen, schlichten Gemüts. Und in jene Tiefen, in denen man lernt, das Höchste zu verstehen: Menschenschicksal, Menschenleid, Menschenliebe. Zu ~verstehen~ -- sage ich. Das Wort ist für Raabe zu kalt. Zu ~fühlen~, zu ~erfassen~, staunend und andächtig zu durchmessen, -- das trifft besser das, was er will. Eben diese Kunst, Menschenleben aus der Höhe in die Tiefe und aus der Tiefe in die Höhe zu schauen, gibt Raabes »Chronik« ihre eigenartige Stimmung. Weisheit und Gemüt, Reflexion und Gefühl, Ernst und doch auch sprudelnder Humor bilden die Bestandteile dieses wunderbaren Etwas, das über dem Ganzen liegt. Es gibt Menschen, welche für solche Stimmung gar keine Sympathie haben. Vielleicht sind sie in der Mehrzahl. Das 19. Jahrhundert war dieser Spezies nicht günstig. Sie werden an Raabe keine Freude haben. Und sie werden die Fehler auch seiner »Chronik« ihm deutlich vorhalten. Hat Raabe nicht selbst sich später kritisiert: er habe in der Chronik einen Greis Bilder und Gestalten in wallendes Gewölk zeichnen lassen? Ist nicht zu viel Traum in dem Buch? Geht nicht Vergangenheit und Gegenwart, Traum und Wirklichkeit oft so wirr durcheinander, daß die schlichtende Klarheit verloren geht? Ist nicht so viel Reflexion, so viel an Einzelgedanken eingeschoben, daß es manchmal schwer wird, den Faden festzuhalten, der das Alles verbindet? Ist nicht mancher Ausdruck manieriert, mancher Gedanke allzu pointiert? Fehlt nicht die Realistik oft mehr, als selbst dem Idealisten erlaubt ist? Sind die Wege, welche er seine Freunde gehen läßt, bis in der Sperlingsgasse ein neuer Bund geschürzt wird, nicht reichlich absonderlich? So fragen sie, die nach Wirklichkeit hungern. Und -- sie haben nicht Unrecht. Was sie sagen, empfinde auch ich als richtig. Nur eben -- man kann das zugeben und doch nicht unempfänglich sein für jene Höhe und Tiefe der Stimmung und Betrachtung, für jene feinen und zarten Gedankengewebe, die uns in alldem den Dichter weisen, den Dichter der Weisheit und des Gemüts, den Dichter der Stimmung. Habe ich zu lange bei der »Chronik der Sperlingsgasse« verweilt? Vielleicht. Aber ich will auch Raabes andere Romane alle, die großenteils noch den Jahren bis 1870 ihr Dasein danken, hier nicht besprechen. »~Unseres Herrgotts Kanzlei~« (1862) hat schon seine Erwähnung gefunden. Von den übrigen nenne ich nur: »~Die Kinder von Finkenrode~«, »~Die Leute aus dem Walde~«, »~Der Schüdderump~.« Aber eins muß doch noch neben die Chronik gestellt werden, nicht bloß, weil es berühmt geworden ist, sondern weil es Raabes Eigenart noch genauer erkennen läßt. Das ist »~Der Hungerpastor~«, erschienen 1864. Auch hier brauche ich den Gang der Handlung nicht im einzelnen zu entwickeln. Sie kennen ihn alle und haben ihn in frischer Erinnerung. Nur beleuchten möchte ich Ihnen ein wenig diese schöne und gute Gabe des Dichters. Und zwar nach drei Seiten hin. Zuerst hinsichtlich der ~äußeren Handlung~. Sie ist reicher als in der »Chronik«. Und nicht bloß reicher, auch mit vollendeterer Kunst gestaltet. Zwei Lebensschicksale sind neben einander gestellt. Da ist Moses Freudenstein, dessen Vater das Geld hat und der selber den Trieb hat, in der Welt vorwärts zu kommen, Moses Freudenstein, der zu eben diesem Zweck den Namen seiner Geburt in den des Theophile Stein umwandelt und die Religion seiner Väter mit der katholischen Konfession vertauscht. Moses Freudenstein steigt, steigt bis zum Geheimen Hofrat hinauf. Neben ihm aber steht Hans Unwirrsch, der Schuhmacherssohn, dessen Vater kein Geld hat und dessen Sohn eine ganz andere Sehnsucht im Herzen trägt, der es aber dafür auch längst nicht so weit bringt wie der Jugendgenoß, der doch aus derselben Kröppelstraße stammt. Lange geht er seines Weges als armer Kandidat und geplagter Hauslehrer, und zum Ende wird er ein armer Pfarrer in einsamem Dorf. Dieser zweite, Hans Unwirrsch, der Hungerpastor, beherrscht mit seinen Erlebnissen durchaus den Gang des Ganzen; im Grunde genommen ist dies Ganze nicht viel anderes als die Geschichte seiner Erfahrungen bis hin zur Zeit der Reife. Aber die Art, wie in dies Schicksal hinein das des Moses Freudenstein verwebt wird, wie beide einander gegenüberstehen von der Kindheit an bis ins Mannesalter, und zugleich die Kunst der Erzählung dessen, was Hans Unwirrsch erlebt, sie heben den »Hungerpastor« nach Seiten der Handlung hoch über die »Chronik der Sperlingsgasse.« Zum Zweiten. Im Hungerpastor hat Raabe ~Charaktere~ geschaffen. Allerdings Charaktere, welche bestimmte Gesamtanschauungen vertreten. Weltanschauung steht gegen Weltanschauung, ähnlich wie in Heyses »Kinder der Welt.« Aber die Menschen, welche diese Anschauungen tragen, sind nicht auf Draht gezogen wie bei Heyse. Weder Moses Freudenstein noch Hans Unwirrsch. Vor allem der letztere nicht; das ist kein Gestell, an welches die Ansichten, sorglich abgestuft, angehängt werden. Hier ist Entwicklung aus Kindheit und Jugend, ja aus Heimathaus und Elternart heraus, aus dem Haus heraus, in welchem der Vater Schuhmachermeister bei der wassergefüllten Glaskugel, die das Licht der kleinen Öllampe auffängt und glänzender wieder zurückwirft, seinem Handwerk obgelegen hat. Zwei besondere Paten hat ihm der Vater mitgegeben: »Johannes soll er heißen wie der Poet von Nürnberg und Jakob wie der hochgelobte Philosophus von Görlitz, und wie zwei Flügel sollen ihm die beiden Namen sein, daß er damit aufsteige von der Erde zum blauen Himmel und sein Teil Licht nehme.« Der Junge zeigt sich in der Schule nicht besser als jeder andere Schlingel. Auch für ihn kommt die schöne Zeit der schmutzigen Hände, der blutenden Nasen, der zerrissenen Jacken, der zerzausten Haare. Aber es kommt auch die Zeit, da er als wahrheitsuchender Studiosus mit Moses Freudenstein über Gott und Welt und Vaterland disputiert, wo er dann von Moses scheidet, als dieser in die freie weite Welt geht, und schließlich in der Öde und Abgeschiedenheit einer Hauslehrerstellung auch die Wünsche seines Freundes Moses begreifen lernt. Es kommt die Zeit, in welcher die Liebe ihren Einfluß auf sein Herz gewinnt, anfangs mit Irrwegen, dann auf rechtem Weg sein Herz an das bescheidene Fränzchen Götz bindend. Was braucht es weitere Worte? Es ist ein volles, echtes Menschenleben, mit Irrungen und Wirrungen, mit Suchen und Finden, das in Hans Unwirrsch gezeichnet ist. Ja, die Tiefe der Charaktererfassung gemahnt an Gottfried Kellers »Grünen Heinrich« und andere Meisterwerke. Es ist Wirklichkeit, klare Wirklichkeit, wenn schon im Zauber der Poesie, die im »Hungerpastor« das Regiment führt. Auch darin, in der tiefwahren Charakterzeichnung, ist die »Chronik« weit übertroffen. Und dann zum dritten: auch der ~geistige Gehalt~ dieses Buchs ist erheblich tiefer. In der »Chronik« konnte man vielleicht von Betrachtungen über Menschenschicksale reden; die einzelnen Erlebnisse gaben mehr die Gelegenheiten, sie vorzubringen. Ganz anders im »Hungerpastor.« Hier schließen die Erlebnisse und Entwicklungen die großen Gedanken selbst in sich. Hier wachsen sie aus dem Herzen des Hans Unwirrsch und aus dem Verstande des Moses Freudenstein naturnotwendig heraus. Zugleich gewinnen sie dadurch an innerer Bedeutung und überzeugter Kraft. Vom Hunger handelt das Buch, von dem, was er bedeutet, was er will, und was er vermag; von der heiligen Macht des echten, wahren Hungers aber handelt es vor allem. Allerdings, auch ~der~ Hunger kommt darin vor, den Moses Freudenstein empfindet: der Hunger nach Glanz und Lust, nach Ehre und Ruhm, nach Macht und Ansehn. Aber für Raabe ist das der falsche Hunger; er läßt keinen Augenblick darüber im Zweifel, daß Moses sein Mann nicht ist. Ein anderer Hunger ists, von dem der Armenlehrer Silberlöffel redet, ehe er stirbt: »Ich bin sehr hungrig gewesen. Hungrig nach Liebe bin ich gewesen und durstig nach Wissen; alles andere war nichts. Goldene Äpfel hängen lockend im Gezweig und schicken ihre Strahlen durch das Grün. O sie blenden so die Augen, die schönen, glänzenden Früchte. Die Hände habe ich ausgestreckt und habe mich zerrissen an den Dornen; -- viele Tränen habe ich vergießen müssen um den goldenen Glanz im Grün. Im Schatten habe ich gesessen mein ganzes Leben durch, und doch war ich für das Licht geboren. Es ist hart, hart, hart, im Schatten sitzen zu müssen und Hungers zu sterben, während so schöne Augen leuchten in der Welt, während so holdselige Stimmen locken, -- in der Nähe und ach aus so weiter, weiter Ferne. Ich habe auch Hunger gehabt nach der Ferne, aber im Schatten mußte ich bleiben, auf einen kleinen Raum im Schatten war ich gebannt. Ein goldener Regen umspielte mich oft, in Schauern fielen die leuchtenden Früchte nieder um mich und glänzten durch Grün und Blau; mir aber waren die Hände gefesselt, und nichts hatte ich als mein qualvolles Sehnen. Ich habe nichts, nichts erhalten von dem reichen Leben. Nur mein Sehnen ist mir zu teil geworden, und auch das geht nun zu Ende. Dunkel wirds vor den Augen, still vor den Ohren und im Herzen; ich werde satt sein -- im Tode.« Diesem Hunger ähnlich ist der, welchen Hans Unwirrsch von seinem Vater, dem Schuhmachermeister, geerbt hatte. Der Vater hatte Wissensdrang, viel Wissensdrang; er las, so viel er nur irgend konnte. Was er las, verstand er meistens auch; und wenn er aus manchem den Sinn nicht herausfand, welchen der Autor hineingelegt hatte, so fand er einen andern Sinn heraus oder legte ihn hinein, welcher ihm ganz allein gehörte und mit welchem der Autor sehr oft höchst zufrieden sein konnte. Und der Sohn? Auch er ist, wie Moses, ausgezogen nach dem Wissen und dem Glück; in dunkeln armen Hütten waren sie beide geboren und aufgewachsen, und der Glanz, der durch die Spalten und Ritzen der niederen Dächer fiel, hat sie gelockt. Lange hat er gemeint, eines Weges mit dem Freunde zu gehen; dann hat er den Irrtum gemerkt. »Mein Hunger ist nicht gestillt wie der seinige; ach, ich habe so oft nicht gewußt, was ich wollte, und weiß es auch jetzt oft noch nicht. Es ist ein wundersam Ding um des Menschen Seele, und des Menschen Herz kann sehr oft dann am glücklichsten sein, wenn es sich so recht sehnt.« Wie will man diesen Hunger definieren? Er hat viel Unbestimmtes; man darf sich dadurch, daß es ein Kandidat und Pastor ist, der ihn hegt, nicht etwa bestimmen lassen, ihm einen im engeren Sinn religiösen Inhalt zu geben. Im weiteren Sinn religiös ist er gewiß. Es ist die Sehnsucht nach allem Hohen und Guten, nach Wissen und Erkenntnis, aber auch nach Liebe und Treue, die Sehnsucht der Seele nach dem, was sie braucht. So redet Johannes Unwirrsch, der Kandidat, am Christmorgen im Dorfe Grunzenow im Geist zu seinem längst im Grabe ruhenden Vater: »O Vater, Vater, es ist schwer, ein rechter Mensch zu sein und jedem Dinge sein rechtes Maß zu geben; wer aber mit der Sehnsucht danach in der Tiefe geboren wird der wird doch eher dazu kommen als jene, welche zwischen Gipfel und Niederung erwachen, und welchen das Oben wie das Unten gleich unbekannt und gleichgültig bleibt. Aus der Tiefe steigen die Befreier der Menschheit; und wie die Quellen aus der Tiefe kommen, das Land fruchtbar zu machen, so wird der Acker der Menschheit ewig aus der Tiefe erfrischt. O Vater, der Mensch hat doch nichts Besseres als dies schmerzliche Streben nach Oben, ohne dasselbe bleibt er immerdar Erde von Erde genommen, in demselben und durch dasselbe richtet er sich aus aller Leibeigenschaft des Staubes auf, in demselben reicht er, wie wenig es auch sei, was er erlange, allen himmlischen Mächten die Hand, in demselben steht er auf der winzigsten Scholle in dem engsten Kreise als Herrscher des unendlichsten Gebietes da, als Herrscher seiner selbst. Auch der Zweifel ist ja Gewinn in seinem Leben, und der Schmerz ist so edel -- oft edler als das Glück, die Freude.« Auch die Worte Jakob Böhmes, welche Raabe zitiert, sind für den Geist, der das Buch durchweht, für den Hunger, den der Dichter schildern will, charakteristisch: »Denn das ist der Ewigkeit Recht und ewig Bestehen, daß sie nur ~einen~ Willen hat ..... Sie stehet wohl in viel Kraft und Wundern, aber ihr Leben ist nur bloß allein die Liebe, aus welcher Licht und Majestät ausgehet. Alle Kreaturen im Himmel haben Einen Willen, und der ist ins Herze Gottes gerichtet und gehet in Gottes Geist, wohl im Centro der Vielheit, im Wachsen und Blühen; aber Gottes Geist ist das Leben in allen Dingen.« Wie nennen wir die beiden Anschauungen, die da so scharf einander gegenüber stehen? Man kann sie Materialismus und Idealismus nennen. Aber der Idealismus trägt in sich Liebe und Ewigkeit. Wird nun der »Hungerpastor« nicht eben dadurch zum Zeitroman? Ist er nicht das gerade Gegenstück zu dem später geschriebenen Heyseschen »Die Kinder der Welt«? Mag sein, daß man ihn auch dem Zeitroman zurechnen kann. Mehr gehört er doch zum Stimmungsroman. Er bringt nicht Gedanken, nicht Weltanschauungen, und nicht Systeme. Er schildert nicht Zeiten und nicht Menschen besonderer Zeiten. Er will den Hunger der Seele beschreiben, der von jeher in ihr war und der immer in ihr sein wird, er gehört nicht einer Zeit, sondern allen Zeiten. Es schwebt über ihm zu viel poetischer Hauch, zu viel Schimmer der Ewigkeit; und es ist weiter zu wenig nüchternes Nachspüren nach all den Winkelgängen der Zeitgedanken. Darum gehört er trotz alledem nicht zu Freytag und nicht zu Heyses »Kindern der Welt.« -- Stimmung! Wo fänden wir sie außer bei Raabe besser in voller Pracht als bei ~Theodor Storm~? Ein Schleswiger ist Storm; zu Husum erblickte er 1817 das Licht der Welt. Schleswigsche Landschaft spricht in seinen Schöpfungen mit: das Land, die Ebene und nicht zuletzt das Meer, ja das weite, weite, tosende Meer. Novellen haben wir von ihm, aber keine Romane. Warum? Weil in ihm noch viel stärker entwickelt war, was doch auch Raabes Romane von den andern abhebt, jener Drang, der weniger auf Schilderung ausgeht, auf feine Zeichnung eines Weltbilds in künstlerischer Form, als vielmehr auf den Ausdruck dessen, was gerade die Seele bewegt, der lyrischen Stimmung. Ganze Novellen sind nichts als Gedichte, ein wenig ausgeführter und in Prosaform, aber eben Gedichte. Aber auch diese alles beherrschende Stimmung kann recht verschiedene Nuancen haben. Nicht alle, nur einige dieser Nuancen möchte ich aufzuweisen versuchen, jede an einer einzelnen Novelle. Ich wähle zuvörderst »~Immensee~«, seine erste Novelle (1852), das Beispiel reinster Stimmungsdichtung in der Farbe herzinniger Wärme und zugleich sich bescheidender Resignation. Eine Kinderliebe wird geschildert. Reinhard und Elisabeth sind einander zugetan. Wunderbar zart ist diese Liebe beschrieben; es liegt ein Hauch darüber, den man zu zerstören fürchtet, wenn man es nur wagt, mit knappem Wort Einzelnes herauszuheben. Wer »Immensee« gelesen, erinnert sich wohl, wie Reinhard und Elisabeth im Wald Erdbeeren suchen gehen. Wunderbar lieblich, nicht wahr? Wenn Raabe an Jean Paul gemahnte, hier ist etwas vom Geist Eichendorffs zu spüren. Fast kommts zur Verlobung, da die Kinderliebe auch die Reifenden verbindet. Aber dann reicht Elisabeth doch dem anderen Bewerber die Hand. Warum? Mancher Dichter würde hier in die Posaune der Leidenschaften gestoßen haben; das Thema ist so dankbar, daß es sich mancher für große Worte und wuchtige Wirkungen auserkoren hat. Ganz anders Storm. Es ist ja ein Greis, der seine Jugenderinnerungen Revue passieren läßt, ganz wie in der »Chronik der Sperlingsgasse.« Und so verliert die Erzählung nirgends das Abgeklärte, Ruhige und Stille. Vielleicht bleibts in ihr sogar ~zu~ still. Fragen werden nicht beantwortet, die jedem Leser in den Sinn kommen. Warum läßt Reinhard seine Elisabeth über Jahr und Tag ohne Lebenszeichen, ohne Gewißheit? Kurz, sie gibt dem Drängen der Mutter nach; der andere hat Hab und Gut und auch Liebe. Dann aber kommt nach geraumer Frist auch Reinhard in der Vermählten Haus; und nun erst merken beide, wie schwer es ihnen ist, sich nicht zu haben. Das Ende ist Reinhards Scheiden und Verzicht; aber wie tiefe Wehmut klingt über dem Ende das Lied: Meine Mutter hats gewollt, Den Andern ich nehmen sollt; Was ich zuvor besessen, Mein Herz sollt es vergessen, Das hat es nicht gewollt. Meine Mutter klag' ich an. Sie hat nicht wohl getan. Was sonst in Ehren stünde, Nun ist es worden Sünde. Was fang ich an! Für all mein Stolz und Freud Gewonnen hab ich Leid. Ach wär das nicht geschehen. Ach könnt' ich betteln gehen Über die braune Haid'! Nicht überall ist Theodor Storm so rein und so stark lyrischer Dichter wie in dieser und in ähnlichen Novellen. Es gibt andere, in denen schweigt der Dichter nicht, aber er hat nur sorglich geordnet und fein gestaltet, was bitterer Lebensernst ihm vorgeschrieben. Wohl war auch in »Immensee« Ernstes und Trübes, aber es drückt dort nicht; das Leben ist zum Gedichte geworden. Anders z. B. in »~Carsten Curator~.« Das ist die Geschichte eines braven, redlichen Mannes; der hatte als treuer Curator vieler Unmündigen und Unfähigen Geschäfte sicher geführt und war nur einmal in seinem Leben in der Leitung seiner eigenen Geschäfte unsicher geworden, das war damals, als er einen ungleichen Bund mit einem schönen Mädchen schloß, das zum Grundzug des Herzens den Leichtsinn hatte. Juliane hatte ihn in kurzer Ehe in manche Not gebracht; dann starb sie. Aber ein Kind hinterließ sie ihm, das war nach der Mutter geschlagen. Der Sohn wuchs heran und hatte des Vaters ganze Liebe, aber er lohnte sie durch Leichtfertigkeit und Schuldenmachen. Ohne viel Worte kommt zu ergreifendem Ausdruck das Leid, das der Vater um den Sohn trägt, dem er die Hilfe doch niemals versagen mag. Auch die Pflegetochter, sein Liebstes nach dem Sohn, opfert sich und ihre Habe dem Pflegebruder, den sie liebt. Das Unheil läßt sich trotzdem nicht aufhalten; der Leichtsinn führt den Bankrott herbei und endlich, am Tag, da die Schleuse gebrochen ist und die Flut sich durch die Gassen wälzt, bringt ihn Leichtsinn oder Absicht oder beides zusammen in den Tod. Der Vater aber findet mit der verwitweten Pflegetochter eine gemeinschaftliche Heimat für seine letzte schwere Zeit -- dort, wo die letzten kleinen Häuser mit Stroh gedeckt sind. Wir finden auch in dieser Erzählung manche Seite, über der feinster dichterischer Stimmungsreiz liegt. Aber es ist in ihr längst nicht soviel Schilderung, nicht soviel beschauliches Ausruhen, nicht soviel Schwelgen in Empfindung und Gefühl. Wohl grüßt uns traut das alte Haus an der Twiete, das schmale Wohnzimmer mit dem Alkovenbett, in dem Vater und Mutter des Hausherrn zum letzten Schlummer sich niedergelegt, mit der Silhouette von Carstens einfachem, sittenstrengem Vater. Wohl klingt es wie Jugendlust, wenn von dem Birnbaum die Rede ist, der die Freude der Nachbarskinder und zugleich eine Art Familienheiligtum war. Aber solche Stimmungsbilder bleiben vereinzelt; hier redet das Leben selbst eine deutliche, ernste Sprache. Hier sinds nicht die Worte, sondern die Geschehnisse, welche das Herz bewegen. Wohl spielt auch hier die Landschaft ihre Rolle; die Flutgefahr gestaltet die letzte Szene dramatisch bewegt; aber hier ist kein romantisches Träumen in Wald und Feld, am See und auf der Heide: Menschen nur und Taten, welche diese Menschen tun, beherrschen Szene um Szene. Auch hier ist Herzenswärme, innige Liebe, nachwirkende Leidenschaft; aber von alledem wird wenig gesprochen; nur die Taten zeugen davon. Und so sind denn auch diese Taten nach Motiven und Folgen, diese Menschen nach Anlagen und Charakteren schärfer herausgearbeitet als beispielsweise in »Immensee.« Hier haben sich Wirklichkeit und Stimmung vermählt, und keins von beiden hat dabei gelitten. Und nun zudritt und zuletzt eine knappe Skizze von Storms letzter Novelle »Der Schimmelreiter.« War der Grundton von »Immensee« träumerisch, der von »Carsten Curator« realistisch-ernst, so klingt im »Schimmelreiter« noch eine ganz andere Folge von Tönen an; die Novelle neigt nach dem Phantastischen, ja nach dem Schauerlichen hin. Gleich die Worte der Einführung versetzen in diese Stimmung. Er habe, so erzählt er, die berichteten Ereignisse vor reichlich einem halben Jahrhundert im Hause seiner Urgroßmutter in irgend einer alten Zeitschrift gelesen. »Noch fühl' ich es, gleich einem Schauer, wie dabei die linde Hand der über Achtzigjährigen mitunter liebkosend über das Haupthaar ihres Urenkels hinglitt.« Die Geschichte führt an die Nordsee. Auf dem Deich, dicht am Wattenmeer, in später Oktober-Nachmittagsstunde, strebt ein Reiter dem ersehnten Quartier zu. Die gelbgrauen Wellen schlagen unaufhörlich mit Wutgebrüll an den Deich hinauf. Schwarze Wolkenschichten machen es zeitweise pechfinster. »Jetzt aber kam auf dem Deiche etwas gegen mich heran; ich hörte nichts; aber immer deutlicher, wenn der halbe Mond ein karges Licht herabließ, glaubte ich eine dunkle Gestalt zu erkennen, und bald, da sie näher kam, sah ich es, sie saß auf einem Pferde, einem hochbeinigen hageren Schimmel; ein dunkler Mantel flatterte um ihre Schultern, und im Vorbeifliegen sahen mich zwei brennende Augen aus einem bleichen Antlitz an. Wer war das? Was wollte der? -- Und jetzt fiel mir bei, ich hatte keinen Hufschlag, kein Keuchen des Pferdes vernommen; und Roß und Reiter waren doch hart an mir vorbeigefahren!« Nachher im Wirtshaus am Deich, wo des Hochwassers wegen Wacht gehalten wird, hört er die Geschichte des unheimlichen Reiters. Hauke Haien ist es, der Deichgraf. Eines kleinen Mannes Sohn, hatte Hauke es durch zähen Fleiß und durch die Liebe der schönen Elke zum Nachfolger und Schwiegersohn des reichen Deichgrafen gebracht. Ihm stehen große Pläne vor der Seele. Einen neuen Deich will er bauen, ins Wattenland hinein; durch den soll ein neues großes Stück Land vor des Meeres Dräuen gesichert und der Benützung erschlossen werden. Das gewaltige Werk gelingt; der neugewonnene Koog trägt des stolzen Hauke Haien Namen. Aber sieh da! Wo der neue feste Deich an den alten stößt, entsteht eine böse, gefahrdrohende Stelle. Bei wiederkehrender, rasender Sturmflut wollen die Leute den neuen Deich, ~seinen~ Deich durchstechen, um so sicher den alten Damm und das Hinterland zu retten. Hauke verhinderts; aber der alte Deich birst wirklich, und die Fluten brechen herein. Sein Weib kommt zu Wagen ihm, dem Deichgrafen entgegen; die Fluten reißen Weib und Kind, Roß und Wagen dahin. So reitet Hauke selbst auf seinem Schimmel in wahnsinnigem Entschluß in die Fluten hinein. »Noch ein Sporenstich; ein Schrei des Himmels, der Sturm und Wellenbrausen überschrie; dann unten aus dem hinabstürzenden Strom ein dumpfer Schall, ein kurzer Kampf.« Seitdem reitet der tote Hauke Haien auf seinem Schimmel bei jeder hohen Flut; und wohin er reitet, dort bricht der Damm. Es ist nicht möglich, in ein paar Worten alle Hauptzüge der reichbewegten Handlung anzudeuten: jene gespenstische Erscheinung draußen auf der Hallig, ein Pferdegerippe, das doch in dunkler Nacht Leben bekommt. Hängts zusammen mit dem abgetriebenen Schimmel, den Hauke Haien von einem fremden Manne kauft und der dann in seinem Stall ein stattliches Roß wird, -- das Roß, welches ihn nachher in die stürmende Flut trägt? Das Kind, das ihm als das einzige geboren wird und das zeitlebens ein Kind bleiben muß, weil Gott ihm den Verstand versagt hat, ist es die Strafe für die Art, wie Hauke sein totkrankes Weib von Gott erbetet hat: »Ich weiß ja wohl, Du kannst nicht allezeit, wie Du willst, auch Du nicht; Du bist allweise; Du mußt nach Deiner Weisheit tun -- o, Herr, sprich nur durch einen Hauch zu mir!«? So weben die Gewalten der Meereswogen und die abergläubischen Meinungen der Küstenbewohner ein unheimliches Gebilde von Wirklichkeit und Traum. Aber es sind keine sanften, ruhigen Träume, die hier umgehen; hier ist alles groß, alles packend, alles grausenhaft. Die rasch fortschreitende, meisterhaft zusammengefaßte Handlung erhöht den Eindruck: ein Kunstwerk von phantastischer Schöne ist erwachsen, dem doch der realistische Anhauch nicht fehlt; der Dichter selbst gibt kritische Andeutungen, übrigens so fein, daß die Stimmung nicht gestört, nur geklärt wird. Mit diesen drei Skizzen sind nicht entfernt alle Wandlungen der dichterischen Stimmung beschrieben, die in Storms Novellen sich finden. Wie er auch außer »Immensee« skizzenhafte, träumerische Bilder geschaffen hat (z. B. »Psyche«, »Ein stiller Musikant«), so auch solche, in denen das Leben selbst obenan steht (z. B. »Hans und Heinz Kirch«, »Bötjer Basch«); aber in wieder anderen kommt auch ein humoristischer Zug zur Geltung, der (z. B. »Die Söhne des Herrn Senator«) freilich auch wieder von tiefem Ernst begleitet ist; und mehr als eine seiner Novellen greift in die Schatzkammern der Geschichte, um längst vergessene Zeiten zum Reden zu bringen. Überall bleibt Storm im kleinen Rahmen; das einzelne Menschenschicksal beschäftigt ihn; der Zeiten Gewoge berührt ihn nicht. Er ist nicht Politiker und nicht Dogmatiker, er kennt nicht den Trieb, zu agitieren oder zu meistern, abzubilden oder zu kritisieren, -- er dichtet, aber er webt in sein Dichten treu des Menschenherzens echte Art hinein. Raabe und Storm! Sind wir damit am Ende? Jener warme Hauch lyrischer Empfindung, der über ihren Dichtungen liegt, ist allerdings in den Schöpfungen anderer aus dem Ende des 19. Jahrhunderts selten zu finden. Oder, wo er sich zeigt, ist er doch mehr Zugabe als beherrschendes Element. Aber lassen Sie mich noch einen Erzähler Ihnen nennen, bei dem dies eigentümliche Etwas, das wir »Stimmung« nennen, nicht immer, aber jezuweilen so stark wird, daß man ihn dann wohl neben Raabe und Storm stellen kann: ~Peter Rosegger~. Manches, was er geschaffen, kommt in anderem Zusammenhange zur Sprache; man kann ihn ja zugleich unter die Vertreter der Heimatkunst, ja des Naturalismus rechnen; und sogar dem Symbolismus läßt sich sein »Gottsucher« zuzählen. Aber in diesem letztgenannten Buch, dazu in ähnlichen kommt auch Stimmung, lyrische Stimmung zum Durchbruch. Noch stärker geschieht das, und zwar hier in beherrschender Weise, in den von Stifter beeinflußten »~Schriften des Waldschulmeisters~.« Auch hier liegt ein ~Gedanke~ zu Grunde; die Lyrik macht den Erzähler nicht tot. Verlassen hausen die Waldleute in einsamem Tal, im »Winkel.« Nach dem Felstal zu, meinen sie, sei die Welt mit Brettern vernagelt. Nach der Ebene zu kommen sie selten. Stundenweit ist die nächste Kirche; die Waldleute lassen nur die Mädchen dort taufen, die Buben nicht, damit sie nicht erst registriert und später fürs Militär gesucht werden. Was ist ihnen Kirche? Was Schule? Sie kümmern sich um keinen und keiner kümmert sich um sie. Sie sind hergezogen von Aufgang und Niedergang -- wesweg', das weiß der Herrgott. Zumeist sind es wohl Bauersleut' von den vorderen Gegenden herein, die sich in die Wälder geflüchtet haben, um der Wehrpflicht zu entrinnen. Gibt auch Gesellen unter ihnen, denen man in der dunklen Nacht nicht gerne begegnet. Wildschützen sind sie alle ..... Beweibet sind die meisten, aber jeder hat die Seine nicht vom Traualtar geholt. In dies Tal »im Winkel« kommt durch den jungen Waldschulmeister langsam und mühsam Ordnung und Sitte, Kirche und Schule, kurz alles das, was wir »Kultur« nennen. Jahr um Jahr bleibt er dort bei den Waldleuten, Jahr um Jahr freut er sich am Erfolg seines Tuns, Jahr um Jahr trägt er mit den Waldleuten Mühe und Arbeit, Freud und Leid. Aber es kommt die Zeit, wo die Leut' ihn bei Seite schieben, wo er dem neuen jungen Pfarrer nicht mehr genug tun kann, und wo der Dechant, nachdem er die Schule visitiert, ihn beim Fortgehen nicht gesehen hat. »Und seit fünfzig Jahren bin ich nicht mehr aus diesen Wäldern gekommen. Und die Waldleute entstehen, leben und vergehen dahier und steigen in ihrem ganzen Lebenslauf nicht ein einzigmal auf den Berg, wo man die Herrlichkeit kann sehen, und am hellen Wintertag das Meer. Das Meer! Wie wird es da leicht und weit im Herzen! Dort zieht ein Kahn, steht ein Jüngling darin, der winkt ....« So ist er denn am Christtag hinaufgestiegen auf die Spitze des grauen Zahns, hoch über den Gletschern. Und dort oben ist er geblieben. Man findet bei dem Toten nur ein Stück Papier mit den wenigen Worten: »Christtag. Ich habe bei Sonnenuntergang das Meer gesehen und das Augenlicht verloren.« -- Dieser Gang der Erzählung ist klar und deutlich innegehalten. Es ist kein romantisches Träumen, was in dem Buche regiert; die Umrisse des wirklichen Lebens sind überall scharf gezeichnet. Auch hier fehlt realistische, ja naturalistische Derbheit nicht. Auch Gefühlsschwärmerei treibt der Waldschulmeister in seinen Schriften nicht; er erzählt von nichts als vom Leben, vom wirklichen Leben und von der wirklichen Welt. Und dennoch -- welche Stimmung über dem Ganzen! Urwaldfrieden umfängt uns, frische urtümliche Schöpfung umwebt uns. »Wie er einzieht durch die Augen und Ohren und all die Sinne, der liebe, der schöne Wald, so mag ich ihn genießen,« schreibt der Waldschulmeister. Wie läßt er ihn uns mitgenießen! Kaum Schöneres in unserer Literatur als diese Schilderung des Urwaldfriedens: »Urwaldfrieden, du stille, du heilige Zuflucht der Verwaisten, Verlassenen, Verfolgten -- Weltmüden; du einziges Eden, das den Glücklosen noch geblieben!« -- Auch jeder der anderen Abschnitte ist ein prächtiges Kabinettstück urechter Stimmung. Bei den Hirten -- zur lieben Sommerszeit ist es da oben gut sein. »So sind sie denn gut und froh, und ich, -- wahrhaftig und bei meiner Treu, ich bins mit ihnen.« -- Anders bei denen, die buchstäblich von der Erde, von dem Gestein heraus ihr Brot graben. Von den Bäumen schaben sie es herab, aus dem alllebendigen Ameishaufen wühlen sie es empor, -- die Waldteufel. -- Wunderbar ists im Felsentale, wo allein noch die Kiefer kampfesmutig die steilen Lehnen hinanklettern will, um zu wissen, wie es da oben aussieht bei dem Edelweiß, bei den Alpenrosen, bei den Gemsen. Aber die gute Kiefer ist keine Tochter der Alpen, balde faßt sie der Schwindel und sie bückt sich angstvoll zusammen und kriecht mühsam auf den Knien hinan, mit ihren geschlungenen, verkrüppelten Armen immer weiter vorgreifend und rankend, die Zapfenköpfchen neugierig emporreckend, bis sie letztlich in den feuchten Schleier des Nebels kommt und in demselben planlos umherirrt zwischen dem Gestein. Aber es ist nicht bloß ~Natur~stimmung, was hier regiert. Viel mehr als in Stifters Studien, die Rosegger beeinflußt haben, pulsiert hier warmes, lebendiges Leben: die Menschen werden lebendig! Die Hirten wie die Waldleute, die Holzer dazu, der Pecher und der schwarze Mathes und der seltsame Einspanig, der Berthold und die Aga und wie sie alle heißen. Aber keins für sich, keins bloß in seiner Menschheit, jedes als Teil der Waldgemeinde im Winkel, als Kind der Einsamkeit, als Schöpfung des Tals da droben, an das niemand in der Welt denkt. Stimmung regiert -- einheitliche, wunderbar naturwüchsige Stimmung. Nachempfinden kann sie nur, wer sie selber einmal empfunden hat, in einem stillen Alpental, wo die Bäche rauschen, wo der Wald uns umfängt, wo die Berge zum Himmel ragen, wo die Menschen die Art ihrer Heimat tragen .... Sind wir nun mit dieser Stimmungsdichtung wieder in den Bereich der Romantik gekommen? Sind die Raabe und Storm die einfachen Fortsetzer der Linie Novalis -- Eichendorff -- Hoffmann? Keineswegs. Mag man sie als Neuromantiker bezeichnen, -- eben das Neue in dieser Romantik ist doch stark genug, um ein ganz anderes Urteil über diese Erscheinungen zu rechtfertigen als über diejenigen der älteren Romantik. Dies charakteristische Neue liegt in dem realistischen Einschlag, besser noch: in der durchaus realistisch gefaßten Grundlage aller dieser Romane und Novellen. Raabe, Storm, Rosegger und ihre Genossen haben die Dinge dieser wirklichen Welt stimmungsvoll angesehen und stimmungsvoll geschildert. Aber sie haben nie, wie ihre romantischen Vorgänger, die Gesetze dieser Welt außer Geltung gesetzt, nie bloß träumend geschaute himmlische Gefilde beschrieben. Ich deutete schon an, daß selbst der phantastische »Schimmelreiter« die kritischen Ansätze selber bietet. Die übrigen Novellen Storms mögen manchmal die harten Lebenserfahrungen, die schweren Kämpfe, die bitteren Stunden, die Nachtseiten des Lebens ein wenig abgemildert darstellen, -- mit der Wirklichkeit selbst kommt er nie in Streit. Von Raabe gilt das erst recht. Sogar die »Chronik der Sperlingsgasse« gibt überall natürliches Leben. Somit hat auch diese Stimmungsdichtung sich dem beherrschenden Grundzug der Literatur des 19. Jahrhunderts nicht entzogen; auch sie hat der Wirklichkeit ihr volles Recht gegeben. Ja sie wird eben dadurch zum glänzendsten Beweis für den ~überall~ durchdringenden Wirklichkeitssinn. Und darum bezeichnet diese Dichtung keinen Rückschritt, erst recht keinen Rückfall. Vielmehr stellt sie nur eine besondere Art dar, die Wirklichkeit anzuschauen: mit poetischer Kraft, mit sinnendem Bedenken, mit starkem Mitempfinden. Es sind ja nur kleine Miniaturbildchen aus dem großen Weltbild, welche Storms Novellen zeichnen. Raabe gibt größere Bilder; aber auch sie können sich hinsichtlich der Weite und Breite nicht mit den Zeitromanen messen. Indes was diese Dichtung weniger beiträgt zur umfassenden Kenntnis des Weltbereichs, das trägt sie mehr bei zur inneren Durchdringung, zum tiefgreifenden Verständnis desselben. Und so grüße ich auch diese Dichter, die in der Erzählung den Leser über ruhig-nüchterne Betrachtung, über Kampf und Streit hinausheben, die Dichter, die unser Volk auf die Höhe feinsinnigen Verständnisses des Weltgeschehens führen und die den Brunnquell deutschen Gemüts ausschöpfen! [Illustration] Der naturalistische Roman. Naturalismus! Was bedeutet das eigentlich anders als engste Fühlung mit der Natur, mit der Wirklichkeit des Lebens? Und bestand diese Fühlung zwischen dem deutschen Roman und der Wirklichkeit nicht bereits, seitdem die abenteuerlichen Schauerromane und die empfindsamen Moralgeschichten aufgehört hatten, als der Inbegriff des Romans zu gelten? Seit Goethe fest und klar dem Leben, wie es ist, ins Angesicht geschaut? Wahrlich, dieser Wirklichkeitssinn ist dann lebendig geblieben, so wenig die romantische Strömung ihm zuerst entgegenkam. Selbst die Stimmungsdichtung, von der wir im letzten Vortrag gesprochen, fußt auf realen Fundamenten. Und dennoch bleibt ein gewaltiger Unterschied zwischen Wirklichkeitssinn und Naturalismus. Wie verschieden kann man die Wirklichkeit ansehen! Es geht einer dahin über duftende Wiesen, durch grünenden Wald. Frühlingssonne scheint ihm ins Herz hinein. Wie er dem nächsten Hofe sich naht, grüßt ihn der behäbige Bauer, dem die Freude über den Besitz auf der Stirn geschrieben steht, -- lächelt ihn ein herziges Mägdelein an, mit roten Wangen und frischem Blick. Wirklichkeit? Ja, kann das nicht Wirklichkeit sein? Oder es schaut der ernste Mann hinein in den Gang regelmäßiger Arbeit. Er sieht, wie sie schaffen, die Männer des Kontors, -- und er sieht, wie sie in rüstiger Arbeit, in gutem Erfolg, in gemessener, geordneter Erholung ihre Freude haben. Er sieht, wie das wohlgefügte Familienleben die einzelnen Glieder hebt und trägt. Wirklichkeit! Ja, ist das nicht Wirklichkeit? Aber ein anderer sieht das Leben anders an. Er sieht in die Welt -- da begegnet ihm das Elend. Er sieht in das Haus -- da schaut er Risse und Sprünge im Bau der Familie. Er sieht auf die Straßen -- und der Menschheit ganzer Jammer faßt ihn an. Er sieht in die Herzen -- und er findet die Sünde, die Schuld oder, wenn ihm der Name nicht recht ist, -- er findet Furchtbares, Entsetzliches. Wie jener Erste und wie der Andere -- so haben die deutschen Erzähler das Leben längst angesehen, ehe denn das Stichwort »Naturalismus« emporkam. Erst als ihrer etliche lernten, es mit den Augen des Dritten anzusehen, erst da hat man diesen Namen gebraucht. Sie haben es übrigens nicht aus sich gelernt. Oder wenigstens, Mode ward der Naturalismus, die Darstellung der unverschleierten Wirklichkeit auch nach ihrer häßlichen oder gar vorwiegend nach ihrer häßlichen Seite, erst durch ausländische Einflüsse; ich brauche nur zwei Namen zu nennen: Zola und Tolstoi. Allerdings, ~daß~ es so kam, ist im letzten Grund nicht auf willkürliche äußere Einflüsse zurückzuführen. Es ~mußte~ so kommen. Auch das Häßliche gehört nun einmal zur Wirklichkeit. Wenn der Grundsatz: die Wirklichkeit schildern! durchdrang, so war der Naturalismus notwendig geworden. Er hat in diesem Grundsatz sogar seine ~Berechtigung~. Allerdings: auch innerhalb dessen, was »Naturalismus« heißt, kann es wieder sehr verschiedene Stufen geben. Jenachdem man eben das Häßliche, ohne es zu ignorieren, in den Hintergrund schiebt oder es aufdringlich hervortreten läßt oder es gar zum alleinigen Inhalt macht. Schon ~Immermanns~ »Oberhof« hatte naturalistische Partien; Jeremias ~Gotthelf~ ist Naturalist durch und durch, und mehr als einer hat es ihm arg verdacht, daß er für manchen bedenklichen ländlichen Brauch, für manche den verfeinerten Geschmack etwas roh anmutende Einzelheit kein wohltätiges Schleierchen gehabt hat. Aber bei ihm traten ~diese~ Seiten des Lebens nie in den Vordergrund. Er ließ nichts weg, er beschönigte nichts; aber er gab dem Unschönen und Unsittlichen nie mehr Raum, als das Leben ihm gibt. Und -- er erzählte es mit sittlichem Urteil. An Gotthelfs Art läßt sich am besten auch die Schilderung des moderneren Naturalismus aus der zweiten Hälfte, ja dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts anschließen. Denn wie bei ihm, so verbindet sich auch hier der Naturalismus großenteils mit ~Heimatkunst~. Cäsar ~Flaischlen~ erklärte es 1894 für erforderlich, daß »die engere Heimat mit ihrer Stammeseigenart der stete Nährboden bleibe, aus dem sich unser ganzer deutscher Volkscharakter zu immer neuer Kraft, zu immer reicheren Entfaltungen und zu immer vielseitigerer Einheit emporgestalte.« Die so verstandene Heimatkunst ist aber nicht notwendig naturalistisch im fortgeschrittenen Sinn. Sie legt ihrer ganzen Art nach ein großes Gewicht auf den Sondercharakter der Landschaft und des Stammes. Jede Landschaft, jeder Stamm ist ihr um so herzlicher willkommen, je ausgeprägter sein Sonderleben, je weniger abgeschliffen sein Eigengefühl ist. Wenn Theodor ~Storm~ die Küste am Meer, die schwermütige Ebene im deutschen Norden in seine Novellen hineinragen läßt, wenn er den besinnlichen, tiefgründigen Charakter, den das Land dort seinen Bewohnern gibt, immer wieder zur Darstellung bringt, so ist das Heimatkunst. In seinen Novellen kann diese Kunst keine ausgeführteren Bilder schaffen; und Storm, dem poetische Stimmung über alles geht, erzählt von der Heimat nicht alles. Das Häßliche bleibt fern. Aber auch größere Bilder gibt die Heimatkunst, ohne prononciert naturalistisch zu werden, und kleinere Bilder stimmt sie noch schärfer auf Sitte und Brauch. Beides trifft zu bei Heinrich ~Sohnrey~, dessen Zeitschrift »Das Land« diese Kunst mit Liebe verficht. Sein »Die Leute aus der Lindenhütte«, seine kleinen Geschichten »Die hinter den Bergen« lassen das hannoversche Land, dem der Autor entstammt, lebendig werden. In seiner schlicht-einfachen Art, die das Grübelnd-Moderne in der psychologischen Auffassung nicht kennt, scheidet er sich allerdings von den meisten anderen neuzeitlichen Vertretern der Heimatkunst. Von hier aus bis zu denjenigen Erzählern, die ihrer Heimatkunst einen rückhaltlos naturalistischen Einschlag geben, ist nun eben nur ein Schritt. Hier sind zwei Österreicher zu nennen: Peter ~Rosegger~ und Ludwig ~Anzengruber~, beide freilich wieder unter einander verschieden. Wenn ich ~Rosegger~ hier nenne, so denke ich nicht an den Stimmungsdichter der »Schriften des Waldschulmeisters«, auch nicht zuerst an den Problemdichter der größeren Romane -- als solcher wird er uns noch einmal begegnen --, nein, mir stehen dabei jene seiner vielen Schriften vor Augen, in denen die steirische Heimat das einzig Herrschende ist. Sie sind ja nicht alle von gleichem Wert; wie könnte dem vielschreibenden Mann jeder Wurf zu gleicher Vollendung ausreifen? Die kleineren Geschichtensammlungen tragen alle diese Art, aber auch von den größeren verleugnen manche sie nicht: so »Heidepeters Gabriel«, so auch »Jakob der Letzte« und das historische »Peter Mayr, der Wirt an der Mahr.« Zwei Haupteigenschaften charakterisieren diese naturalistische Heimatkunst Roseggers: einmal die liebenswürdige Frische, sodann die natürliche Derbheit der Erzählung. Die liebenswürdige Frische nimmt unwillkürlich gefangen; selbst den schwächeren Geschichten gibt sie einen eigentümlichen Reiz. Die Naturfarbe wirkt mit der herzgewinnenden Offenheit, das sich offenbarende warme, gemütstiefe Empfinden mit kräftig gesundem Urteil zusammen, um den Leser immer aufs neue zu erfreuen. Die Derbheit aber, welche sich mit der Liebenswürdigkeit paart, wirkt bei Rosegger rein ländlich-natürlich. Es ist eine ähnliche Derbheit, wie sie auch bei Fritz ~Reuter~ manchmal durchbricht, die Derbheit des Naturkindes. Sie wird nirgends roh, aber auch nirgends raffiniert und sie geht niemals ins Einzelne. Sie sucht nicht sonst Verschleiertes, sondern sie erzählt offen, was bei dem einfachen Volk der Berge, das keine Prüderie kennt, offen besprochen zu werden pflegt. Wir haben hier die Verbindung von Heimatkunst und natürlichem Naturalismus. Anders schon zeigt sich die Verbindung von Heimatkunst und Naturalismus bei ~Ludwig Anzengruber~. Der hat sich selber als »Realistiker« gezeichnet, als er den zweiten Band seiner »Dorfgänge« einleitete. Nur ein paar Sätze aus dieser Schilderung können hier wiedergegeben werden. »Ein solcher« (Schriftsteller), so schreibt er, »glaubt der Wirkung seines Stoffs im vornhinein sicher zu sein, wenn er alle seine Gestaltungskraft an das Kleine und Kleinliche aufwendet, und er will es dabei eingedenk bleiben, daß selbst die schmutzige Scholle ein Stück der Allernährerin Erde sei ....... Er erspart uns keinen Schrei wehen Jammers, er erspart uns kein Jauchzen wilder Lust. Er stößt das Elend, das um Mitleid bettelt, nicht von der Ecke, er jagt den Trunkenbold, der alle belästigt, nicht von der Straße, alles, was er bei solchen unangenehmen Begegnungen für euch tut, ist, sie abzukürzen, nachdem ihr aber doch den Eindruck einmal weghabt. Tugend und Laster, Kraft und Schwäche führen bei ihm ihre Sache in ihrer eigenen Weise. Er will das Leben in die Bücher bringen, nachdem man es lange genug nach Büchern lebte ....« Diese wenigen Worte geben natürlich nicht den ganzen Anzengruber. Gleich ihre Fortsetzung proklamiert den Realistiker als den »Priester eines Kultus, der nur eine Göttin hat, die Wahrheit,« aber sie spricht ihm auch das Recht der Stimmung und der Deutung zu: »Er bringt die Sterbenden aus dem Gelärm des Tages und bettet sie in heiliger Stille, er flüstert vertraut mit ihnen über alte Erinnerungen, damit sie dem Sonnenlichte nicht fluchen, zu dem sie einst erwachten, und er deutet ihnen leise all diese Schauer und Krämpfe als die letzten Anrechte allen und jeden Schmerzes an sie, damit sie die Nacht nicht fürchten, in welche sie jetzt eingehen sollen, langsam, mählich, wie die Pulse verrollen, der Atem stockt, das Herz stille steht ....« Aber es ist besser, wir machen uns seine naturalistische Heimatkunst praktisch klar, indem wir eins seiner Werke genauer ansehen. Wählen wir nicht die »Dorfgänge«, aber noch weniger die minder charakteristischen Kleinigkeiten wie »Gefabeltes von irgendwo und nirgendwo«, sondern sein erzählendes Hauptwerk, das neben den Dramen ihn am deutlichsten charakterisiert, die Dorfgeschichte mit dem Titel »~Der Sternsteinhof~.« Es ist die Geschichte eines weiblichen Charakters. Rechtschaffen sauber ist die Zinzhofer Helen', aber arm, ganz arm. Da hat der häßliche Kleebinder Muckerl an ihr Gefallen gefunden, und vom Ertrag seiner Herrgottsschnitzerei hat er ihr schöne Geschenke gemacht. Sie hälts mit ihm, aber ihre Pläne gehen höher hinaus. Sie weiß die Aufmerksamkeit des jungen Bauern vom großen Sternsteinhof zu erwecken und durch geschickte Zurückhaltung ihm ein schriftliches Eheversprechen abzugewinnen. Bis dann doch die Stunde kommt, da des reichen Anbeters Zudringlichkeit ihre Zurückhaltung besiegt. Nun hat sie verspielt; der junge Bauer will sie wohl heiraten, aber der Alte gibts nicht zu, und sie muß froh sein, daß Muckerl, der Gute, durch eilige Ehe ihr die Schande erspart. Auch der junge Bauer heiratet -- ein reiches Mädchen, das von der Geburt des ersten Kindes an schwer kränkelt. Er träufelt nun Gift in Helenes Herz: sie wollen noch einmal zusammen gehören, und wenns ein Verbrechen koste. Kein Verbrechen braucht es dazu; dem Muckerl, der nie stark gewesen, gibt die Entdeckung, daß sein Weib ihn hintergehe, den Rest; und die Bäuerin stirbt auch. Helen' erreicht ihr Ziel: sie wird die Herrin vom Sternsteinhof. Freilich nicht lange an ihres Bauern Seite; der bleibt im Feldzug. Nun lebt sie ganz für ihre Kinder. Die Geschichte eines Charakters: denn das ist ihre größte Kraft, daß sie alle Wandlungen im Wesen der schönen Helen' mit psychologischem Tiefblick darlegt. Wie sie gern davon hört, daß sie die allersäuberste wär' im ganzen Landviertel! Wie sie nimmt, was der schieche Muckerl ihr schenkt, ohne daß doch ihr Herz etwas von Dank wüßte! Wie sie die Netze auswirft nach dem reichen Bauernsohn! Wie sie lavieren kann, ums mit keinem zu verderben! Und nachher, welche ergreifenden Seelenbilder: der Fußfall der Entehrten vor dem alten Sternsteinhofbauern, bei dem sie sich tief demütigt und doch stolz bleibt, -- der dankbare Jubel, wie Muckerl ihr auch jetzt noch die Hand zur Ehe reicht: »da schwingt sie sich flink über das niedere Gatter, das sie trennt, und nun hing sie an seinem Halse und preßte die dürstenden Lippen auf die seinen und er taumelte unter ihrer Last, wie trunken von ihren Liebkosungen.« Dann die Beichte vor der Trauung mit der Angst, die Absolution nicht zu erhalten, mit dem Nachklang in ihrem Herzen: »Das war gestern eine Beicht' gewesen! Ei wohl, eine schwere, harte Beicht'. Gott sei Dank, daß es überstanden war!« Und weiter jene nächtliche Szene, in welcher die Versuchung, welche das Wort des Sternsteinhofbauern in die Seele gestreut, in ihr Leben gewinnt: »Ewig lebt keiner, doch überlang mancher. Was g'schah' dann? Das find't sich! .... und dann flüsterte, wisperte und raunte es ihr zu: Tu's -- tu's -- tu's -- es find't sich -- es find't sich!« Es ließen sich diesen Bildern leicht noch andere anfügen: Helene und ihre Mutter, die alte goldgierige, vorschubleistende Zinzhoferin; Helene und der alte Sternsteinhofbauer, der ihr gram bleibt, bis sie nach dem Tod des jungen Bauern auch ihm wieder gute Tage gibt. Ein hartes Herz ists, dessen Geschichte beschrieben wird. Schönheit bringt Gefahr! Nur hoch hinaus! Was tut ihr die Liebe des Häßlichen? Was nachher die unendliche Treue des Großmütigen? Ihr gilts nur ihr Ziel. Und schließlich hat sie doch als die reiche Bäuerin die hohe Achtung der ganzen Gegend. Die anderen, denen sie grauses Herzeleid angetan, bedauert niemand. »Anders aber, wenn Helene stirbt, nicht nur ihrem eigenen Kinde wird das Herz schwer werden, auch das fremde wird ihr heiße Tränen nachweinen, die Armen in der Umgegend und alle Jene, die gewohnt waren, freundnachbarlich sich Rat und Tat zu erbitten, wird der Tag bedrücken, an welchem der Tod die Bäuerin hinwegholt vom Sternsteinhofe.« Noch manches andere steht im »Sternsteinhof«, was Erwähnung verdiente. Wie meisterhaft diese Unterredung, in welcher der alte Pfarrer den jungen Kaplan die Herzen seiner Leute kennen lehrt! Man kann hier und da die Empfindung haben, aufs Niveau der einfachen Dorfgeschichte herabzusinken; aber die unerbittliche Klarheit der Seelenanalyse zeigt immer wieder, daß die Geschichte über demselben steht. Der Naturalismus ist hier scharfsinnig geworden; er ist nicht mehr bloß natürlich-naiv. Unangenehme Szenen kürzt Anzengruber wirklich ab; er wird nie pikant, dazu ist er viel zu ernst. Aber er erspart auch nichts, vor allem kein Weh' und keine Sünde. Auf ~ländlichem~ Gebiet haben Anzengrubers Gestalten ihren Heimatboden. Er gibt selber den Grund dafür an -- in einer Nachbemerkung zum Sternsteinhof --: »weil der eingeschränkte Wirkungskreis des ländlichen Lebens die Charaktere weniger in ihrer Natürlichkeit und Ursprünglichkeit beeinflußt, die Leidenschaften, rückhaltlos sich äußernd, verständlicher bleiben ....« Andere haben doch die hiernach noch schwerere Aufgabe gewagt, auch in einen Mechanismus hineinzusehen, »den ein doppeltes Gehäuse umschließt und Verschnörkelungen und ein krauses Zifferblatt umgeben.« Sie führen ins Leben der ~Stadt~ und in die Herzen der Gebildeten. Heimatkunst üben sie darum auch. Aber ist es nicht so, daß der Städter, daß der Gebildete minder fest an der heimatlichen Scholle hängt, vor allem minder nachhaltig durch sie bestimmt wird als der Landmann, der mit ihr in steter, enger Verbindung bleibt? Man mag getrost auch hier von Heimatkunst sprechen; aber der Begriff verliert, wo Berliner Straßen und Schornsteine in Frage kommen, sein Anheimelndes. Um so deutlicher tritt der Begriff Naturalismus in sein Recht. Nur natürlich: hier kann nicht mehr von naiver Offenheit die Rede sein, hier handelt es sich einfach um grundsätzliche Darlegung nackter Wirklichkeit. Berlin ist es, das den Untergrund hergibt für die Romane ~Max Kretzers~, der unfraglich von Emil Zola gelernt hat, wenngleich er ihn nicht erreicht hat, auch wohl im Grad der Entschleierung des Häßlichen ihn nicht hat erreichen ~wollen~. Nicht überall ist ihm ein treues Konterfei der Berliner Wirklichkeit gelungen; vieles in dem Roman »~Die Bergpredigt~« muß man als tendenziös entstellt schlechthin ablehnen. Damit hat Kretzer sich eben auf ein Gebiet gewagt, auf welchem objektive, naturgetreue Zeichnung außerordentlich schwer ist, -- auf das kirchliche Gebiet. Die persönliche Stellung, persönliche Antipathien insbesondere, sprechen hier auch bei dem Apostel der Wirklichkeit so stark mit, daß der naturalistische Roman nicht ganz wenige Züge vom Tendenzroman erhalten hat. Anders im »~Meister Timpe~«. Damit hat Kretzer einen ganz aktuell-modernen, nämlich einen sozialen Roman geschaffen. In der Werkstatt in einer der engen Straßen in Berlin O. regiert Meister Timpe, ein ehrsamer Drechsler, über zahlreiche Gesellen und Lehrlinge. Wenn Handwerk für ihn auch nicht gerade goldenen Boden hat, so hat es ihm doch zu gewissem Wohlstand verholfen. Der Meister hat redlich dazu das Seine getan; Geschicklichkeit und Findigkeit in der Anfertigung neuer Modelle haben ihn unterstützt. Aber nun erhebt sich plötzlich dicht neben seinem Grundstück eine neue Fabrik derselben Branche, gebaut von Ferdinand Friedrich Urban, dem skrupellosen, gewandten Geschäftsmann. Es ist ein harter Kampf zwischen Werkstätte und Fabrik, der nun beginnt. Mit zäher Energie kämpft Meister Timpe um seine Existenz. Aber die Gegner sind ungleich. Die große Fabrik kann billiger liefern, weil Einkauf und Verkauf im Großen geschieht; jede Konjunktur kann Urban geschäftskundig ausnützen; die Modelle des Handwerksmeisters beutet er skrupellos aus. Meister Timpe muß Kunden um Kunden sich abwenden sehen, muß Gesellen um Gesellen entlassen. Sein Erspartes geht drauf; er arbeitet schließlich allein, Stuhlbeine drechselnd, Woche um Woche. Er, der alle sozialdemokratische Wühlerei stets mit überlegener Gewißheit von sich gewiesen, gibt nun selbst einen sozialdemokratischen Wahlzettel ab und predigt in einer Streikversammlung Aufruhr: »Die Schornsteine müssen gestürzt werden, denn sie verpesten die Luft .... ~Schleift die Fabriken~ .... ~zerbrecht die Maschinen~!!« Auch sein Haus soll ihm genommen werden, er selbst soll wegen dieser Hetzrede gerichtlich belangt werden. Er aber verbarrikadiert sich im Haus und man findet ihn tot. Fabrik und Handwerk, neue und alte Produktionsweise -- das ist der eine Gegensatz, welcher machtvoll dies Buch beherrscht. Mit diesem Gegensatz aber ist in vollendeter Wirkung ein anderer verbunden -- der Gegensatz dreier Generationen. Des Meisters Vater ragt in die neue Zeit hinein wie eine Ruine aus der guten alten Zeit: »Ja, ja, das waren noch andere Zeiten .... damals! Das Handwerk hatte einen goldenen Boden ...« Aber auch sonst vertritt er die alte Zeit, -- die Zeit, da noch niemand hoch hinaus wollte, auch die Väter mit ihren Kindern nicht, -- die Zeit, da die Eltern ihren Kindern die Zuchtrute gaben, um sie zu ordentlichen Menschen zu erziehen .... Die zweite Generation hat ihren Repräsentanten in Meister Timpe selbst. Er für seine Person, für sein Haus gehört ganz zur alten Art, -- schlicht, einfach, solide, gediegen, wie er ist. Sein einziger Luxus -- eine Weiße in der weitbekannten Kneipe von Vater Jamrath. Aber für seinen Sohn will er hoch hinaus; der Franz muß Kaufmann werden und nicht Handwerker. Wenn er nur in die feinen Kreise kommt -- dann läßt der Vater ihm in unverzeihlicher Schwäche alles durchgehen, alles. -- Die dritte Generation: -- der Sohn Franz. Er kommt vorwärts, er wird des reichen Fabrikbesitzers Schwiegersohn und Teilhaber. Aber Vater und Mutter verrät und verläßt er um dieser neuen Größe willen; kommt des Meisters geschäftlicher Rückgang auf Rechnung Urbans, so kommt all sein Herzeleid auf Rechnung des ungeratenen Sohnes. Drei Generationen! Die Gegenüberstellung wirkt mit wuchtiger Gewalt! In diesen Gegensätzen liegt die Kraft des Romans. Die brillant gezeichneten Einzelbilder heben ihn noch: der Streit zwischen Meister und Geselle um die Sozialdemokratie, die Debatte am Stammtisch über die neue Entwicklung, die sozialdemokratische Versammlung. Der Roman wird zum Zeitroman, aber in der derben Ungeschminktheit seiner Darstellung zum naturalistischen Zeitroman. Vielleicht wirkt noch nicht alles natürlich, z. B. nicht das rasche Aufsteigen des hoffnungsvollen Franz, die gar zu skrupellose, ja gewissenlose und verbrecherische Handlungsweise des ungeratenen Sohns. Vielleicht fehlt ein Vertreter eines anderen Fabrikantentums, das +in puncto+ Gewissenhaftigkeit und Rechtlichkeit dem alten Handwerksmeister nichts nachgibt. Vielleicht steckt eben doch auch in diesem Roman noch ein Stück Tendenz. Aber jedenfalls ist andrerseits der Naturalismus nicht übertrieben. Kretzer ist nur ausnahmsweis ein Detail-Naturalist, alles Sinnliche bleibt diesem Roman völlig fern. Berliner soziales Leben ist mit wesentlich naturwahrer Treue geschildert, und zwar in so abgerundeter Handlung und derart zugkräftiger Entwicklung, daß die Form der Darstellung den Inhalt aufs beste zur Geltung bringt. Kräftiger noch sind die Farben aufgetragen in dem anderen Kretzerschen Roman »Das Gesicht Christi.« Derselbe hat zum naturalistischen Grundcharakter einen symbolistischen Einschlag. Davon noch später. Er hat außerdem einen Beigeschmack des Pikanten, was dem »Meister Timpe« völlig fehlt. Wenigstens die Verführungsszene zwischen Fabrikant und Fabrikmädchen ist nicht rein naturalistisch; sie ist zugleich sinnlich raffiniert. Die eigentliche Schilderung aber greift hier noch tiefer ins Häßliche hinein; sie beschäftigt sich mit den untersten Volksschichten, sie malt das Elend einer unglücklichen Arbeiterfamilie, sie schildert die Schande im Gefolge dieses Elends so deutlich, daß der Roman nicht bloß ein Beispiel wird für die rücksichtsloseste Wirklichkeitszeichnung, sondern auch für die erschreckende, zarter besaitete Gemüter abstoßende Wirkung derselben. Welche Szene, die Arbeiterwohnung im Berliner Hinterhaus mit dem Hunger als Gast, mit dem Tod vor der Tür! Welche Tragik: der Arbeiter mit den hungernden Kindern die Stadt durchirrend, die große, tosende Stadt, in der des Einzelnen Elend verschwindet! Und dann seine Heimkehr in die öde Stube, in die der Tod inzwischen seinen Einzug gehalten hat! Mit wuchtiger Plastik ist auch das Bild aus dem Kneipenleben gezeichnet: die trinkenden, schimpfenden, streitenden Proletarier, der junge Arbeiter und sein Mädchen, der Halbverhungerte, der gierig die Speise verzehrt, die rohen Lieder, der giftige Spott, -- die Heilssoldatin mitten drin in all dem Toben! »Meister Timpe« blieb immer beim Mittelstand; wenige Streiflichter nur ließ er auf die brodelnde Tiefe fallen. »Das Gesicht Christi« führt ganz in die Tiefen, zum Teil in die tiefsten Tiefen der Sünde und des Elends. Es nimmt die Wirklichkeit da, wo sie am schrecklichsten ist; es zeigt die »Natur«, wie sie zur Bestie wird. Hier ist nichts mehr schön, aber wahr ist alles. Auf das »Gesicht Christi« komme ich seines symbolistischen Einschlags wegen später noch einmal zu sprechen. Für jetzt möchte ich noch mit einigen Worten bei einem anderen gemäßigt naturalistischen Schriftsteller verweilen, der wieder ein anderes Milieu zur Darstellung gebracht hat, bei ~Wilhelm von Polenz~. Auch er wählt ländliche Verhältnisse für die Darstellung, aber völlig andere als Rosegger und Anzengruber, -- die ländlichen Verhältnisse Ostelbiens. Seine Romane »~Der Büttnerbauer~« und »~Der Grabenhäger~« erreichen in Schilderung dieser Menschen und Gegenden einen hohen Grad von Anschaulichkeit. Er beschränkt sich übrigens nicht auf die untersten Stufen der menschlichen Gesellschaft; er versucht gerade auch die gebildeten Kreise zu Gegenständen seiner Zeichnung zu machen. Am ausschließlichsten geschieht das in dem »~Pfarrer von Breitendorf~.« Aber -- und darum gehe ich hier auf dies Buch genauer ein -- es ist entschieden schwerer, gebildete Schichten naturalistisch abzukonterfeien als einfache Bauern oder Taglöhner oder Fabrikarbeiter. Hier zeigt sich, wie sehr Anzengruber mit Betonung dieser größeren Schwierigkeit Recht hatte. Kommt beim Bauern viel auf Sitte und Brauch an, noch mehr auf alteingewurzelte, einfache Grundanschauungen, reduzieren sich die ländlichen Konflikte schließlich immer wieder auf die großen Fragen von Mein und Dein, von Liebe und Eifersucht, -- so ist der psychologische Apparat bei den gebildeten Klassen erheblich komplizierter. Die geistigen Fragen, die Unterschiede des Standes und Berufs, die Weltanschauung, -- das und noch tausend andere Dinge soll der Dichter berücksichtigen. Der »Pfarrer von Breitendorf« aber behandelt nun gar einen Stand, der sicherlich mit am schwersten getreu darzustellen ist, den Pastorenstand. Wie verschieden sind die Einzelglieder dieses Sammelbegriffs! Wie verschieden schon ihre äußere Umgebung! Vor allem aber, wie schwer ists für den Außenstehenden, gerade hier vorurteilslos naturgetreu zu bleiben! Der Geistliche ist ja den meisten derart verschmolzen mit der religiösen Anschauung, welche er vertritt, mit dem kirchlichen Amt, welches er führt, daß ihr Urteil über seine Person unmittelbar abhängig wird von ihrer Stellung zu der Sache, die er darstellt. Wer zur Religion kein inneres Verhältnis hat, wer mit dem Wort Kirche den Begriff unheimlichen Finsterlingtums verbindet, dem ist oft genug der Pastor das, was dem Stier das rote Tuch ist. Reichliche Beispiele hierfür geben Spielhagens Romane. Wilhelm von Polenz hat im »Pfarrer von Breitendorf« gleichfalls stark unter dieser Schwierigkeit gelitten. Er hat manchen guten Anlauf zur wahren Schilderung genommen, einzelne Typen sind ausgezeichnet getroffen. Aber um so verzerrter sind die anderen. Ein greiser Pastor findet in hohem Grad des Helden Gerland Beifall. Er hat nichts Geistreiches an sich, seine Ansichten tragen den Stempel des Altmodischen, er gesteht seine Unbekanntschaft mit allgemein bekannten theologischen Fragen. Aber er spricht herzlich und schlicht, er empfindet echte und tiefe Begeisterung für seinen Beruf; er faßt sein Amt in Wahrheit als das eines Seelenhirten auf; Glauben und Pflicht decken sich bei ihm in schönster Weise. »Er hatte keinen Kompromiß zwischen Überzeugung und Lebensklugheit nötig.« Er handelt auch im weiteren Verlauf der Erzählung ganz nach dieser seiner Art: in herzlicher, schlichter, liebevoller Einfachheit. -- Die anderen Typen erfreuen sich nicht des gleichen Beifalls des Helden und des Autors. Auch nicht desjenigen des Lesers. Als einmal viele Pastoren beisammen sind, heißt es: »Da war auch nicht ein vergeistigtes Antlitz, nicht ein Auge, aus dem Begeisterung geblitzt hätte.« Die ganze Reihe hier vorzuführen, unterlasse ich, um nur einige Bemerkungen noch anzufügen. Da ist der Diakonus Fröschel, ein unansehnlicher, blasser Mensch, der eine Brille trägt und sich linkisch verbeugt. »Es lag etwas frühreifes, vorzeitig gealtertes in diesem runden kleinen Gesicht, das die kurzen, unausgeprägten Formen eines Kinderkopfes trug.« Natürlich hat er, als er zum Mittagessen eingeladener Maßen erscheint, einen abgetragenen Rock an, kurze Beinkleider und plumpe Stiefeln. Dieser selbe Fröschel ist innerlich völlig mit seinem Berufe zerfallen; er »zersetzt sich in seiner eigenen Schärfe.« Seine Anschauungen scheiden ihn völlig von seinem Amt, denn sie scheiden ihn von jedem Christentum. Trotzdem wagt er nicht, den Beruf aufzugeben, -- aus Angst vor seiner ihn völlig beherrschenden Mutter. Lieber gibt er sich schließlich selber den Tod. Da ist endlich Pastor Gerland selber, mit einer gewissen Begeisterung geschildert, ein Mensch, von dem wenigstens angedeutet wird, daß er es ernst nimmt mit seinem Beruf; viel Tatsächliches erfahren wir nicht darüber. Er liebt die noch ungetaufte Tochter des atheistischen +Dr.+ Haußmann, gewinnt mit Mühe und viel Selbstverleugnung das Vertrauen dieses Mannes, gewinnt auch das Herz der Tochter. Sie läßt sich taufen; aber Gerland quittiert doch sein Amt, -- auch ihm sagt es auf die Dauer nicht zu. Diese beiden eben kurz umschriebenen Gestalten sind beide sehr wenig wahrscheinlich. Die Begeisterung Gerlands schlägt ohne irgend genügende Motivierung in das Gegenteil um; und Fröschel mit der unglaublichen Angst vor der Mutter ist eine Karikatur, eine einfache Karikatur. Wer aber selbst diese Typen ernst nehmen wollte, müßte mindestens zugeben, daß die gesamten Typen einseitig ausgewählt sind; eine ganze Reihe von anderen fehlt. Dazu kommt, daß dem Dichter auf diesem Gebiet denn doch allzusehr die Details der geistigen Bewegungen gefehlt haben, als daß er hätte naturgetreu zeichnen können. Das Buch will ja naturalistisch sein und ich habe es eben um dieses Anspruchs willen hier eingereiht. Aber es hat -- in seiner Art -- verzweifelte Ähnlichkeit etwa mit dem militärisch-naturalistischen Tendenzroman »Sedan oder Jena?« von Beyerlein. Gewiß, es ist schwer, ~dies~ Gebiet objektiv zu schildern. Sogar den Lesern wird es schwer, nicht ihrerseits Stellung zu nehmen. In dem Exemplar einer Leihbibliothek standen bei einem ziemlich absprechend urteilenden Satz zwei sehr verschiedene Randbemerkungen. Ein Leser hatte geschrieben: »Frech und unwahr!«, der andere: »Leider zu wahr!« Es ist eben nicht leicht, Naturalist zu sein. Über Kretzer und über Schriftsteller wie Polenz hinaus haben andere den Naturalismus noch naturwahrer wollen arbeiten lassen. ~Zola~ arbeitete sozusagen mit dem Bienenfleiße des Sammlers, der alles und jedes Material, was zum Verständnis dienen kann, zusammenträgt. ~Kretzer~ schildert mit gröberen Strichen, aber auch er schildert vor allem Verhältnisse, Zeiten, -- nur in den Zeiten und Verhältnissen zeichnet er die Menschen. Mit alledem ist die naturgetreue Zeichnung doch noch nicht auf dem Gipfel. Reden denn die Menschen bei ~Zola~ so, wie sie im gewöhnlichen Leben reden? Sprechen sie nicht noch immer, als ob sie sich ihre Sätze ausgearbeitet, ausgefeilt und auswendig gelernt hätten? Sie diskutieren, als ob sie zur Debatte zusammengekommen wären und als ob der Präsident der Kammer ihnen nacheinander das Wort erteilte. Bei ~Kretzer~ sind sie darin zurückhaltender, maßvoller, natürlicher. Aber das muß zugegeben werden: ~ganz~ natürlich sind im Reden auch ~Kretzers~ Menschen noch nicht. Also -- und damit setzt der konsequenteste Naturalismus ein -- gilt es, zu beobachten, wie die Menschen sich geben, wie sie sprechen, -- bis ins Kleinste hinein. Jeder augenblickliche Eindruck muß wiedergegeben werden. Das Psychologische muß schärfer betont werden. Aber nicht etwa bloß die großzügige psychologische Motivierung, sondern alle die kleinen psychischen Wandlungen und Schwankungen, Einfälle und Zufälle, Reizungen und Wallungen. Man sucht sich nun irgend einen interessanten Moment heraus, einen Moment mit wechselnden seelischen Eindrücken, und kinematophotographiert gewissermaßen die Seele in den Augenblicken, wo diese Eindrücke wirksam werden. Damit geht dann Hand in Hand die Umgestaltung der Sprechweise. Phonographisch getreu wird jedes Wort, jede Interjektion, jeder halbe Laut wiedergegeben. ~Arno Holz~ und ~Johannes Schlaf~ haben diesen Naturalismus eingeführt; die Novellen »Papa Hamlet« (1889 erschienen) sind die erste Probe desselben. Nicht aus ihnen, aber aus später erschienenen Novellen von Johannes ~Schlaf~, dem Stück, welches »Leonore« betitelt ist (erschienen 1899), entnehme ich zwei kleine Proben, die das Gesagte veranschaulichen werden. Zunächst ein Beispiel für die Art der Schilderung psychologischer Vorgänge. Günther kommt in die Wohnung der einst heiß Geliebten, die aber ein anderer heimgeführt hat, -- ein anderer, der nun längst gestorben ist. Er wartet nun auf ihr Erscheinen. »Er kann sich dehnen ... Sieht sich um .... Als wär' er zu Haus .... Nur ... he! -- Wie? -- Wie denn? -- Und nun quält er sich, sich in eine jener Erinnerungen hineinzuringen, eine Erinnerung an eine jener so unsagbar beseligten Stunden und sucht sie mit einer krampfhaften Energieanstrengnng an die Gegenwart zu fügen. Aber diese Müdigkeit in ihm. -- Diese verdammte Taubheit! -- Eine Aussprache! Gewiß! Das fühlt er! -- Eine Aussprache. -- Nun, nun! -- Jaja, irgend etwas muß er jetzt reden ... Irgend was ... Reden, reden, reden! -- Und dann -- gewiß! -- wird alles ins rechte Gleis kommen. --« Und dann eine zweite Probe, welche die Art zeigt, in welcher bei Schlaf die Menschen sprechen: »Ihr Blick verfolgt den Zeigefinger, der zögernd über den Plüsch hinstreicht. Es scheint, als wolle sie etwas sagen, aber sie schweigt.« »Hm! -- Wie viel Jahre -- sind -- es ...« Er weint in sich vor Ohnmacht. »Fünf ... fünfzehn Jahre! -- Weiß der Teufel! Schon fünfzehn Jahre!« -- Mein Gott, was schwatzt er nur! Er lacht heiser. Ein leises »Ja!« Und wieder Schweigen. Sie erhebt sich und nimmt aus irgend einem Grund den Vorhang zurück. »Ja! -- hä! -- ich hätte nicht geglaubt, das Nest noch mal zu sehn! -- Aber es ist doch wirklich ein Bann, die -- Heimat ...« Er hat sie nur immer beobachtet: wie sie sich nun wieder niedergelassen hat, und -- und wie ihre Brust geht ... Ihre Brust geht ... Er grinst. »So ... So eine -- Anwandlung«, reißt er sich jedes Wort los. »Denn eigentlich ist mir doch alles hier weggestorben ...« Mit ~dieser~ naturalistischen Methode ist es nun freilich unmöglich, einen Roman zu schreiben. Allerdings -- der Versuch ist gemacht worden. Aber was ist dabei herausgekommen? Nicht ein Roman von wuchtig wirkender Geschlossenheit, sondern eine lange Reihe phonographisch-photographischer Skizzen. Skizzen! Das ist der beste Name für die Produkte dieses allzugetreuen Naturalismus. Aber selbst die Skizzen, die den stolzen Titel »Novellen« führen, lassen deutlich erkennen, daß ~diese~ Methode über das Ziel hinaus schießt. Gewiß, die Art der psychologischen Analyse wie die Art der Wiedergabe der Unterhaltung verträgt eine Reform. Wer seine Figuren wirklich natürlich malen will, darf sie nicht so viel schwülstiger, länger und gelehrter reden lassen, als sie im gewöhnlichen Leben reden. Wie das Drama von den fünffüßigen Jamben zur einfach-schlichten Ausdrucksweise übergegangen ist, so muß es auch die Erzählung. Nur -- alles hat seine Grenzen. Eine Pflicht, alle und jede Zwischenlaute, jedes Räuspern und Spucken, jedes Husten und Niesen wiederzugeben, besteht nicht. Und wenn wir dem Künstler tausendmal zugeben, daß auch das Häßliche geschildert werden darf, -- das einfache Hinschreiben der unbeholfenen Einzellaute, die ein Mensch, der das rechte Wort nicht findet, ausstößt, ist keine Kunst. Zudem würde eine unerträgliche Breite die Folge sein, sobald mehr geschildert werden sollte, als eine besonders packende Szene. Daher denn diese Naturalisten auch nicht ~alle~ Natur zum Objekt der Darstellung machen, sondern nur besondere Naturteile des psychologischen Geschehens, mit Vorliebe auch des Liebeslebens. Sie zeigen eben damit, daß auch sie nicht einfach nehmen können, was die Natur gibt. Sie müssen auswählen. Wenn man aber erst einmal zugegeben hat, daß die Natur künstlerisch betrachtet werden muß, dann ist auch eine echte und treue, aber künstlerisch geläuterte Wiedergabe der menschlichen Sprechweise nicht als unnatürlich abzulehnen. Wir überschauen den Weg, den wir zurückgelegt, um die Entwicklung noch unter einem andern Gesichtswinkel anzusehen. Welche immense Veränderung ist allmählich hinsichtlich des ~Stoffgebiets~ eingetreten! Ursprünglich bilden Naturalismus und Heimatkunst eine anscheinend unlösbare Ehe. ~Natürlich~ -- so scheint es -- kann man den Menschen nur nehmen, wenn man ihn nicht isoliert, sondern in allen seinen Zusammenhängen erfaßt. Und der Leser dankt es den Erzählern, daß sie ihn auch Völker, Länder, Sitten kennen lehren. Der naturalistische Roman ist zugleich Gesellschaftsroman, ja er ist ein Stück Zeitroman. Daß nicht bloß die einfach schlichte ländliche Natur als Objekt der Naturschilderung zu gelten habe, sieht man ja ein; das städtische Leben, das Leben der Gebildeten, ob auch manchmal unnatürlich verbildet, ist doch mit Gegenstand einer Darstellung, die das Tatsächliche beschreiben will. Aber noch bleibt der Zug zum Großen und Weiten, zum Bedeutenden. Selbst die Elendsbilder Hetzers sind davon berührt; das Elend der Massen kann heut nicht anders angesehen werden denn als ein wichtiges Stück sozialen Lebens. Nun aber kommt eine Wandlung: man wird noch naturgetreuer, aber man erkauft diese Naturtreue durch Verzicht auf das Großzügige. Wohl erhalten wir noch Bilder aus dem Leben; aber nicht mehr die bedeutenden Lebenserscheinungen stehen im Vordergrund, sondern die dekadenten, die nervösen, die pathologischen, die unsittlichen. Auch die Kreise der Halbwelt, die ein ~Tovote~ so sehr darzustellen liebt, bilden einen Ausschnitt aus der Gesellschaft, aus dem Volk. Aber man mag sagen, was man will: wer sich auf dies Gebiet konzentriert, wer das individuelle Liebesleben, zumal nach Seiten seiner Entartung hin, als Stoff bevorzugt, wer in jenen Regionen sich erzählend aufhält, welche sonst mit Nacht und Grauen bedeckt sind, der mag Nerven kitzeln, der mag Effekte erringen, der mag sehr naturgetreu sein, -- aber die Aufgabe des Romans, der Erzählung ist ihm aus den Augen gekommen. Ein Weltbild soll der Roman geben, ein Bild der wirklichen Welt. Aber doch eben ~der~ Linien der Weltentwicklung, welche dieselbe ~leiten~. Und wer nun gar seine Aufgabe als Erzähler mit derjenigen des Momentphotographen verwechselt, der zeigt, daß er nicht mehr weiß, was »Welt« bedeutet und was »Leben« heißt. Aus diesem Grund ist die ~neueste~ Phase des Naturalismus auf dem Gebiet des Romans -- vom Drama rede ich hier nicht -- eine Entgleisung. Der Naturalismus hat große Bedeutung; und wir werden von ihm nicht mehr loskommen. Aber er wird diese Bedeutung nur dann behalten, wenn er ~natürlich~ bleibt und wenn er ~künstlerisch~ bleibt. [Illustration] Der Problem- und Gesellschaftsroman. Der Roman soll ein Weltbild geben, dazu genügt eine einfache Schilderung, mag sie so ruhig sein wie nur möglich. Solche Schilderung gibt im Grunde die Volkserzählung wie der Zeitroman und der historische Roman. Die Stimmungsdichtung schildert, indem sie mit dichterischem Empfinden Welt und Menschen verklärt. Der Naturalist schildert mit rücksichtsloser Feder die nackte Wirklichkeit. Aber brauchen sie nicht alle doch einen Einschlag, der ihre Schilderungen zu Romanen macht? Es ist der Einschlag der ~Handlung~, der allen unentbehrlich ist. Man kann ihn auf ein Minimum beschränken, wie z. B. ~Fontane~ in »~Vor dem Sturm~«, auch im »Stechlin«. Fehlen aber darf er nicht. Nun kann eine Handlung wieder sehr verschieden aufgebaut sein. Vor allem bestehen hier zwei Möglichkeiten. Sie kann durch äußere oder durch innere Spannung wirken. Für die erste Möglichkeit gibt das einfachste Beispiel der normale Sensationsroman. Der gröbste Sensationsroman wirkt durch Mord und Totschlag, durch Verbrechen und Intrigen, durch Gefahren und Errettungen. Der feinere Sensationsroman hat andere Mittel. Namentlich die Beziehungen der beiden Geschlechter müssen wieder und wieder herhalten, um die Handlung wirksam zu gestalten. Der gewöhnliche Liebesroman gehört in diese Gattung. Die andere Möglichkeit aber besteht darin, daß der Dichter die Handlung nicht äußerlich, oder wenigstens nicht bloß äußerlich wirken läßt, sondern innerlich, d. h. durch den ihr innewohnenden ~Gedanken~. Auch dafür bieten sich der Wege noch gar viele. Aber am nächsten liegt dann die ~Einarbeitung eines Problems~ in die Handlung. Es sei daran erinnert, wie ~Goethes~ »~Wahlverwandtschaften~« gerade in der innerlichsten Verknüpfung von Handlung und Gedankenproblem vorangegangen sind. Goethe hat darin nicht so bald und nicht gleich in hoher Vollendung Nachfolger gefunden. Aber gefunden hat er sie im deutschen Roman. Ein Roman ist nun keineswegs deshalb wertlos, weil er die Handlung mehr äußerlich wirken läßt als innerlich. Der beschreibende Zeitroman z. B., wie Freytags »Soll und Haben«, tut das; aber sein Wert besteht eben in der Schilderung, für welche die Handlung lediglich eine anregende Beigabe bietet, die dann ihrerseits keine besondere Gedankentiefe mehr zu entwickeln braucht. Auch der geschichtliche Roman begnügt sich in der Regel mit einer mehr in äußerlicher Entwicklung aufgehenden Handlung, Andere ähnlich. Erst wo der Roman sich nicht mehr nach Seite der Schilderung oder nach Seite der reinen psychologischen Entwicklungsgeschichte (wie in ~Kellers~ »~Grünem Heinrich~«) vertieft, entsteht die Notwendigkeit, das ~Schwergewicht~ auf die Problementfaltung zu legen. Wenn der Roman diesen Weg einschlägt, so eröffnet sich ihm ein weites, fruchtbares Arbeitsfeld. Tausend Probleme bietet das Leben, tausend Probleme quälen den Denker. ~Ein großes Problem groß behandeln~, hineingreifen in die Fragen der Zeit, des Menschenlebens, der geistigen Entwicklung, der Weltanschauung, der Seelenkunde, -- was für eine Aufgabe! Sie ist des Schweißes der Edlen wert! Nur leider -- im deutschen Roman ist ~dieser~ Acker nur dürftig angebaut. Mir ist es immer wieder wie ein Riesenproblem erschienen, daß gerade der deutsche Roman, der Roman des Volkes der Dichter und Denker, den Problemroman im großen Stil so stiefmütterlich behandelt hat. Man kann ja nicht sagen, daß er ihn vergessen hat. Wir werden nachher sofort sehen, wie er hier gearbeitet hat. Aber andere Länder sind uns darin voraus. Emil ~Zola~ war gewiß in erster Linie Beschreiber. Doch fehlt ihm bei allem Naturalismus die Energie nicht, die Beschreibung mit großen Gedanken zu durchweben, sie zugleich in den Dienst des Problems zu stellen. Seine Trilogie Rom, Paris, Lourdes ist nach dieser Richtung hin von Bedeutung. In Rußland hat ~Tolstoi~ mit seiner »Auferstehung«, so sehr sie den Stempel der Unfertigkeit trägt, gleichfalls einen großen Wurf getan. Den Stammverwandten im Norden liegt das Denken und Grübeln außerordentlich; auch ihre Erzählungen graben in die Tiefe. Was haben sie für Anregungen in der Problemstellung durch ihre ~Ibsen~ und ~Björnson~! In unserer Romanliteratur sind die Werke, welche ~große~ Probleme behandeln, nicht häufig. Große Probleme -- damit meine ich allgemeine, prinzipielle, typische Probleme. Andere finden sich oft behandelt. Aber die, welche große, einschneidende Fragen der Zeit behandeln, nicht bloß schildernd, sondern wirklich eine Lösung versuchend, -- diese sind zu zählen. ~Wir konstatieren an dieser Stelle die größte Lücke in der Reihe der Schöpfungen des neueren deutschen Romans.~ Wilhelm ~Jordan~ behandelt z. B. in »~Die Sebalds~« ernste, wichtige Fragen der Weltanschauung, ~Heyses~ »~Merlin~« hat den Unterschied der idealistischen und der naturalistischen Richtung zum Thema, Bertha ~von Suttner~ arbeitet in ihrem stark tendenziösen, aber keineswegs ungeschickten Roman »~Die Waffen nieder~« für die Liga der Friedensfreunde, andere griffen soziale Fragen auf, -- aber es ist nirgends wirkliche Tiefe und Kraft der Problemstellung und der Problemlösung. Entweder geht die Kunst in der Schilderung auf, -- oder aber der Dichter wird zum Lehrmeister. Er ist schon fertig, vielleicht allzu fertig mit seinen Fragen. Er predigt seine Lehre, aber er greift nicht hinein in die ungeheueren Abgründe der wirklichen, brennenden Fragen, welche mit überwältigender Wucht die Herzen erfüllen. Vielleicht gilt letzteres auch von den großen Romanen desjenigen Dichters, der die tiefsten Probleme am mutigsten angefaßt hat, des schon mehrfach genannten ~Peter Rosegger~. Er ist nicht bloß ein Dorfgeschichtenschreiber, nicht bloß ein gemütvoller Stimmungsdichter, er hat wirkliche Romane im großen Stil uns geschenkt. »~Jakob der Letzte~« und »~Das ewige Licht~« haben soziale Probleme zum Inhalt. Allerdings ganz bestimmte, eigentlich begrenzte, aber doch typische. Beidemale handelt es sich um Waldsiedelungen, die zugrunde gehen. Dort wird das Gebiet, auf dem Menschen hausen, wieder zu Wald gemacht; hier dringt die Kultur in die Waldeinsamkeit und zeitigt schwerwiegende Folgen. Weniger machtvoll ist »~Martin der Mann~«. Eine der ergreifendsten Schöpfungen des steirischen Dichters haben wir in »~Der Gottsucher~« vor uns, der das religiöse Problem von der sittlichen Seite her anfaßt. »Der Gottsucher« führt in die Vergangenheit. Das Dorf Trawies steht unter geistlicher Herrschaft. Sein Pfarrer ist zugleich sein Herr. Die Leute von Trawies sind sonst immer aufs beste mit ihrem Pfarrer ausgekommen; es waren kirchentreue Katholiken, wie zumal einsame Bergtäler solche Gemeinden bergen. Da wird ihnen ein neuer Priester und Herr gesetzt: der nimmts zwar mit den eigenen Pflichten nicht allzu genau, aber sehr genau mit denen der Pfarrkinder. Noch ist in Trawies der uralte, von der Heidenzeit überkommene Brauch der Sonnwendfeier in Übung; der Pfarrer kehrt sich mit härtester Strenge auch gegen diesen Brauch. Da beschließen die Männer der Gemeinde seinen Tod. Wahnfred der Schreiner vollstreckt das Urteil. Der Täter wird nicht gefunden; zur Sühne für den Mord müssen elf Männer ihr Leben lassen. Über die ganze Gemeinde aber wird Interdikt und Acht verhängt. Nun beginnt die furchtbare Schilderung dessen, was in dem Tal, das keinen Gott mehr hat, geschieht. Alles ist aus Rand und Band. Auf der einen Seite die Not, auf der andern die Willkür .... Keiner arbeitet, keiner baut etwas an, kein Halm geht auf. Die Alten haben nichts mehr zu sagen, nur die Jungen und Starken. Sach- und Weibergemeinschaft führen sie ein; aber eben um deswillen schlagen sie einander tot. Keiner seiner Habe sicher, keiner seines Lebens gewiß! Raubanfälle unternehmen sie nach außerhalb, das Eindringen militärischer Ordnungsstifter hindern sie mit Gewalt. Zu Sünde und Frevel gesellt sich das Leid. Der Borkenkäfer verwüstet den herrlichen Wald, das Feuer vollendet sein Zerstörungswerk. Die Pest bricht herein und hält eine grausige Ernte. Inzwischen hat Wahnfred, der Mörder, in einsamem Grübeln Gott gefunden. Zu Gott will er auch die Leute von Trawies führen, da er ihren Frevel und ihr Elend erkennt. Aber ein Schwärmer ist er selber geworden: er lehrt sie im Feuer Gott sehen, und sie -- trotz allem in brennender Sehnsucht nach Gott -- folgen ihm. Aber nur zum Kultus, nicht zu Selbstbeherrschung und Reinheit. Wie Wahnfred dessen gewiß ist, baut er einen großen hölzernen Tempel; in den sammeln sich, dem Feuergott zu Ehren, alle Trawieser. Und wie sie drin eingeschlossen sind, läßt er den Tempel in Feuer aufgehen. Trawies muß zugrunde gehen, denn es hat keinen Gott, kein Vorbild und kein Gesetz. -- Was wird aus Menschen, die keinen Gott haben? Die zugleich von aller Ordnung der Kirche und des Staats verlassen sind? Sie verzehren sich selbst in der Leidenschaften unbezwinglichem Taumel. Wohl werden sie aus sich selber heraus wieder Gott suchen. Nicht alle; denn eine große Menge ist, die wählt ihren Weg durch das Tierreich, durch Pflanzen und Moder in die Erde hinein. Das sind nicht Gottsucher, sie verneinen das Ideal, sie suchen das Gegenteil. Aber die anderen suchen ihn. »Auf allen Straßen und in allen Wüsten, du magst dich gegen Morgen wenden oder gegen Abend, gegen Mittag oder gegen Mitternacht, überall wirst du der Gottsucher Spuren entdecken, hier ein Rosenbett, dort steinerne Tafeln, hier ein Schwert und dort ein Kreuz. Das Rufen des Derwisch auf der Moschee, das Knarren der Klappern im Wigwam, das Glockenklingen im Dome, es ist der Kinder des Leides ewiger Notschrei nach einem göttlichen Retter, es ist die brennende Sehnsucht nach einer Kraft, die das Tier in uns besiegt, den Geist befreit und uns die Vollendung gibt.« Nur, soll diese Sehnsucht das rechte Ziel treffen, so braucht der Mensch ein Vorbild, Gottes Ebenbild im denkbar vollendetsten Menschen. Trawies hatte kein Vorbild und kein Gesetz. So mußt' es vergehen. In die Tiefen der menschlichen Seele, in die heiligsten Fragen, die Menschheit und Gott verknüpfen, in die ernstesten Probleme der Erziehung des Menschengeschlechts, der kirchlichen und staatlichen, der sittlichen und gesetzlichen Ordnung führt Roseggers »Gottsucher«. Das Schicksal von Trawies, dem gebannten Trawies, ist Symbol, aber nicht bloß Symbol. Es ist doch so in wüste Vergangenheit zurückverlegt, so mit dem Geschick jener wilden Zeiten, in denen die Obrigkeit mit Türkennot genug zu tun hatte, verbunden, daß es der Wirklichkeit nicht entrückt ist. Eben an dem ~Beispiel~ von Trawies entwickelt sich mit unaufhaltsamer Notwendigkeit, was kommen muß, wenn Gott fehlt und den Gottsuchern Vorbild und Gesetz fehlt. Man kann also im »Gottsucher« ein symbolistisches Werk sehen; und man hat ganz mit Recht hervorgehoben, daß die deutsche Literatur hier ein großes Werk eigengewachsener, nicht importierter Symbolistik besitze. Aber es war gesunde Symbolistik, die auch im äußeren Geschehen die Gesetze des Wirklichen nicht verließ. Und wenn man mit dem Dichter rechten kann, ob nicht manches phantastisch werde, ob es nicht zu stark in mystisches Dunkel gehüllt sei, -- das Buch entfaltet doch eine wunderbare poetische Kraft. Alle Düsternis, aller Schauer, alles Grausen, ja alles Unschöne, alle unverhüllt vorgetragene Lehre ist mit solcher Wucht fortreißender Sprachgewalt dargestellt, mit solcher Herrlichkeit tiefsten dichterischen Empfindens umwoben, daß mancher einzelne Mangel darüber getrost vergessen werden kann. Auch hier ist ja -- wie schon angedeutet -- das Problem nicht eigentlich als Problem vom Leser mit durchgrübelt; der Dichter trägt klar und zielbewußt die eigene Lösung selber vor und vermeidet dadurch nicht den Eindruck des Lehrhaften. Aber das Problem ist doch eben aus dem tatsächlichen Geschehen heraus entwickelt. Roseggers »Gottsucher« ist und bleibt ein großer Wurf. Problemstellungen von dieser Größe aber sind leider selten. Unter den Neueren finden wir wieder den Mut, wenigstens auf einem Gebiete, demjenigen der Charakterentwicklung, in die Tiefe und ins Große zu gehen. Wir kommen auf diese verheißungsvollen Anzeichen einer neuen Zukunft am Ende dieses Vortrags zurück. Für jetzt verweilt unser Blick auf den literarischen Prosaschöpfungen der älteren Schule, soweit sie Problemdichtung sein will. Viel Herrliches zeigt sich da dem Auge nicht. In der Literatur der letzten Jahrzehnte des neunzehnten Jahrhunderts bekundet sich eine merkwürdige Neigung, Probleme zu behandeln, die »gesellschaftlichen« Charakter haben. ~Der Problemroman wird zum Gesellschaftsroman.~ Nun kann man ja das Wort »Gesellschaft« sehr tief fassen; »die menschliche Gesellschaft« umfaßt die größten Probleme. Aber der Durchschnitt der Romanschriftsteller nimmt das Wort nicht so tief. »Gesellschaft« bedeutet ihnen mehr das Zusammenleben der oberen Schichten. Und sie behandeln nun die Konflikte, welche sich hier aus Leidenschaft, Neigung, Sitte, Ehre, Schuld und Sühne, Liebe und Ehe zusammensetzen. ~Marie von Ebner-Eschenbach~, jedenfalls eine der bedeutendsten unter den weiblichen Romandichtern, bewegt sich keineswegs nur in diesem zuletzt gezeichneten Milieu. Ihre Erzählung »Das Gemeindekind« z. B. greift eine eigentümliche Charakterentwicklung aus den untersten Schichten einer Dorfgemeinde heraus. Was wird aus jenen unglücklichen Geschöpfen, die, ihrer Eltern beraubt, der Gemeinde zur Last fallen? Was wird namentlich dort aus ihnen, wo Waisenrecht und Waisenfürsorge noch in den primitivsten Anfangsstadien der Entwicklung sich befinden? Was wird aus ihnen, wenn kein menschenfreundliches Herz sie aus diesen Verhältnissen herausreißt? Mögen ihrer viele zugrunde gehen, -- Marie von Ebner-Eschenbach zeigt mit psychologischer Konsequenz, daß auch eine andere Entwicklung möglich ist. Freilich, es ist schwer, aus der Tiefe in die Höhe zu kommen! Freilich, es ist hart, um der Eltern willen Schmach zu leiden, die man nicht selber verschuldet! Aber möglich ists doch, ~nicht~ zugrunde zu gehen! Wir nähmen gern noch etwas mehr Detail in der Motivierung hin -- die intime Verästelung in die feinsten Stimmungen hinein ist nicht Sache der Ebner-Eschenbach --, aber wir finden die Linien im großen richtig gezeichnet und das Werden dieses Gemeindekindes durchaus wahrscheinlich beschrieben. Nirgends fehlen die nötigen Vermittelungen, nirgends auch die unentbehrlichen Verbindungslinien nach der umgebenden Welt. Und ganz ähnlich wie hier erstrebt die Dichterin sonst eine psychologische Vertiefung ihrer Problemlösungen, -- auch da, wo die Fragestellung und die Fragebeantwortung noch individueller ist, auch da, wo die »Gesellschaft« im besonderen Sinn ihr die Stoffe liefert. Greifen wir beispielsweise zu genauerer Betrachtung noch ihre zweibändige Dichtung »Unsühnbar« heraus! Schauplatz: Die aristokratische Gesellschaft Österreichs. Sommers auf den Landschlössern, Winters in Wien. Hintergrund: weder Stadt noch Land, weder Beruf noch Arbeit in Einzelzeichnung. Allem Detail ist Marie von Ebner feind. Ihre Menschen sind hier Grand-Seigneurs, die Besuche machen und empfangen, Gesellschaften geben und besuchen, und sich im übrigen ein bißchen beschäftigen, wenn sie gerade Lust dazu haben. Von diesen Menschen aber erzählt sie mit Schneid' und Verve, ohne ausgeführte Schilderung, ohne irgendwelche Lyrik, meist sehr knapp. Der Wert ihres »Unsühnbar« liegt nur zum Teil in dieser flotten Manier, die auch ihre anderen Sachen zeigen, die aber doch oft etwas Gemachtes hat, weil nicht selten irgend eine Nebensache dabei ebensolchen Akzent abbekommt, wie die Hauptsache, und weil sie häufig durch diese Manier den Eindruck des Skizzenhaften, Abgerissenen erweckt, manchmal auch den des Nachlässigen. Größer ist der Wert der Problembehandlung. Eine junge Gräfin hat einen sehr wackeren Grafen geheiratet, nachdem ihr der Vater einen anderen Bewerber, für den sie fühlte, verleidet hat. Sie wird ein Muster von Gattin und Schloßherrin, aber in einer schwachen Stunde gelingt es dem Andern, sie zu betören. Nun lastet die Schuld auf ihr. Das Buch ist die Geschichte dieses Schuldgefühls. Sie will den Tod suchen, -- aber sie wagt es nicht um des Kindes willen, das sie erwartet. Sie will sich durch Wohltätigkeit darüber hinweghelfen, durch gesellschaftliche Zerstreuung: nichts hilft. Sie sucht die Tröstungen der Religion, ohne Trost zu finden. Sie verliert in jähem Unfall den Gatten und den ältesten Sohn. Nur der jüngste bleibt ihr, der Zeuge ihrer Schuld. Sie gesteht ihr Vergehen, sie weist den Verführer auch jetzt zurück. Schwere Krankheit rafft sie hin. »Gebüßt, nicht gesühnt -- das hätt' ich nie gekonnt .... Schwer ist mit solchem Bewußtsein das Leben .... und schwer der Tod ...« Gewiß, ein ernstes Problem: die Sühne der Schuld. Auch ist es ernst durchgeführt, -- nur allzu ruckweise, allzu schematisch. Neben reichen Ansätzen zu vertiefender Erfassung bleibt viel Unfertiges. Und das Problem ist doch schließlich ein stark subjektiv aufgebautes: nicht bloß die Schuld ist die Voraussetzung, sondern auch ein zartes Gewissen ... Problem- und Gesellschaftsdichtung! Von den älteren Erzählern gehört noch einer unbedingt hierher: ~Paul Heyse~ mit seinen Novellen. Man kann ja versucht sein, ihm den Platz neben dem anderen großen Novellenerzähler, neben Theodor Storm, anzuweisen. Aber Stimmungsdichter war Heyse nicht entfernt in dem Maße wie Storm. Beide zu vergleichen, hat freilich seinen eigenen Reiz. Nehmen Sie den tiefdunkeln deutschen Himmel aus düsterer Herbsteszeit, dazu die Wogen der See, die hoch an den Deich schlagen, dazu die Menschen, die dort wohnen, ein grüblerisches, verschlossenes, aber tiefes Geschlecht --: das ist Storm, der nordische Dichter. Nehmen Sie dagegen lachenden Blauhimmel aus dem goldigen Italien, dazu die üppigen Lorbeerbüsche irgend eines vornehmen Parks einer Villa im römischen Gebirge, dazu deutsche Künstler oder Gelehrte, die dort zu Gast sind, und italienische vornehme Herren und Damen -- und Sie haben Paul Heyse. Nicht als ob diese Skizzierung wörtlich zu nehmen wäre. Storm freilich blieb als Dichter der Heimat treu; Heyse hat längst nicht ~bloß~ »italienische« Novellen geschrieben, wenn schon doch etwa die Hälfte von allen dort im Süden ihren Schauplatz hat. Aber auch wo er weitab von Italien ist, auch wo er in die Landschaft hineinführt, die den stärksten Gegensatz zur italienischen bildet, in die deutsche Waldlandschaft, weicht unter seinen Händen der deutsche Zauber, weil er das tiefinnige deutsche Gemüt nicht mitbringt, das deutsche Land zu betrachten. Und auch der andere Unterschied besteht zu Recht: bei Storm schwerblütige deutsche Menschen, bei Heyse heißblütige Allerweltsmenschen. Bei Storm Männer von alter, guter, fester Art, selten anderswoher stammend als aus dem ehrenwerten Mittelstand, dem Hort der alten Art und des treuen Gemüts, -- Frauen und Mädchen, die zu ihnen passen, treu und stark wie Elke, des Deichgrafen Hauke Haien kraftvolles Weib, ruhig-ernst und doch opferbereit in herzlicher Liebe wie die Anna in »Carsten Curator«, alle aber rein und frei und klar. Bei Heyse dagegen Herren aus den höheren Ständen, Grafen und andere Edle, Gelehrte und Künstler, jedenfalls gebildete Leute von feiner Lebensart. Dazu Damen derselben Schichten, der glatten Rede gewohnt, in der Konversation geübt. Und wie ungern nimmt er solche zu Heldinnen, deren Leben schlicht und ruhig im alten Gleis geht! Irgend etwas sucht er an ihnen, was besonderen Reiz hat, was unklar ist und zu Verwicklungen Anlaß gibt: eine unglückliche Ehe, eine unerwiderte Leidenschaft, einen erlittenen Verrat oder etwas dergleichen. Und wie die Menschen, so ihr Reden. Bei Storm ist alles Reden ruhig, einfach, nur etwa poetisch warm durchhaucht; bei Heyse herrschen der Ton des Salons, die gesellschaftlichen Formen, die geschliffene Ausdrucksweise der Menschen, die häufig reden, weil sie nicht so viel zu tun haben wie andere. Aber der Unterschied geht noch viel tiefer. Heyse neigt viel mehr nach dem eigentlichen Problem als Storm. Storm skizziert, läßt Töne anklingen und nachklingen, weckt Erinnerungen, macht Gefühle lebendig, zaubert Gestalten, die die Phantasie ergreifen. Wo eine ausgeführtere Handlung ihn beschäftigt, gibt er sie in großen Zügen, springend von Markstein zu Markstein. Anders Heyse. Er wählt Situationen, die etwas Interessantes bieten müssen, und seine Menschen sind für diese Situationen geschaffen. Manchmal nur für diese Situationen, so daß man zweifelt, ob sie eigentlich gerade so haben existieren können. Seine Probleme aber bewegen sich alle um individuelle, manchmal sehr individuelle Situationen. Das Grundthema der Heyseschen Novellen bildet das Verhältnis von Mann und Weib: die Liebe. In allen möglichen Variationen wird sie behandelt: als glückliche und unglückliche Liebe, als verzichtende und als genießende, als eheliche und als sündige Liebe. Aber immer, immer in ganz bestimmter Färbung der Liebe, und zwar in der vorwiegend sinnlichen. So weiß er ästhetisch die Schönheit zu würdigen: weibliche Schönheit hat in ihm einen begeisterten Verehrer und genialen Schilderer. Aber er läßt auch die Mächte aus der ~Tiefe~ heraufsteigen, die doch das Wesen der Liebe nicht erschöpfen. Er hat dabei nie ein unschönes Wort gesagt, aber die Atmosphäre wird nicht selten schwül; -- und von dem, was bei Storm Liebe ist, weiß er wenig. Ich greife -- ganz nach Willkür -- nur einige dieser Probleme heraus. Ein deutscher Doktor der Philosophie kommt, er weiß selbst nicht wie, als Gast in das Haus eines zum Krüppel geschossenen italienischen Grafen. Die Gräfin ist tief unglücklich an der Seite des Gatten, sie schenkt dem Gast ihre Liebe und der Gast widmet ihr seine Leidenschaft. Ihn zwingt eilende Botschaft, heimzukehren; sie will der Herrschaft des Mannes auf alle Fälle entrinnen. Ein Priesterzögling läßt sie im Stich, statt sie zu entführen; und so bekennt sie dem Gatten, daß sie mit eben diesem Zögling sich vergangen. Da erschießt sie der Rasende (Villa Falkonieri). -- Ein junges Mädchen ist durch die Treulosigkeit eines Arztes, der ihre Schwester verführt, zur Menschenfeindin geworden. Da lernt ein junger Baumeister sie kennen und liebt sie. Er rächt sie an jenem Arzt, will es aber durchaus uneigennützig getan haben und weist ihre endlich entglommene Liebe zurück. Sie aber hält es nun für weise, sich ganz vom Leben zurückzuziehen. So gibt sie sich den Tod (Doris Sengeberg). -- Die dreißigjährige Frau des berühmten Universitätsprofessors schenkt ihr Herz einem zwanzigjährigen, dichterisch und musikalisch veranlagten Studenten. Ihren Mann hat sie nie geliebt, sein Herz gehört in erster Linie der Wissenschaft; ihren einzigen Sohn hat er ihr genommen, um ihn in einer Erziehungsanstalt unter männliche Leitung zu bringen. So ist sie für den Zwanzigjährigen innerlich ganz frei und will sich auch äußerlich für ihn frei machen. Er aber liebt sein hübsches, junges Wirtstöchterlein. Wie sie das endlich erfährt, wird auch sie wieder innerlich frei für ihren Mann und ihr Kind, das ihr jetzt von neuem vertraut wird (Melusine). Ich breche diese Aufzählung ab. Variationen seines Grundthemas hat Heyse in reichlicher Zahl gefunden. Manche behaupten: ~er~funden. Und gewiß: im Verhältnis zur schlichten Wirklichkeit liegt einer der schwächsten Punkte der Heyseschen Novellistik. Sind nicht manche dieser Probleme geradezu ausgeklügelt? Oder, wenn man der Liebe die wunderlichsten Seitensprünge zugut halten will, ist nicht die Art, wie der Dichter die seelischen Entwicklungen vor sich gehen läßt, oft genug unnatürlich? Wie rasend schnell geht das Verlieben z. B. in Melusine und in der Villa Falkonieri, aber auch in vielen anderen Novellen. Ich will nicht verallgemeinern: aber richtig ist, daß Unwahrscheinlichkeiten nicht selten sind und daß er eine Vorliebe für absonderliche Konstellationen betätigt. Und daß mancher Charakter über der Durchführung der Konstellation zum unverständlichen Rätsel wird, ist ebenso gewiß. Trotz alledem dürfen wir diese formschönen, eleganten, glatt fließenden, abgerundeten Erzählungen um so weniger ungerecht beurteilen, als auch ihnen eine Art Stimmung eigen ist, welche den Leser rasch gewinnt. In der Szene in »Melusine«, in welcher der Studiosus Ludolf der Professorsgattin zuerst vormusiziert, ist unfraglich Stimmung. Ludolf singt sein hübsches Lied: Du lispeltest: Ich liebe dich, Ich liebe dich bis in den Tod! -- Und deiner Wange Glanz erblich Und deiner Lippe junges Rot ...... Und dann heißt es: »Die Begleitung verklang leise, wie die letzten Atemzüge einer Sterbenden. Eine Weile war es so still in dem halbdunklen Zimmer, daß man draußen im Garten die Wipfel rauschen hörte, die ein heranziehender Gewitterwind schüttelte« .... Aber trotz dieser Stimmung sind Heyses Novellen keine Stimmungsnovellen, sondern gesellschaftliche Problemdichtungen. Sie bilden, wie Adolf Bartels urteilt, »etwa die Ergänzung zu Storms Stimmungsnovellen, sind plastischer, klarer, ja nüchterner als diese, dafür aber auch vielseitiger, psychologisch reicher und feiner, kurz moderner.« Ich möchte hinzufügen: sie reden viel mehr von Liebe, aber sie sind viel ärmer an Gemüt. In ihnen regiert ~die Kunst~. Gerade diese Gattung des Romans ist in der nicht eigentlich naturalistischen Erzählerkunst außerordentlich reich vertreten. Und so mögen denn hier noch zwei Erzähler genannt werden, die keineswegs ausschließlich, aber doch auch auf diesem Gebiet Beachtenswertes geschaffen haben. Von ~Theodor Fontane~ wurde schon gesprochen. Er ist ein Künstler im Schaffen von Zeitbildern. Fast alle seine Romane haben etwas von dieser Art. Aber etliche darunter rühren doch auch ein Problem an und dann immer ein Problem, das im gesellschaftlichen Leben wurzelt. Ich meine da nicht sein »Quitt«, das von einer Mordaffäre des Riesengebirges den Ausgang nimmt. Auch dies Buch ist die Geschichte einer Schuld. Aber indem der Dichter hier die Schuld auf schauerlichem Verbrechen beruhen läßt, gibt er dem Ganzen zu grobe Züge und erschwert allzu sehr die Sympathie mit seiner Hauptperson. Das geht ihm auch sonst ähnlich; aber selten so stark. Viel feiner ist seine »~Effi Briest~«, ein Buch, das in dem Grundproblem unverkennbare Ähnlichkeit mit Marie von Ebner-Eschenbachs »Unsühnbar« zeigt. Allerdings nur in der Problemstellung; sonst gehen die beiden Schriftsteller weit auseinander. Marie von Ebner-Eschenbach mit ihren knappen, skizzenhaften Entwicklungen, mit ihrer vorwärts drängenden, fast jagenden Eile -- und Fontane, der Meister der Kleinkunst, der so gern still steht und verweilt! Dort alles Linienführung -- hier alles Mosaikarbeit! Aber darüber gehe ich hier hinweg; es kommt mir jetzt weniger auf das an, was »Effi Briest« mit seinen Zeitschilderungen gemein hat, als auf das, was sie für ~sich~ hat. Ein frisch und fröhlich, vor allem natürlich aufgewachsenes Mädchen, Tochter einer märkischen Adelsfamilie, heiratet, noch halb Kind, den erheblich älteren Landrat von Instetten. In Zeiten, wo ihr Mann sich wenig um sie kümmert, gerät sie infolge Verführung auf Abwege. Sie selbst bricht mit dem Verführer, dem Major Crampas; niemand weiß um diese Sache; sie schließt sich von neuem in nunmehr wandelloser Treue und in wachsender Liebe an ihren Gatten an. Da kommt -- nach Jahren -- diesem das unglückselige Geheimnis doch zur Kenntnis; er erschießt im Duell den Nebenbuhler, er verstößt die Gattin. Und diese verliert zugleich ihr Kind --; das bleibt beim Vater und ist der Mutter so fremd geworden, daß ein Wiedersehen mit ihr dieser nur Qual bringt. Sie verliert auch ihr Vaterhaus; aber sie darf dann doch, dem Tode nahe, in das Heim ihrer Kindheit zurückkehren und dort sterben. Fontane hat wohl mit Absicht die Schuld selber ganz ins Dunkel gerückt. Darin ist er ~nicht~ Naturalist: die Ausmalung solcher Szenen widerstrebt ihm. Die Folge davon ist nun freilich, daß auch die Motive der Schuld nicht ins helle Licht treten; Langeweile, Gefühl des Vernachlässigtseins, Mangel an Befriedigung -- genügt das wirklich? Genügt es gerade bei einer Effi Briest? Aber wenn das eine Schwäche des Romans sein mag, schwer wiegt sie nicht, insofern der Nachdruck ganz auf die Frage fällt: ist es notwendig, diesen Fehltritt nach Jahren tadellosen Verhaltens so zu sühnen, wie Instetten es tut? Wem nützt das? Die Frau ist damit aufs schwerste gestraft; ihr Geschick ist geradezu tragisch. Selten hat der kühle Fontane so herzenswarme Szenen geschaffen, wie die, in welchen dies Leiden zum Leser spricht. Da zuckt unter der oberflächlichen Ruhe der verhaltene, tiefe Schmerz. Eine Lösung des Problems hat Fontane nicht gegeben; aber er läßt seine Meinung doch deutlich merken. Die Ehrbegriffe der Gesellschaft zwingen den Gatten, so zu handeln, wie er handelt. Vernunft und Liebe aber sprechen anders. Freilich, -- wann werden Vernunft und Liebe das Regiment führen dürfen? Einen scharfen Gegensatz zu Fontane bildet ~Ernst von Wildenbruch~. Fontane ist kühl bis ans Herz hinan. Wildenbruch ist leidenschaftlich durch und durch. Fontane ist Epiker; auch die Erzählung zeigt bei ihm epische Breite. Wildenbruch ist Dramatiker, seine Schöpfungen auch auf dem Gebiet der erzählenden Dichtung sind fast alle auf den dramatischen Effekt hin gearbeitet. Fontane leitet den Blick des Lesers zu ruhiger Betrachtung: er liebt die Kleinigkeiten. Wildenbruch bleibt für gewöhnlich bei den großen Linien, darin der Ebner-Eschenbach viel ähnlicher. Aber während diese ihre Sprache gelegentlich von der legeren Art der wienerischen Umgangssprache stark beeinflussen läßt, hat Wildenbruch Erzählungen geschaffen, in denen die Menschen mit dichterischer Schönheit, mit wählerischer Feinheit, mit glühender Kraft sprechen. Im übrigen hat auch er ~tiefere~ Probleme sich nicht gestellt; entweder er gibt packende Einzelszenen voll Glut und Feuer, oder er greift ins gesellschaftliche Leben hinein. Jene Szenen hat er gern der Vergangenheit entnommen; und was für wirksame Bilder schuf sein »~Claudias Garten~«, sein »~Zauberer Cyprianus~«! Daneben hat er die gleiche Kunst auch in einem Einzelbild aus dem Kadettenleben entwickelt: »~Das edle Blut~«. Eine Art gesellschaftlich-psychologisches Problem aber ist z. B. in dem Roman »~Eifernde Liebe~« angerührt. Die stolze, unnahbare, vornehme Hamburger Patriziertochter, die weiße Dorothea, -- die trotz allem ihr Herz dem einfachen Maler Heinrich Verheißer schenken muß, -- die unnahbare, die schließlich doch im Liebesrausch sich selbst, Heimat, Sitte und Herkommen vergißt, die aber dann, als sie zum Erwachen kommt, nicht anders kann als sich selber den Tod geben, -- sie bietet die Möglichkeit einer kraftvoll einsetzenden psychologischen Entwicklung, sie ist eine Art Problem für sich. Freilich, -- das Problem ist weder neu noch mit besonderer Vertiefung durchgeführt; im Grunde ists ja nur der alte Satz von der Liebe, die keine Schranken kennt, der wieder vorgetragen wird; und nur der Schluß zeigt den Konflikt zwischen Verstand und Liebe. Nein, es sind keine tiefen Fragen, die Wildenbruch aufwirft; was seine Prosawerke über das gewöhnliche Durchschnittsniveau erhebt, ist lediglich der große Reiz der formschönen und wirksam geschürzten Darstellung, die übrigens auf ein paar naturalistische Zutaten nicht immer verzichtet. Was soll ich viel von andern »Problemdichtern« sagen? Probleme sind wohlfeil wie Brombeeren, zahlreich wie der Sand am Meer, -- wenn man das Wort »Problem« nicht zu ernst nimmt! Wenn man gesellschaftliche Verwicklungen alltäglicher Art eben als »Probleme« betrachten will! Wenn man nicht viel Neues verlangt, sondern mit neuen oder wenigstens neuaufgeputzten Nuancen der alten Themata: Verlieben, Verloben, Verheiraten, Verheiratetbleiben zufrieden ist. Wer wollte leugnen, daß auch hier manches durch feinere Charakteristik anspricht, durch geistvolle Behandlung anregt? Wenn ich keine Namen nenne, so geschieht es, um nicht ungerecht gegen andere zu werden. Wer aber könnte anderseits bestreiten, daß sich eine Art von Romanen unendlich breit macht, die weder tief sind noch geistreich, sondern ganz einfach platt und flach? Die ihre »Spannung« lediglich ein paar aufregenden Situationen verdanken? Hierher gehört ein großer Teil der Salonromane. Ihre Sprache: Konversationssprache, ihr Niveau: Dinerunterhaltung beim fünften Gang, ihre Handlung komponiert aus Liebe oder Nichtliebe, Treue oder Untreue, dazwischen eingestreut ein bißchen Krankheit und Genesung, Duell und Tränen oder ähnliche Zugmittel. Kein Wort mehr davon! Nein, nicht mit diesem Bild soll dieser Vortrag schließen. Vielmehr denken wir zuletzt an hoffnungsvolle Anzeichen von guten Zukunftsentwicklungen. Zwei der Neueren gilts hier zu erwähnen. Es sind ~Sudermann~ und ~Frenssen~. Soll man ~Hermann Sudermann~ zu den Naturalisten zählen? Den Dramatiker -- ja. Auch als Erzähler gibt er manche Szene, die ein bißchen stark »natürlich« ist; wenigstens »~Es war~« greift ordentlich auch in die Gebiete des Lebens hinein, die man sonst nicht gern bespricht. Aber zum Naturalisten vom Fach fehlt ihm doch wieder die Vertiefung ins Einzelne, die Ruhe fürs Geringe und Einzelne. Er hat einen Zug ins Konventionelle hinein, der ihn älteren Erzählern mit realistischer Tendenz, aber ohne neugrabende Tiefe an die Seite stellt. Er hat entschieden Ähnlichkeit nicht bloß mit dem Franzosen Dumas, sondern auch mit dem Deutschen Spielhagen. Nur hat er die Salonmanieren mancher späteren Spielhagenschen Werke nicht angenommen; und der Tendenzcharakter der früheren ist bei ihm stark verblaßt. Ob man ihn zu den Problemdichtern gesellen kann? »Es war« behandelt ein gesellschaftliches Problem: eine Schuld ragt aus der Vergangenheit in die Gegenwart hinein. Leo von Sellenthin hat im Duell einen Freund erschossen, mit dessen Frau er sich vergangen. Während er nun in der Ferne weilt, um über die Geschichte Gras wachsen zu lassen, hat sein nächster und treuster Freund die Witwe geheiratet. Als Leo zurückkommt, fallen von jener Schuld her schwere Schatten auf das Verhältnis der Freunde. Der Roman schildert die Konflikte, welche sich ergeben, mit packender Kraft, mit psychologischer Wahrheit. Ob alles weitere, auch die Lösung, ebenso wahr gezeichnet ist, ist eine andere Frage. »Es war« ist wirksam erzählt, schürzt die Knoten geschickt, ist reich an Sensationen, gibt ein paar ganz gute Gestalten; aber das Problem, das es anfaßt, ist allzu individuell und zugleich allzu gesellschaftlich-herkömmlich. Die ganze Art des Romans geht zu wenig in die Tiefe, als daß man ihn für einen ernsteren Problemroman ansprechen dürfte. Aber eine andere Würdigung verdient sein Erstlingswerk »~Frau Sorge~«. Seinetwegen allein gehört Sudermann an diese Stelle. Die »Frau Sorge« hebt sich zunächst dadurch aus Sudermanns übrigen Schöpfungen wie aus vielen ähnlichen heraus, daß ihr ~Stimmung~ innewohnt. Stimmung, lyrische Stimmung! Seinen Eltern widmet er das Buch: »Frau Sorge, die graue verschleierte Frau, Herzliebe Eltern, Ihr kennt sie genau, Sie ist ja heute vor dreißig Jahren Mit Euch in die Fremde hinausgefahren, Da der triefende Novembertag Schweratmend auf neblicher Heide lag Und der Wind in den Weidenzweigen Euch pfiff den Hochzeitsreigen.« Und die gleiche Stimmung lebt in den Erinnerungen der Kindheit. Wenn die Mutter erzählte, so -- »war darin von einer grauen Frau die Rede, welche in allen trüben Stunden die Mutter besucht hatte, eine Frau mit bleichem, hagerem Gesichte und dunklen verweinten Augen. Sie war wie ein Schatten gekommen und wie ein Schatten gegangen, hatte die Hände über der Mutter Haupt gebreitet, ungewiß, ob zum Segen oder zum Fluche ....« Diese Stimmung, ja sie durchzieht das ganze Buch bis hin zu dem abschließenden »Märchen von der Frau Sorge.« Mit ihr aber eint sich in dem Buch ein Realismus von glücklicherer Art als in »Es war.« Glücklicher, weil er enger die Verbindung mit dem Boden wahrt, auf dem Paul Meyhöfer aufwächst, weil er ein bißchen gründlicher wird in der Lebensschilderung, weil das Herrenhaus des Reichen wie das klägliche Besitztum des Bankerotten draußen im Moor zu ihrem Recht kommen, weil in der Erzählung von Pauls und Elsbeths Konfirmandenunterricht, von der Liebschaft der leichtsinnigen Schwestern Pauls, von manchem Zusammentreffen der Nachbarskinder heimische Sitte und heimische Natur mitsprechen dürfen. Auch das Häßliche bleibt nicht ungeschildert; aber es tritt nicht aufdringlich hervor. Ein gesunder Realismus beherrscht das Ganze. Wichtiger freilich noch ist mir die Stellung des Problems selbst. Es ist keine weltbewegende Frage, die ihre Antwort sucht; aber es ist auch kein bloßes, gesellschaftliches Dilemma, kein abgegriffener Konfliktsvorwurf aus dem Liebesleben, der den Grundton gibt. Es handelt sich um die innere Entwicklung eines jungen Menschen, bei dem Frau Sorge Pate gestanden hat. Die lastende Sorge macht ihn scheu und gedrückt; er meint, er könne keinem ins Auge sehen, obwohl er doch nichts zu verbergen hat. Würde fehlt ihm und Selbstbewußtsein; er vergab sich den Menschen gegenüber zu viel und zu viel auch gegenüber sich selber. Es lastet zu viel auf ihm, als daß er jemals hätte frei aufatmen können, wie der Mensch es muß, wenn er nicht stumpf werden und verkümmern soll. Bis er dann durch eine Tat, eine wirkliche Tat, sich freimacht. Für ihn war Frau Sorge reichlich gebeten worden: »Liebe Frau Sorge, laß ihn doch frei!« Aber die Sorge lächelte -- und wer sie lächeln sah, der mußte weinen -- und sie sagte: »Er muß sich selbst befreien.« Und er befreite sich selbst -- durch jene Tat. Diese seelische Entwicklung ist ein Problem, das den eigentlich gesellschaftlichen Fragen gegenüber neu ist, das nicht bloß episodischen Wert hat, sondern auf dem breiten Grund eines ganzen Menschenlebens ruht, -- das nicht rein individuell ist, nicht auf Zufall und nicht auf Schuld beruht, das sogar geradezu als typisch gelten kann. Das gibt der »Frau Sorge« ihren Wert. Sie hat auch Schwächen: Unwahrscheinlichkeiten, auch abgebrauchte Situationen finden sich. Vielleicht ist die Entwicklung des Helden selbst nicht einwandfrei geschildert. Aber das mag beiseit bleiben. Das Buch gehört zu den wertvolleren Erzeugnissen der an psychologischen Problemen sich versuchenden Gesellschaftsdichtung. Aber, von Sudermann abgesehen, dessen »~Katzensteg~« als eine sehr geschickte und wirkungsvolle Erzählung ohne tieferen Wert hier nur eben erwähnt sein mag, bietet auch die Dichtung der Modernen nicht viel Hervorragendes auf dem Gebiet des Problemromans. Um so nachdrücklicher muß hier noch eines Romans gedacht werden, der zwar nicht mehr dem 19. Jahrhundert angehört, der aber ganz in diesen Zusammenhang gehört: ich meine den vielgelesenen »~Jörn Uhl~« von ~Frenssen~. Es ist nicht ohne Interesse, gerade dies Buch mit Sudermanns »Frau Sorge« zu vergleichen. »Frau Sorge« zeigt Stimmung, »Jörn Uhl« desgleichen, aber in viel höherem Grad. Bei Sudermann bleiben die wirklich stimmungsvollen Abschnitte episodenhaft, »Jörn Uhl« ist ganz Stimmung, wundervolle Stimmung. Jene Nüchternheit, die bei Sudermann zuweilen durchbricht, liegt Frenssen völlig fern. -- »Frau Sorge« ist realistisch durchgearbeitet; »Jörn Uhl« nicht minder. Aber was jenes Werk vermissen ließ, findet sich hier; die realistische Zeichnung hebt sich auf breitem, tief erfaßtem Hintergrund ab. Frenssen ist in ganz anderem Sinn ein Meister der Heimatskunst als Sudermann selbst in der »Frau Sorge.« Wie lebendig werden Land und Leute in der friesischen Marsch durch »Jörn Uhl«! Hier ist Milieuschilderung im besten Sinn. Sudermann gibt dazu nur eben Ansätze. In der Kunst der äußeren Zusammenfassung, der geschlossenen Entwicklung der Handlung ist Sudermann stärker; hier liegt die schwächste Seite des »Jörn Uhl«. Aber auf der anderen Seite macht Frenssen das wett durch jene prächtigen Einzelgaben, jene eingestreuten Szenen von märchenhafter Schönheit oder von dramatisch packender Gewalt: dem hat Sudermann nichts an die Seite zu setzen. Endlich gilt es eine Vergleichung des leitenden Problems. Beide geben eine Charakterentwicklung von Kindheit auf; beide führen den Helden durch schweres Geschick zu innerer Reife. Familienerlebnisse und heiße Arbeit, dazu die Bewegung des Herzens durch die Liebe bilden die Hauptstücke der Erziehung bei beiden. Von der bei Frenssen viel plastischeren Art der Schilderung sehe ich ab; die äußere Handlung ist bei Sudermann etwas organischer in die Charakterentwicklung verwoben. Der Brand der Uhl befreit den Jörn, -- durch eigene Tat, die das väterliche Besitztum in Feuer aufgehen läßt, befreit sich Paul Meyhöfer. Dennoch läßt sich sehr streiten, ob dieser Vorzug von Sudermann nicht auf Gefahr der schlichten Natürlichkeit erkauft wird. Mit dieser Tat begibt er sich aufs sensationelle Gebiet; der Brand der Uhl aber ist ein Erlebnis, wie es alle Tage passieren kann und wirklich passiert. Aber wenn wir das ganz dahingestellt sein lassen: auch in der eindringenden Tiefe und naturwahren Kraft der inneren Entwicklung des Helden bleibt Jörn Uhl tiefer. Er verarbeitet viel reichere Einflüsse auf den Knaben, er berücksichtigt nicht ~eine~ Seite seines Wesens, sondern sein ganzes Wesen. Und er verschmäht es nicht, auch die höchsten Fragen, die das Herz bewegen, in diese Entwicklung hineinzuarbeiten. Diese Tiefe der Problembehandlung, die diejenige von »Frau Sorge« noch übertrifft, hebt den »Jörn Uhl« zugleich hoch empor über Frenssens Erstlingswerk »~Die Sandgräfin~«, die ganz im äußerlich Gesellschaftlichen hängen bleibt, aber auch über »~Die drei Getreuen~«, die bei sonstiger großer Schönheit zwar Ansätze zu vertiefender Problemstellung zeigen -- die Entwicklung der drei Getreuen selbst, -- aber die Ansätze verhältnismäßig dürftig herausarbeiten. Sie läßt uns in »Jörn Uhl« einen Roman schätzen, der ein gewichtiges Problem in ernster Realistik, aber auch mit dichterischer Stimmung angreift, -- als ein Werk, das die besten Traditionen der älteren Schule in neuer Form wieder aufnimmt und zugleich damit neue Wege weist. Probleme! Wieviele birgt das Leben! Man muß sie nur ~sehen~! Der Romandichter stößt auf Probleme, sobald er in die Tiefe gräbt. Die Heimatskunst, die naturalistische Betrachtungsweise vertiefen sich, wenn sie an den Problemen nicht vorübergehen. Freilich -- dazu gehören Gedanken. Wir wünschen und fordern vom Gros der deutschen Romanschreiber vor allem dies: Mehr Gedanken! Mehr große Gedanken hinein in den deutschen Roman! Dekadence. Symbolismus. Tendenzroman. Die Hauptlinien in der Entwicklung des modernen deutschen Romans sind durchmustert. Nur die Hauptlinien; obschon es leicht gewesen wäre, mit größerer Bequemlichkeit und strengerer Präzision viel zahlreichere kleine Ordnungen zu bilden. Aber es schien für eine gedrängte Darstellung wichtiger, bestimmte entscheidende Linien zu verfolgen, als alles Einzelne zu nüancieren. Aber wenn unsere Skizzen wirklich bis an die Gegenwart heranreichen wollen, so müssen einige Richtungen der modernsten Erzählerkunst noch kurz besprochen werden, die etwa im letzten Jahrzehnt viel Redens von sich gemacht haben. Es gibt seit langem eine Strömung in der deutschen Prosaliteratur, welche ihren Schöpfungen vor allem, sogar mit einer gewissen Ausschließlichkeit Gegenstände von dekadentem Charakter gibt. Mit dem Naturalismus selbst hat diese Strömung keineswegs notwendige Verbindung; ja der Naturalismus, der das Interesse auf Umgebung, soziale Verhältnisse, Abhängigkeit des Individuums von äußeren Einflüssen lenkte, hat zum Teil geradezu gegen diese Strömung angekämpft. Das hindert freilich nicht, daß zwischen dem outrierten, auf die Spitze getriebenen Naturalismus, den wir schon bei Johannes ~Schlaf~ fanden, und der neuesten Phase dieser Verfallsdichtung mancherlei Beziehungen bestehen. Man läßt das Milieu beiseit; die ~Seele~ soll ihr Recht haben. Aber nicht die Seele im alten, guten Sinne des Wortes, -- sagen wir: die gesunde Seele, sondern die überreizte, übernervöse, auf die feinsten Einflüsse reagierende Seele, die Seele, in der alles Empfindung ist, alles Individualität, -- sagen wir: die kranke Seele. Es hat gewiß manchen dieser Dichter ein ernstes und großes Streben beseelt; geißeln wollte er, was er sah und was er schilderte. Freilich, nicht von allen gilt das. Es scheint manch einer sehr gern in dem Sumpfe zu plätschern, in den er seine Leser hineinschauen läßt. Denn schließlich bildet der Sumpf den Inhalt dieser Romane und Novellen. Das Abnorme, das Verkommene, das ungesund Erotische wird geschildert. Und selbst die Form entspricht dem Verfallscharakter des Inhalts: keine Ruhe mehr und keine Tiefe; es geht von Skizze zu Skizze. Pointen müssen sich jagen. Vieles muß der Leser erraten. Ein paar Striche machen ein Bild. Nur nicht breit, nur nicht langweilig; am besten überhaupt nur Skizzen mit recht kurzen Sätzen -- mit grellen Lichtern -- mit Witz und Satire. Viel Geist, viel Witz, viel Satire. Aber alles Kaviar, gar keine nahrhafte, gesunde Kost! Fürchten Sie nicht, daß ich zu tief in dieses Gebiet des Verfalls hinabsteige! Aber ein wenig genauer muß ich es charakterisieren, um mein Urteil zu begründen. Ich wähle zunächst eine Sammlung von Heinz ~Tovote~, welche den Titel führt: »Ich. Nervöse Novellen«. Sie erschien 1892 und erlebte 1900 die 12. Auflage. Es sind durchgehends Geschichten äußerst nervös beanlagter Naturen, alle ganz kurz, allerhöchstes einmal eine dreißig Seiten lang. Was für Sujets in diesem Band! Da erzählt einer die phantastischen Gedanken einer schlaflosen Nacht, in der er beständig auf die draußen fallenden Regentropfen hören muß. Wir müssen sie mithören und mitzählen: Tipp .. 1 .. 2 .. 3 .. 4 .. 5 .. tipp 1 .... und so weiter. Und wir müssen alle seine unklaren Gedanken mitdenken (denn er erzählt selbst, daß er zu keinem klaren Gedanken kam!), bis er endlich, endlich einschläft. -- Da ist ein andrer, der leidet an dem immer wieder plötzlich auftauchenden unsinnigen Gedanken, daß er unter lauter Toten weile. Im Manöver packt ihn die Vorstellung, auf Wache des Nachts, -- und sonst in allen möglichen Situationen. Bis er endlich davon geheilt wird -- dadurch, daß eine in momentaner unsinniger Angst totgeglaubte Person -- zu schnarchen anfängt. Und dazu dann allerhand Situationen aus dem Liebesleben, alles sonderbare, abnorme Situationen. Nichts Frisches! nichts Gesundes! Nervöse Novellen! -- Oder ein Buch wie ~Bierbaums~ »~Stilpe~«. Ein frühreifer, witziger und begabter Mensch verkommt durch völlige Zügellosigkeit. Er wird endlich Komiker in einem Café chantant und führt dort eine Szene auf, mit der er das Publikum begeistert: er imitiert den Selbstmord. Den Kopf in der Schlinge, nickt er immer wieder zum Dank für den brausenden Beifall. Der Schluß besteht darin, daß er den Scherz zum Ernst werden läßt. Abscheulich! Ganz abscheulich! Was diesem Schlusse vorangeht, ist aber nicht viel besser: -- wüste Szenen, tollgewordener Humor, Lumperei und Laster, vermischt mit Satire und Komik. Verfall! Sumpf! Bierbaum gibt sich zuweilen bei dieser Schilderung das Ansehen des Moralisten. Und wahrlich -- das Ende dieses Lebens ~muß~ moralisch wirken. Aber trotzdem ist das Ganze zu toll, um ernst genommen werden zu können. Weiteres sei hier nicht genannt. Es ist ~nicht~ die Pflicht eines jeden, sich durch diese Wüste durchzuarbeiten. Die Dichtkunst liegt in Nervenzuckungen. Wer sieht das gern mit an? Nur daß man leider wissen muß, daß diese Zuckungen ansteckend gewirkt haben .... Ganze Zeitschriften pflegen das Genre dieser Art Skizze. Sie tragen den Ruhm, modern zu sein, ja zu den modernsten zu gehören. Aber man kann mit seiner Zeit mitgehen, ohne ihre Unarten und Frechheiten mitzumachen! Neben diese nervöse Verfallsliteratur tritt nun noch diejenige des gleichfalls modernen ~Symbolismus~. Eigentlich nicht ~neben~ sie; großenteils wirkt der Symbolismus auf dem Hintergrund dieser modern-nervösen Skizzenliteratur. Sein Wesen bedingt das allerdings nicht. Was ist Symbolismus? Die Kunst, Symbole zu schaffen und durch Symbole zu wirken. Es ist eine Art Gleichniskunst; nur daß das Gleichnis hier -- je nach den Umständen -- bis zum Umfang einer ganzen, völlig ausgeführten Handlung anwachsen kann. Solcher Symbolismus findet sich, wie bereits erwähnt, schon in Roseggers »Gottsucher«. Die Vorgänge im Trawieser Tal, die dort beschrieben sind, bleiben zwar aufs engste mit der Wirklichkeit verwoben; alle jene Ereignisse, welche schließlich zur Ermordung des Pfarrers führen, sind realistisch gedacht und gezeichnet; sie sind auch durchaus möglich und wahr. Auch im zweiten Teil wird die Verbindung mit dem Geschichtlich-Denkbaren durchaus aufrechterhalten. Dennoch zeigt sich hier deutlicher der überwiegend symbolische Charakter der Handlung, der in der durch den Schreiner Wahnfred eingeführten Feueranbetung und in der Sühne des Frevels durch Vernichtung alles Lebendigen seinen Gipfel erreicht. -- In der Verbindung mit ausgeprägtem Naturalismus tritt der Symbolismus auf in dem gleichfalls schon besprochenen Werk Kretzers »~Das Gesicht Christi~«. Christus erscheint! »In der Dämmerung des Abends, die geheimnisvoll die Fäden des Nachtschleiers zu spinnen begann, wand sich die Erscheinung unhörbar durch die Menge, sichtbar nur denen, die in dieser Welt des absterbenden Glaubens den Hunger der Seele über den des Leibes stellten.« So sehen ihn die Kinder des Arbeiters Andorf, scheu und ängstlich, in den großen weitaufgerissenen Augen jenes starrselige Entsetzen, das der Anblick eines süßen Wunders hervorzaubert. So sieht ihn Andorf selbst, mitten in seiner Not, in der Not, die so groß ist, daß er nicht einmal seinen Kindern satt zu essen geben kann. Mitten auf der Straße sieht er ihn: »Siehst du ihn nicht, wie er durch die Menge schreitet? Sein Gesicht und sein Haar leuchten, er trägt ein schneeweißes Gewand und alle weichen ihm aus.« Er sieht ihn im Rahmen der Tür der vollgepreßten, dunsterfüllten Kneipe: -- »er durchleuchtet die Luft mit seinem Haupte. Seine großen Augen sind fest auf dich gerichtet«. Er sieht die Erscheinung, wie er im ärmlichen Zimmer am Totenlager seines Kindes gewacht hat. Die Leute auf der Straße sehen sie, wie er seines Kindes Sarg zum Friedhof fährt .... Es sehen sie auch der Konsistorialrat und sein Küster, wie sie mit Andorf über die Kosten der Beerdigung verhandeln. Es sieht sie der Fabrikbesitzer, wie er eine seiner Arbeiterinnen brutal zur Sünde verführen will ... Was soll diese Christuserscheinung, die dem Armen wie dem Reichen begegnet? Soll sie nicht die Wirksamkeit symbolisieren, welche die Religion trotz allem und allem übt? Übt in der ärmsten, elendesten Arbeiterseele als Mittel des Trostes und der Hoffnung? Übt in dem Herzen des Harten und Grausamen, übt in dem Bewußtsein des frechsten Frevlers in der Stunde, da er den größten Frevel begehen will? Das soll sie darstellen, wie Christus die Welt begleitet als das Gewissen der Gesellschaft, die sein Wort im Munde führt, ohne es zu üben. Man kann sehr darüber streiten, inwieweit die Verschmelzung von Naturalismus und Symbolismus in diesem Werk geglückt ist. Ich finde nicht nur den Naturalismus in der Verführungsszene allzu kraß, sondern auch den Symbolismus der Christusvision allzu stark aufgetragen, allzu theatralisch. Aber das Eine ist gewiß: ~diese~ Art von Symbolismus, am rechten Objekt in rechtem Maß angewandt, gehört durchaus zu den wirksamen Darstellungsmitteln. Zur symbolistischen Richtung wird von manchen auch ein Werk wie ~Wilhelm Bölsches~ »~Die Mittagsgöttin~, Roman aus dem Geisteskampfe der Gegenwart«, gerechnet (1891 erschienen). Es handelt sich in ihm vornehmlich um den Spiritismus. Ein von der Naturwissenschaft gänzlich erfüllter junger Journalist wird in spiritistische Kreise hineingezogen. Erst wirkt er bei der Entlarvung eines betrügerischen Mediums mit; dann wird er durch eine Erscheinung des »zweiten Gesichts« selbst bekehrt und weilt im Spreewald im Schlosse eines spiritistischen Grafen, wie dieser von der prädominierenden Kraft des Mediums Lilly Jackson, mit dem sie ihre Sitzungen abhalten, fest überzeugt. Endlich stellt sich allerdings heraus, daß auch dies Medium betrogen hat. Der zum Spiritismus Bekehrte ist wieder geheilt. -- Der Gang der Erzählung ist keineswegs besonders kunstvoll; Reiz geben ihr eigentlich nur die spiritistischen Sitzungen -- und das ist Nervenreiz. Aber die Form der Darstellung wie insbesondere der Schilderungen des Spreewalds ragen weit über das Durchschnittliche hinaus. Trotzdem gibt die Handlung selbst dem Buche den tieferen Wert, wennschon nicht durch die Widerlegung des Spiritismus. »Die Helden dieser wunderlichen Geschichte« -- so schreibt der Verfasser selbst im Vorwort zur zweiten Auflage 1901 -- »suchen mit einem ungeheuren Aufwand ein Geheimnisvolles ~hinter~ den Dingen. Aber sie erfahren dabei etwas von dem Los des alten Bibelhelden, der auf der Suche nach Eselinnen eine Königskrone fand. Sie stoßen auf die viel wunderbareren, viel geheimnisreicheren Imponderabilien in den Dingen, -- auf die Wunder sinkender, steigender, sich entwickelnder Menschenseelen, auf die unergründlich tiefen Geheimnisse, die in jedem Schicksal eines Menschen überhaupt liegen.« So ist das Buch ein Feldzug in solche schlichten Seelenprobleme hinein, die immer wieder das größte aller Wunder enthalten. So ist jede Einzelgestalt desselben ein Symbol für menschliches Ringen nach Durchdringung all der Dunkelheiten; so ist die Geschichte im ganzen ein Zeugnis dafür, daß dieses Ringen und Sehnen in unserer Zeit lebendig ist, daß der Geist des Philistertums, das nur banale Alltäglichkeit sieht, wo das ewig neu Rätselschwangere herrscht, auch den tieferen Geistern des jungen Deutschlands von heute verhaßt ist. Es geht wie in der wendischen Sage von Pschipolniza, der Mittagsgöttin. Wenn um die Mittagsstunde die glühend heiße Sonne brennt, naht sich dem habgierigen Bauern eine weiße Gestalt, ein wundersames Weib mit tiefblauem Kornblumenkranz, eine goldene Sichel in der Hand: Pschipolniza, die Göttin der Mittagsstille. Sie legt ihm Fragen über sein Werk vor, und wenn er nicht antworten kann, haucht sie ihn an, daß er krank wird, oder würgt ihn zu Tode. Wir mühen uns alle, mit der sengenden Zenithsonne auf dem Scheitel, im wahren Mittag der Menschheit. Da naht uns die Wissenschaft als verschleiertes Bild und stellt die Frage nach Leben und Tod. Freilich -- wie dann weiter? Ist sie in Wahrheit ein grausames Gespenst, das dem Ermattenden, Lechzenden den Hals umdreht, statt ihn zu erquicken? Oder wird sie, wenn man die rechte Antwort gibt, zur schönen, sanften Flurgöttin, die unsere Arbeit segnet? Die Meinung ist jedenfalls die: wer sich abmüht im Ringen nach falscher Erkenntnis, um die Gespenster verborgener Überwelt, dem bringt sein Mühen lastendes Leid. Wer aber die lebendig wandelnden Gespenster ergründen will, die Gespenster der Not, der Unterdrückung, der moralischen Finsternis, der ist auf dem rechten Weg. Auf einzelnes -- Vorzüge wie Schwächen des Werks -- einzugehen, ist hier nicht der Ort. Und ebensowenig ist es möglich, die Gesamterscheinung des Symbolismus an dieser Stelle bis in ihre Einzelverzweigungen zu verfolgen. Der Symbolismus hat ja sein eigentlichstes Wirkungsgebiet auch keineswegs in der Prosaerzählung gesucht; sein gefeiertster Vertreter Richard Dehmel steht diesem Gebiet fern. Die lyrische und dramatische Dichtung, erstere noch viel stärker als letztere, wissen ganz anders von seinem Einflusse zu zeugen. Auch die Einflüsse, welche diese ganze Richtung mitgeschaffen haben, stehen außerhalb des Gebiets der erzählenden Dichtung; muß man doch Nietzsche besonders in seinem »Also sprach Zarathustra« und neben ihm Ibsen in seinen Dramen als diejenigen bezeichnen, von welchen die Symbolisten am meisten gelernt haben. Es fragt sich, ob man das Urteil, welches gefällt worden ist, voll unterschreiben muß, -- daß nämlich der Symbolismus auf dem Gebiet der erzählenden Literatur durchweg nur ungünstig wirken ~konnte~. Aber das steht doch ganz fest, daß die scharfe Wirklichkeitserfassung, wie sie dem Roman eigen sein muß, die Aufgabe, ein Weltbild zu zeichnen, eine Verwendung des Symbolismus im Roman auf ein sehr bescheidenes Maß zurückführen muß. Und ohne die rein symbolistischen erzählenden Stücke, von welchen das gilt, hier näher aufzählen zu wollen, darf man auch das andere hinzufügen: viele von ihnen machen einen unklaren, völlig undeutlichen Eindruck und fallen aus der Aufgabe des Romans stärker heraus, als es die Schöpfungen von Novalis und Eichendorff taten. Die Überwindung des Naturalismus wurde schon Anfang der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts als vollzogen verkündigt. Für unser Gebiet ist er vom Symbolismus ~nicht~ überwunden. Er blüht nach wie vor, freilich vorwiegend in jenem feiner nüancierten, stimmungsmäßig psychologischen, eigentlich impressionistischen Naturalismus seiner späteren Vertreter. Und viel stärker als der Symbolismus ist die vorhin knapp skizzierte Richtung geworden, jene kurz als Dekadence zu bezeichnende Liebhaberei für heikle Themata, für sinnliche Situationen, für das moderne Leben der Kreise, welche von solider Arbeit wie gesunder Lebensführung gleich weit entfernt sind. So ist die Lage überhaupt nicht aufzufassen, als ob nun ~eine~ Richtung jederzeit für die vorhergehende geradezu die Ablösung bedeutete. Naturalismus, Dekadence, Symbolismus bestehen nebeneinander, miteinander, ineinander. Und außerdem zählen wir zahlreiche neuere Werke, die ganz andere Typen vertreten. Nicht eine spezifisch neue Erscheinung, aber doch auch in der Neuzeit reichlich angebaut ist der sensationelle ~Tendenzroman~. Wir haben aus jüngster Zeit -- freilich schon aus dem zwanzigsten Jahrhundert -- zwei charakteristische Stücke dieser Gattung erhalten. Den Tendenzroman auf der niedrigsten Stufe stellt ~Bilses~ »~Aus einer kleinen Garnison~« dar. Man mag sagen, was man will, über ideale Absichten des Verfassers; ich will es alles glauben. Man kann getrost annehmen, daß ihm der Beweis völlig geglückt ist, daß in einer kleinen Garnison die Verhältnisse genau so gelegen haben, wie sein Roman sie zeichnet. Dennoch bleibt der Unterschied zwischen einem Roman, der allerhand anfechtbare Persönlichkeiten so zeichnet, daß jeder mit Fingern auf sie weist, und zwischen einem ausgeführten Pamphlet verzweifelt gering. Die Mittel der Zeichnung, welche Bilse gewählt hat, beweisen entweder, daß er unmittelbar bestimmte Menschen hat angreifen wollen, oder daß ihm die Kunst zu einer im höheren Sinne typischen Darstellung völlig gefehlt hat. Höher steht ~Beyerleins~ »~Jena oder Sedan?~«. Allerdings hat auch dies Buch, als ein Stück Weltbild betrachtet, ganz erhebliche Schwächen. Die Hauptschwäche besteht darin, daß es sensationelle Ereignisse in einer Weise häuft, welche von der Wirklichkeit weit abliegt. Es ist für den Leser geradezu beängstigend, daß fast keine der vorkommenden Personen, für welche sein Interesse wachgerufen wird, heil und ganz aus der Militärzeit herauskommt. Die Vorliebe, mit welcher Beyerlein die traurige Wendung im letzten Augenblick, kurz vor der endgültigen Rückkehr in den Zivilstand oder kurz vor Eintreten eines wünschenswerten Ereignisses, herbeiführt, ist beinahe stereotypiert. Der eine stirbt, der andere kommt auf Festung und wird beim Fluchtversuch erschossen, der dritte vergißt sich, entflieht aber, der vierte wird eingesperrt und durchlebt eine furchtbare Haftzeit -- und so geht es weiter. Auch von diesem Ungeschick ganz abgesehen, ist der Roman keine Glanzleistung. Die eine Grundidee, um derer willen er geschrieben ist, die zu starke Betonung überflüssigen Drills in der Armee ist fast lediglich gesprächsweise ausgeführt. Die hierher gehörigen Partien bilden eine Art militärtechnischen Aufsatz in Gesprächsform; für die Handlung selbst sind sie Ballast, nichts als Ballast. Aber anderseits verfügt der Verfasser über eine nicht unbeträchtliche realistische Begabung, die anzuerkennen ist, wennschon seine Zeichnung manchmal über das Ziel hinausschießt. Die hier eben genannten Romane repräsentieren einen Typus, der für unsere Zeit sicher charakteristisch ist. Ein Fortschritt für die erzählende Literatur ist von hier aus freilich nicht zu erwarten. Und so muß es für uns ein Gegenstand aufrichtiger Freude sein, daß wir heutzutage nicht allein auf diese Schöpfungen angewiesen sind. Denn auch alle die früherhin angeführten Richtungen haben in der letzten Zeit ihre Geltungskraft behalten. Der historische Roman ist allerdings zurückgetreten, immerhin darf z. B. ~Sperls~ »~Die Söhne des Herrn Budiwoi~« mit Ehren genannt werden. Die Schöpfungen der Heimatskunst wurden schon erwähnt; aber es muß hier ausdrücklich erwähnt werden, daß diese Richtung, die den Realismus, ja den Naturalismus in gesunden Grenzen sich zu nutze macht, dabei jede Übertreibung meidet und dem Leser das Gefühl kernig frischen Volkstums vermittelt, keineswegs zu den überholten gehört. Sie ist das eigentliche Gegenbild zur verlebten Art eines ~Tovote~, ~Bierbaum~, ~Schlaf~. Sie hat Mark in den Knochen, festen Boden unter den Füßen, sie saugt Nahrung aus der Scholle. Gerade von dieser Richtung her können wir noch manches Gute erhoffen. Auch ~Frenssen~, der augenblicklich noch nicht durch eine andere Größe abgelöst ist, hat hier die Wurzeln seiner Kraft. Ihm aber danken wir, wie früher gezeigt, zugleich, daß auch die gesunde Psychologie und die ruhig wägende Lebensweisheit sich wieder einen Platz im Roman errungen haben. Frenssen zeichnet die Landnatur derb und ungekünstelt. Damit repräsentiert er gegenüber den verlebten Gestalten der Berliner Dirnenromane oder den impressionistischen Skizzen aus der Bohême geradezu die Gesundheit gegenüber der Krankheit. Er ist aber auch nicht Bloß-Naturalist; er weist dem suchenden Geschlecht den richtigen Weg. Die Stellung auch zu diesem Roman ist recht verschieden je nach der Stellung zu Frenssens Weltanschauung. Aber so gewiß diejenigen, welche Gottfried ~Kellers~ oder Paul ~Heyses~ Weltanschauung gar nicht teilen, diesen ein gerechtes Urteil widmen müssen, so gewiß kann auch Frenssen verlangen, daß die Gegner seiner Weltanschauung doch den literarischen Wert seiner Romane unbefangen beurteilen. In dieser Hinsicht ist auf zwei Seiten gesündigt worden. Den einen ist er zu christlich; und weil das Christentum ihnen das rote Tuch ist, bei dessen Anblick sie die ruhige Fassung verlieren, so vermögen sie der feinen Kunst des Dichters nicht mehr gerecht zu werden. Den anderen aber -- und leider gehörten dazu manche frühere Berufsgenossen des Dichters -- war er nicht christlich genug, weil sie von ihm, dem Pastor, meinten eine ausgeführte Dogmatik verlangen zu müssen. Die Urteile über »Jörn Uhl« von diesen beiden extremen Seiten her sind ja aber glücklicherweise völlig aufgewogen worden durch die Aufnahme des Buchs im großen Publikum. Gewiß ist es keineswegs hundertundfünfzig Mal so viel wert als manch anderes Buch, das nicht hundertundfünfzig, sondern nur eine Auflage erlebt hat. Aber es bleibt eins der erfreulichsten Unterpfänder dafür, daß frische, kraftvoll gesunde Dichtung mit nüchtern realistischer Grundlage, aber mit tief idealistischem Sinn auch heut noch bei den deutschen Dichtern nicht ausgestorben ist und beim deutschen Volk nicht in Mißkredit gekommen ist. Auf die Gefahr hin, ungerecht gegen andere Romane zu werden, die ich nicht nennen kann, möchte ich doch noch einen aus der Zahl der modernsten nennen: Thomas ~Manns~ »~Buddenbrooks~«. Und zwar geschieht das aus einem ganz bestimmten Grund. Der Roman ist der schlagende Beweis dafür, daß der Naturalismus sich nicht entfernt überwunden fühlt, daß wir im Gegenteil vielleicht noch viel von ihm zu erwarten haben. »Buddenbrooks« bedeuten eine detaillierte, bis ins Einzelne peinlich genaue Schilderung des Lebens einer großen lübeckischen Kaufmannsfamilie durch mehrere Generationen im neunzehnten Jahrhundert hindurch. Mit diesem Hauptgegenstande sind minder ausführliche, aber immer noch sehr gründliche Beschreibungen angrenzender Verhältnisse verbunden. Neben der einen Großkaufmannsfamilie stehen andere, -- und jede von besonderem Schlag. Neben den Kaufmannsfamilien stehen die anderen Honoratiorenfamilien, -- allerdings fast nur solche. Nicht die Handlung ist es, die dem Roman Bedeutung gibt; immerhin ist sie im ganzen wirksam aufgebaut, wennschon man wegen des Schlusses mit dem Dichter rechten kann und wennschon manche übermäßige Breite etwas mühsam überwunden werden muß. Aber, wie gesagt, nicht die Handlung ist das Bedeutsame, sondern die Art der Milieuschilderung. Die »Buddenbrooks« sind vielleicht ~dasjenige deutsche Romanwerk, welches am nachhaltigsten durch Emil Zola beeinflußt ist~. Thomas Mann läßt nichts außer Ansatz: keine Geste, keine noch so kleine Gewohnheit, keine der kleinen charakteristischen Redewendungen, wie sie jeder Mensch sich angewöhnt, -- desgleichen nicht die scheinbar äußerlichen Umstände, die doch so wesentlich sind: die Art, sich zu kleiden, sich Haus und Zimmer einzurichten, sich mit dem Geldpunkt abzufinden, und tausend andere Dinge mehr. Die Beschreibung ist viel genauer, viel detaillierter als z. B. bei Kretzer. Sie kann ebenso unerbittlich sein wie die Zolas in der Zeichnung auch abschreckender Bilder: erinnert sei nur an die Sterbeszene der alten Konsulin Buddenbrook und an den Abschnitt, welcher den Typhus behandelt. Doch wühlt Thomas Mann längst nicht so emsig in den dunkelsten Gebieten des Menschenlebens wie Zola; jene abschreckenden Bilder sind im Verhältnis zum Ganzen selten. Dafür fehlt ihm aber auch jene absolut nüchterne Wahrheitsruhe, die Zola hat; er neigt viel mehr zur Karikatur, zur beißenden Satire. Endlich -- um noch einen Unterschied hervorzuheben -- ist Thomas Mann ein minder pathetischer, weniger deklamatorischer Beschreiber, als Zola besonders in manchen seiner letzten Werke gewesen ist. Wie man aber auch im einzelnen das Verhältnis dieses Romans zu Zola beurteile, -- in jedem Fall ist die Methode der Kleinmalerei in ~dieser~ Art für den deutschen Roman trotz Kretzer und Fontane noch nicht endgültig ausgebeutet. Kretzer geht trotz allem mehr ins Große; und Fontanes Plauderton sticht von dem naturalistischen Ernst dieses Buches erheblich ab. Man kann dreist vermuten, daß die Anwendung der gleichen Methode auf andere Lebensverhältnisse nicht auf sich warten lassen wird. Nun ist solcher Roman gewiß nicht das volle Ideal eines Romans; aber den Wert eines treffend gemalten Weltbilds besitzt er gewiß. Er steht darum auch seinerseits hoch über den nervösen und verlebten Skizzen der sogenannten »Moderne«. Rückblick. Aber es ist an der Zeit, daß wir den Überblick über die mannigfach gestaltete Gegenwartssituation auf dem Gebiet des Romans abbrechen. Nur Einiges, nur Bedeutenderes ist erwähnt worden. Nur das, was für die Skizzierung der Gesamtentwicklung von Bedeutung zu sein schien. Von Goethe sind wir ausgegangen. Er muß uns als der Schöpfer des modernen deutschen Romans gelten. Ich erinnere kurz an die drei Gesichtspunkte, nach denen diese Bedeutung Goethes skizziert wurde: die psychologische Tiefe, die Art, wie seine Romane zum Zeitbild werden, und die engste Verbindung von Handlung und Gedanke, in alledem aber die unbestrittene Kraft der Wirklichkeitserfassung. Wie hat Goethe mit dieser seiner Kunst gewirkt? Wenn man von der Romantik absieht, so darf man das Urteil wagen, daß die gesamte Geschichte des deutschen Romans im 19. Jahrhundert eine Geschichte der Verarbeitung der von Goethe herstammenden Anregungen gewesen ist. Über dieser gesamten Geschichte steht das Wort »Wirklichkeit« geschrieben. Wie war noch bei Wieland der beste Roman nichts als eine äußerliche Verkleidung moralischer Gedanken! Das ist nun anders geworden, fast mit einem Schlage anders. Vorüber die sentimentale Schwärmerei, vorüber die Zeit der moralischen Erzählung ohne eigenen Wert des Erzählten! Der Roman sieht die Welt, wie sie ist, und zeichnet die Welt, wie sie ist. Anfänglich ist ihm freilich die Wirklichkeitszeichnung noch nicht das letzte Ziel. Vielmehr gliedert man sie ein in die Darlegung der eigenen Tendenzen. Man will die Ursprünglichkeit der ländlichen Natur gegenüber städtischer Verbildung schildern -- so Immermann, so Auerbach; man will am Bestehenden Kritik üben, es zu bessern, -- so im politisch-religiös-moralischen Gebiet die Zeitromane der Jungdeutschen, so vom Standpunkt des Volkserziehers ein Jeremias Gotthelf, -- so in der Weise des erfahrenen und klugen Mannes, der anderen des eigenen Irrens Früchte auf allen Gebieten menschlichen Lebens vermitteln will, Gottfried Keller; -- so mit der Absicht, an der Darstellung der Wirklichkeit die eigenen politischen und religiös-sittlichen Anschauungen zur Geltung zu bringen, Friedrich Spielhagen. Diese erste große Epoche kann man also kurz als die ~Zeit der Darstellung der Wirklichkeit im Dienste bestimmter Absichten~ bezeichnen. Ihr folgte eine zweite große Periode, in welcher ~die Darstellung der Wirklichkeit selbst, ohne Einmischung von Nebenzwecken, als letztes Ziel~ galt. Man darf diese Periode gewiß mit dem Aufblühen des historischen Romans eröffnen. Leichter war es ja, in der Vergangenheit untendenziös zu bleiben als wenn man mitten aus der Gegenwart heraus seinen Stoff nahm. Der kulturgeschichtliche Roman beansprucht in diesem Zusammenhang eine gewichtige Stelle. Aber nicht der geschichtliche Roman allein suchte die Wirklichkeit als Wirklichkeit zu schildern. Schon bei Freytags »Soll und Haben« tritt in der Gegenwartszeichnung die Tendenz in den Hintergrund. Und dann beginnt diejenige Strömung, welche nichts geben will als Photographien, die lediglich schildernde Erzählung. Zu ihr kann man manches von den Werken des sog. Naturalismus rechnen -- wenngleich auch hier die Kunst, das Wirkliche zu sehen, noch keineswegs zur Vollkommenheit ausgebildet ist --, zu ihr aber auch vieles, was weniger naturalistisch als realistisch ist, so z. B. manche Sachen von Fontane. Diese Strömung ist, wenn schon ihre Überwindung bereits ziemlich energisch verkündet worden ist, noch keineswegs überwunden. ~Zu dritt~ stelle ich neben diese beiden großen Entwicklungsgänge, die einander übrigens auch nicht geradezu abgelöst haben, zu einer Gruppe gesellt, eine Reihe von anderen Erscheinungen. Ihre gemeinsamen Charakteristika sind: erstens: die Darstellung der Wirklichkeit ist ihnen nicht Selbstzweck. Darin harmonieren sie mit Gruppe +I+. Aber anderseits, zweitens, haben sie nicht in dem Grad wie Gruppe +I+ ein enges Verhältnis zu der Zeit, in der sie stehen. Ihnen ist die Hauptsache Stimmung oder Gedanke; die Wirklichkeit, welche sie darum doch wahr genug erfassen, ist ihnen lediglich der Stoff zur Entwicklung von beidem. Wenn nicht das lyrische Moment vorwiegt, so ist es das Problem, welches sie durchzuführen suchen. Endlich könnten wir eine ~vierte~ Gruppe bilden aus denjenigen Erzählungen, welchen gleichfalls (wie der Gruppe +I+) die Tendenz fehlt, welchen ebenso wie der Gruppe +II+ die Wirklichkeitsschilderung nicht der oberste Zweck ist, welche aber auch nicht wie Gruppe +III+ Stimmung oder Problem an dem Stoff der Wirklichkeit sich entfalten lassen, sondern einfach durch die äußere Verknüpfung von Ereignissen mit mehr oder minder energischer Benützung des Psychologischen zu wirken suchen. Hierher gehört auch der normale Unterhaltungsroman. Gemessen an der großen Aufgabe des Romans, ein Weltbild zu geben, haben die Erscheinungen dieser Gruppen nicht alle gleichen Wert. Die ~letzte~ hat jedenfalls den geringsten; denn je mehr sie sich auf das äußere Geschehen konzentriert, um so mehr verzichtet sie auf Tiefe des Gedankens, ja Tiefe des Blicks. Sie kann einzelne feine Bemerkungen ermöglichen; sie kann das Gemüt ein wenig affizieren; sie kann die Nerven spannen. Aber diese Gruppe mit ihren zahlreichen Schöpfungen entbehrt des tieferen Gehalts. Was könnte daran zum Nachdenken anregen? Was unseren Blick für die Zustände der Welt schärfen? Was unseren Gesichtskreis erweitern? Eins nur kann diese Art Romane: unterhalten. Im besten Fall ist diese Unterhaltung anregend, im schlimmsten aufregend. Wer hat nicht einmal eine Stunde, in welcher er nichts will als eben nur unterhalten werden? Aber es scheint Menschen zu geben, welche den Roman zu nichts anderem als zum Unterhaltungsmittel gebrauchen. Ja, ich gestehe, daß in mir schon oft der furchtbare Verdacht aufgestiegen ist, daß weitaus die meisten Romanleser ihn so und nicht anders benützen. Da kann es dann kommen, daß Herr Soundso in die Leihbibliothek schickt und um irgend ein Buch bitten läßt; -- ~welches~ Buch ihm geschickt wird, ist ihm ganz gleich. Diese Art Romane sind Schiffen mit ganz geringem Tiefgang zu vergleichen, Schiffen, die eben darum an jeder Küste anlegen können, -- aber für die Fahrt aufs hohe Meer sind sie völlig unbrauchbar. Wer sich selber zum flachen, sandigen Strand machen will, der lasse diese Schiffe ohne Tiefgang kommen! Der meide die Gedankenanstrengung bei tieferer Lektüre! Der erkläre nur, daß er Romane nicht liest, um denken zu müssen! Der genieße die Zeitungsromane von Fortsetzung zu Fortsetzung! (Übrigens bieten manche Zeitungen, wie besonders die »Tägliche Rundschau«, meist ~nicht~ derartigen, sondern besseren Stoff.) Wie steht es nun aber um die drei anderen Gruppen und um ihr Verhältnis zur Aufgabe des Romans? Unfraglich entspricht ihr am klarsten die ~zweite~ Gruppe: Wirklichkeitsbild ohne Nebenabsichten. Wir freuen uns, daß diese Gruppe im deutschen Roman des neunzehnten Jahrhunderts so stark vertreten ist. Allerdings ist gleichzeitig zu bemerken, daß gerade in dieser Gruppe sich die starke Neigung zu Übertreibungen herausgebildet hat. Wir müssen verlangen, daß man uns als Wirklichkeit nicht bloß die Welt der Lebemänner, nicht bloß das Leben mit überreizten Nerven schildert. Wir müssen erwarten, daß man nicht bloß das Abstoßende und Ungesunde hervorzieht. Die Welt zu abscheulich zu malen, ist ein genau so großer Fehler wie der, sie zu licht zu malen. Das neunzehnte Jahrhundert hat hier die Aufgabe richtig erkannt, auch vielfach richtig angefaßt, aber es hat hier nicht die Extreme zu vermeiden gewußt. Die Losung »Naturalismus« mag getrost bleiben! Aber man vergesse nicht, daß »Naturalismus« von »Natur« herkommt! Es bleiben die ~erste~ und die ~dritte~ Gruppe. Die erste kommt der eigentlichen Aufgabe des Romans vielfach ganz nahe. Es ist, von dieser Aufgabe aus betrachtet, durchaus ~nichts~ gegen die Geltendmachung einer bestimmten ~Tendenz~ gegenüber der geschilderten Zeit einzuwenden. Warum soll der Dichter nicht gleichzeitig zeichnen und das Gezeichnete beurteilen? Er verändert damit seine Aufgabe nicht; er fügt nur noch hinzu, was gleichfalls wertvoll sein kann: sein Urteil, seine Kritik. Erst dann beginnen die Schöpfungen dieser Romangruppe minder wertvoll zu werden, wenn unter der Tendenz die klare Erfassung der Wirklichkeit gelitten hat. Das ~kann~ auch den Dichtern passieren, die nichts wollen als die Welt zeichnen, wie sie ist. Ist doch jeder in der Gefahr, die Dinge allzusehr durch die eigene Brille zu sehen. Aber noch mehr in dieser Gefahr ist derjenige, welcher nur zeichnet, um seine Ansichten und Absichten klarzulegen. Solange im Tendenzroman die Zeit, die Wirklichkeit stärker ist als die Tendenz, so lange steht er auf der Höhe seiner Aufgabe. Er irrt erst dann ab, wenn die Tendenz stärker wird als die Wirklichkeit. Weniger als Gruppe +I+ und +II+ scheint Gruppe +III+ der von uns festgestellten Aufgabe des Romans zu entsprechen. Wo die lyrische Stimmung das beherrschende Element ist, kann ein Weltbild in scharfen Umrissen viel schwerer erwachsen. Dennoch ist es auch hier möglich; das zeigt besonders die wunderbare Vereinigung klarster Realistik mit feinster dichterischer Stimmung, welche Rosegger z. B. in den »Schriften des Waldschulmeisters« bietet. Das zeigt aber auch ein Werk wie Raabes »Hungerpastor«. Hat man doch dies Buch geradezu unter die Zahl der Zeitromane einreihen können! Weniger eng ist die Beziehung zur wirklichen Welt natürlich da, wo die lyrische Stimmung noch stärker herrschend wird, wie bei Storm oder in Raabes »Chronik der Sperlingsgasse«. Aber wer wäre so engherzig, diesen Dichtungen darum, weil sie vom eigentlichen Romancharakter abweichen, das Existenzrecht abzusprechen? Auch sie geben Wirklichkeit; auch sie zeichnen Menschen, wie sie sind. Vielleicht nur mit wenigen Strichen, vielleicht mehr mit Licht und Schatten als in scharfem Umriß, vielleicht nur in einzelnen Situationen. Aber sie zeichnen sie: die Stimmungswelt ist auch wirkliche Welt! Wenn der Stimmungsdichter nur Realist bleibt, dann hat er sein heiliges Recht. Ja, dann ist er eine notwendige Ergänzung der nüchternen und kühlen Realisten mit ihrer Genauigkeit und Gründlichkeit. Kann denn nicht manches Mal ein einziger Strich, der dem Bilde die rechte Stimmung gibt, viel wirksamer sein, als die Ansammlung von hundert Einzelheiten? Noch weniger ist zu leugnen, daß der ~Problem~roman innerhalb der Aufgabe des Romans bleibt. Er will ja Fragen des wirklichen Lebens aufwerfen und beantworten! Er geht weniger in die Breite als in die Tiefe, -- in die Tiefe der seelischen Rätsel, in die Tiefe der gesellschaftlichen Fragen. Gewiß, ihm ist der Stoff nur Mittel zum Zweck; die Hauptsache ist ihm der Gedanke. Aber so wenig im Tendenzroman die Tendenz notwendig die Wirklichkeitserfassung hindern muß, so wenig im Problemroman das Problem. Im Gegenteil: erst das ist der rechte Problemroman, der seine Fragen ganz aus der Wirklichkeit herauswachsen läßt. Es gibt manchen Problemroman mit recht oberflächlichen Problemen; aber das soll uns nicht hindern, anzuerkennen, daß gerade der Problemroman eine außerordentlich wertvolle Methode bedeutet, die Weltvorgänge in ihren tiefsten Gründen anzusehen und darzustellen. ~Das Gesetz der Wirklichkeit regiert also tatsächlich überall im deutschen Roman des 19. Jahrhunderts, in allen seinen wichtigeren Erscheinungen.~ Verschiedene Methoden seiner Befolgung sind eingeschlagen worden; aber das Gesetz selbst ist in Geltung geblieben. Und gegenüber denjenigen Richtungen, welche dieses Gesetz wissentlich oder unwissentlich ignorieren, haben wir einfach sein geheiligtes und anerkanntes Recht geltend zu machen. Schwieriger ists für unsere Zeit, die Grenzen in der Befolgung dieses Gesetzes festzulegen und festzuhalten. Die Auswüchse des Naturalismus wie die Dekadencedichtung übertreiben. Sie bevorzugen einseitig einige wenige Gebiete der Wirklichkeit; und sie wählen gerade diejenigen, wo die gesunde Natur sich vergebens suchen läßt. Ihnen gegenüber fordern wir, daß die Totalität der Wirklichkeit zur Geltung komme. Wir fordern auch, daß, ohne daß das Vorhandensein von Krankheitszuständen ignoriert werde, der Standpunkt, von dem aus geschildert wird, derjenige der Gesundheit sei. Wir erwarten nichts von dem differenzierten, nervös gewordenen Naturalismus. Aber wir erwarten alles von einem im gesunden Volksempfinden, in der echten Natur wurzelnden Realismus. Ich brauche nicht mehr auszuführen, daß das 19. Jahrhundert auch in der ~Form~ des Romans uns kräftig vorwärts gebracht hat. Was Goethes »Wahlverwandtschaften« zuerst versuchten, die Ineinandersetzung von Gedanke und Handlung -- das ist zwar längst nicht überall zur Durchführung gekommen, aber es ist leitendes Motiv geblieben. Man verabscheut mehr und mehr die Darlegung von Gedanken ohne Handlung, wie noch Gutzkow sie liebte, man empfindet jene spannenden Handlungsromane ohne Gedanken, so sehr sie noch heute wuchern, als minderwertig. Man hat in vielen Romanen Spielhagens, dazu in solchen von Kretzer, in »Frau Sorge« und in anderen Vorbilder in der formellen Gestaltung. Und ob immer wieder das Erworbene in Frage gestellt wird, das Ziel ist gesteckt und darf nicht vergessen werden. Eins aber muß zum Schluß nochmals gesagt werden: es wird alles darauf ankommen, daß in der deutschen Lesewelt der Sinn für den wertvollen Roman geweckt und, wo er lebendig ist, gepflegt werde. Jedes Volk hat schließlich den Roman, den es verdient. Seien wir anspruchsvoll! Lehnen wir alles ab, was uns nicht fördert, ohne Rücksicht auf Person und Tendenz! Dann wird des Seichten weniger werden und ~die~ Dichter werden mehr Raum und mehr Mut gewinnen, die in sich die Kraft fühlen, dem deutschen Volk wirklich etwas zu sagen. Verlangen wir viel vom Roman, so wird er uns viel geben! [Illustration] Register. (Die ~ausführlich~ besprochenen Werke sind unter dem Autornamen bei den entsprechenden Seitenzahlen in Klammern besonders aufgeführt.) Alexis, Wilibald 123 ff. (Roland von Berlin). 126. 127. 129. 134. Anzengruber, Ludwig 171. 172 ff. (Sternsteinhof). 179. Arnim, Achim von 51. 121 ff. (Kronenwächter). Auerbach, Berthold 55. 62 ff. (Schwarzwälder Dorfgeschichten). 76. 225. Beyerlein, Franz Adam 219 f. Bierbaum, Otto Julius 213. 220. Bilse 219. Björnson 190. Bölsche, Wilhelm 216 f. (Mittagsgöttin). Börne, Ludwig 34. Brentano 35. Cantz, Elisabeth 78. Dahn, Felix 139 ff. (Kampf um Rom). Dehmel, Richard 218. Ebers, Georg 139. 141. 142. Ebner-Eschenbach, Marie v. 195 (Gemeindekind). 196 f. (Unsühnbar). Eckstein, Ernst 142. Eichendorff, Joseph Frhr. v. 35. 39 ff. (Leben eines Taugenichts). 45. 46. 165. 218. Eilhart von Oberge 11. Fischart, Johann 12. Floris und Blancheflur 6. 11. Fontane, Theodor 115 ff. 117 ff. (Stechlin). 135. 138. 188. 201. 202 ff. (Effi Briest). 223. 225. Freiligrath, Ferdinand 75. Frenssen, Gustav 208 ff. (Jörn Uhl). 210. 221. Frenzel, Karl 138. Freytag, Gustav 108 ff. (Soll und Haben). 114. 127. 131 ff. (Die Ahnen). 144. 155. 189. 225. Goethe 15. 16 ff. (Werther). 19 ff. (Wilhelm Meister). 24 ff. (Wahlverwandtschaften). 27 ff. 32. 45. 52. 75. 143. 189. 224. 230. Gottfried von Straßburg 11. Gotthelf, Jeremias 55. 58 ff. (Bauernspiegel). 65. 66. 69. 71. 168. 169. 225. Grimmelshausen 12. Gutzkow, Karl 76. 77. 78. 79 ff. (Ritter vom Geist). 86. 87. 98. 112. 138. 144. 230. Hamerling, Robert 142. Hauenschild, Spiller von 78. Hauff, Wilhelm 51. 122. Herwegh 75. Heyse, Paul 78. 92 ff. (Kinder der Welt). 154. 155. 190. 197 ff. (Novellen). 221. Hoffmann, Th. Amadeus 45. 46 ff. (Elixiere des Teufels). 143. 165. Holz, Arno 183. Ibsen 190. Jean Paul 32 ff. 143. 144. Immermann 55 ff. (Oberhof). 65. 67. 69. 71. 74. 76. 144. 168. 225. Jordan, Wilhelm 190. Keller, Gottfried 99 ff. (Grüner Heinrich). 105 ff. (Leute von Seldwyla). 112. 189. 221. 225. Kleist, Heinrich v. 35. 48 ff. (Michael Kohlhaas). Kretzer, Max 175 ff. (Meister Timpe). 178 f. 182. 214 ff. (Gesicht Christi). 223. 231. Laube, Heinrich 76. 138. Ludwig, Otto 55. 69 ff. (Heiterethei). 72. Mann, Thomas 222 ff. (Buddenbrooks). Meinhold, Wilhelm 131. Meyer, Conr. Ferd. 136 ff. Motte-Fouqué, F. de la 35. Novalis 32. 35. 36 ff. (Heinrich von Ofterdingen). 45. 46. 51. 53. 165. 218. Pantenius, Theod. Hermann 115. Parzival 11. Polenz, Wilhelm v. 179 ff. (Pfarrer von Breitendorf). Prutz, Robert 78. Raabe, Wilhelm 136. 144 ff. (Chronik der Sperlingsgasse). 149 ff. (Hungerpastor). 155. 161. 162. 165. 229. Rabelais 12. Reuter, Fritz 55. 69. 71 ff. (Stromtid). 74. 171. Riehl, Wilh. 127. 130 f. (Kulturgesch. Novellen). 134. Robinson Krusoe 13. Rosegger, Peter 144. 162 ff. (Schriften des Waldschulmeisters). 165. 170. 171. 179. 191 ff. (Gottsucher). 214. 229. Rousseau 30. Ruodlieb 10. Scheffel, J. Viktor v. 127. 128 ff. (Ekkehard). 134. Schlaf, Johannes 183 ff. (Novellen). 211. 220. Schlegel, Friedrich v. 32. 35. 42 ff. (Lucinde). 46. Schleiermacher 43. Sohnrey, Heinrich 170. Sperl, August 220. Spielhagen, Friedrich 78. 79. 85 ff. (Problematische Naturen). 91 ff. 98. 112. 114 f. (Sturmflut). 144. 225. 231. Stifter, Adalbert 162. Storm, Theodor 144. 155 ff. (Novellen). 162. 165. 166. 169. 197 ff. 229. Sudermann, Hermann 205. 206 ff. (Frau Sorge). 208. Suttner, Bertha v. 190. Tieck, Ludwig 35. 122. Tolstoi 168. 190. Tovote, Heinz 186. 212 f. (Ich). 220. Tristan und Isolde 6. 11. Volksbücher 11. Wickram, Jörg 12. Widmann, A. 78. Wieland 13 ff. 27. Wildenbruch, Ernst v. 203 f. Zola, Emil 168. 190. 222. 223. [Illustration Buch- und Kunstdruckerei von Hoffmann & Reiber in Görlitz] *** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 76588 ***